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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Napoleons Plan einer Invasion Englands ^goz--"30S

heit seines Heeres keinen Mißerfolg zu fürchten hatte, erschien ihm als ein
erwünschter Ausweg, sich von dem verfehlten Unternehmen loszumachen; er war
der zweite Pfeil, den der Verschlagene im Köcher trug.

Es bleibt noch die viel erörterte Frage zu beantworten: hat Napoleon
im Ernst den Übergang nach England geplant, oder wollte er seine Feinde
nur in steter Angst vor einer Invasion halten? Für beide Auffassungen lassen
sich in seinen eigenen Äußerungen Stützen finden, und die Ansichten wohlunter¬
richteter Zeitgenossen des großen Mannes gingen darüber so gut auseinander,
wie heute noch die Meinungen kompetenter Beurteiler. Aber sollten alle die
gewaltigen Vorkehrungen wirklich nur ein Gaukelspiel und der ganze mächtige
Apparat nichts als ein Popanz zur Irritation englischer Narren gewesen sein?
Sollte der Kaiser die enormen Kosten, die die Seerüstung verursachte -- sie
beliefen sich auf viele Millionen -- bewußtermaßen für nichts und wieder
nichts aufgewendet und das ganze Lager von Boulogne von vornherein nur
errichtet haben, um eine festländische Operation zu maskieren? Ist es denkbar,
daß die umfangreichen Aktenstücke, die wir in dem mit wahrem Bienenfleiße
zusammengetragenen, dickleibige Bände umfassenden Werke Desbrieres
(projets et tentatives as Zöbarquement aux lieg britanniqueZ) gesammelt
finden, nur eines Phantasmas wegen geschrieben und die unausgesetzten
Änderungen und vermeintlichen Verbesserungen des Landungsplanes vorgenommen
sein allein einer Spiegelfechterei zuliebe? Nein, das Projekt war sicherlich
keine Finte; es handelt sich vielmehr um ein sehr ernsthaft ins Auge gefaßtes
ur>d jahrelang mit wahrer Leidenschaft verfolgtes Beginnen; äußerte der hart¬
näckige Imperator doch, als er seinen Plan aufgeben mußte, Talleyrand gegen¬
über: "Habe ich den Kontinent zur Ruhe gebracht, werde ich an den Ozean
zurückkehren, um aufs neue an dem Frieden zur See zu arbeiten I"

Und auch die Engländer haben die Drohung des ruhmgekrönten, an der
Spitze von anderthalbmal hunderttausend Mann stehenden Feldherrn ernst genug
genommen; das beweisen ihre Vorkehrungen zur Abwehr. 20000 Seeleute
und Fischer hielten die Küstenwacht hinter der vorgeschobenen Linie der Briggs,
Korvetten und Fregatten, die von der Scheide bis zur Somme, Schiff bei
Schiff, Ausschau hielten und sich sogar nachts durch Signale verständigten.
Aber obgleich die Briten mit Recht in erster Linie Wind und Wellen für die
Schutzgötter ihrer Heimat ansahen und sich, wie einst die Bürger Athens auf
die "hölzernen Mauern" verließen -- zur Sicherheit wurden doch auch im
Innern wohlerwogene Vorbereitungen getroffen; es standen, die Franzosen zu
empfangen, 100000 Mann Reguläre bereit, dazu 80000 Milizen und angeblich
400000 Freiwillige -- diese freilich ohne genügende Ausbildung und unter
mittelmäßigen Offizieren. Die britische Nation, gewohnt, Kriege zwar mit
eigenem Golde, aber mit fremdem Blute zu führen, sah sich nun plötzlich
gezwungen, selbst die Waffen zu ergreifen. Doch man improvisiert keine
Soldaten und noch weniger Männer, die sie zu führen verstehen.


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Napoleons Plan einer Invasion Englands ^goz—»30S

heit seines Heeres keinen Mißerfolg zu fürchten hatte, erschien ihm als ein
erwünschter Ausweg, sich von dem verfehlten Unternehmen loszumachen; er war
der zweite Pfeil, den der Verschlagene im Köcher trug.

Es bleibt noch die viel erörterte Frage zu beantworten: hat Napoleon
im Ernst den Übergang nach England geplant, oder wollte er seine Feinde
nur in steter Angst vor einer Invasion halten? Für beide Auffassungen lassen
sich in seinen eigenen Äußerungen Stützen finden, und die Ansichten wohlunter¬
richteter Zeitgenossen des großen Mannes gingen darüber so gut auseinander,
wie heute noch die Meinungen kompetenter Beurteiler. Aber sollten alle die
gewaltigen Vorkehrungen wirklich nur ein Gaukelspiel und der ganze mächtige
Apparat nichts als ein Popanz zur Irritation englischer Narren gewesen sein?
Sollte der Kaiser die enormen Kosten, die die Seerüstung verursachte — sie
beliefen sich auf viele Millionen — bewußtermaßen für nichts und wieder
nichts aufgewendet und das ganze Lager von Boulogne von vornherein nur
errichtet haben, um eine festländische Operation zu maskieren? Ist es denkbar,
daß die umfangreichen Aktenstücke, die wir in dem mit wahrem Bienenfleiße
zusammengetragenen, dickleibige Bände umfassenden Werke Desbrieres
(projets et tentatives as Zöbarquement aux lieg britanniqueZ) gesammelt
finden, nur eines Phantasmas wegen geschrieben und die unausgesetzten
Änderungen und vermeintlichen Verbesserungen des Landungsplanes vorgenommen
sein allein einer Spiegelfechterei zuliebe? Nein, das Projekt war sicherlich
keine Finte; es handelt sich vielmehr um ein sehr ernsthaft ins Auge gefaßtes
ur>d jahrelang mit wahrer Leidenschaft verfolgtes Beginnen; äußerte der hart¬
näckige Imperator doch, als er seinen Plan aufgeben mußte, Talleyrand gegen¬
über: „Habe ich den Kontinent zur Ruhe gebracht, werde ich an den Ozean
zurückkehren, um aufs neue an dem Frieden zur See zu arbeiten I"

Und auch die Engländer haben die Drohung des ruhmgekrönten, an der
Spitze von anderthalbmal hunderttausend Mann stehenden Feldherrn ernst genug
genommen; das beweisen ihre Vorkehrungen zur Abwehr. 20000 Seeleute
und Fischer hielten die Küstenwacht hinter der vorgeschobenen Linie der Briggs,
Korvetten und Fregatten, die von der Scheide bis zur Somme, Schiff bei
Schiff, Ausschau hielten und sich sogar nachts durch Signale verständigten.
Aber obgleich die Briten mit Recht in erster Linie Wind und Wellen für die
Schutzgötter ihrer Heimat ansahen und sich, wie einst die Bürger Athens auf
die „hölzernen Mauern" verließen — zur Sicherheit wurden doch auch im
Innern wohlerwogene Vorbereitungen getroffen; es standen, die Franzosen zu
empfangen, 100000 Mann Reguläre bereit, dazu 80000 Milizen und angeblich
400000 Freiwillige — diese freilich ohne genügende Ausbildung und unter
mittelmäßigen Offizieren. Die britische Nation, gewohnt, Kriege zwar mit
eigenem Golde, aber mit fremdem Blute zu führen, sah sich nun plötzlich
gezwungen, selbst die Waffen zu ergreifen. Doch man improvisiert keine
Soldaten und noch weniger Männer, die sie zu führen verstehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/159>, abgerufen am 22.07.2024.