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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Aus alledem geht hervor, daß heute nicht die Nationalität für die äußere
Begrenzung der Staaten ausschließlich maßgebend ist. Die Beispiele, in denen
die gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Interessen, aber auch die rein
geistige Kultur größere Angleichungsfähigkeit besessen haben, als gemeinsames
Blut und Rasse, lassen sich aus der Geschichte erbringen. Für den letzten Punkt
ist vor allem die jahrhundertelange, starke Hinneigung von Elsaß-Lothringen
an Frankreich kennzeichnend, aber auch die frühere Vereinigung der Schleswig-
Holsteinschen Herzogtümer mit Dänemark. Oder der Anschluß rein italienischer
Gebietsteile in Nizza und Savoyen an Frankreich ohne nennenswertes inneres
Widerstreben. In mancher Beziehung auch das jetzt so heiß umstrittene Belgien,
wo Einwohner verschiedener Rasse und Sprache durch staatliche Einrichtungen
verbunden ein lebensfähiges Staatswesen gebildet haben.

Früher haben bei der Frage der natürlichen Begrenzung der Staaten
vielfach geographische Gesichtspunkte eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Ihre
Bedeutung hat gegenüber den ungeheuren Fortschritten der modernen Technik,
der Verkehrsmöglichkeiten, an Bedeutung verloren, wenngleich sie militärisch ein
nicht zu unterschätzender Faktor bleiben.

Damit kommt man zu dem Ergebnis, daß der äußere Umfang der Staaten
lediglich durch ihre innere Kraft bestimmt wird. Die Begrenzung ist Machtfrage.
Aber nicht in dem brutalen Sinne, daß ein Staat sich alle Gebiete einverleiben
kann, zu deren Niederhaltung ihm die militärischen Zwangsmittel zur Verfügung
stehen. Sondern in dem Sinne, daß für ein kulturell hochstehendes Staatswesen
nationale Gegensätze nicht abschreckend wirken dürfen, wenn andere Gründe für
eine Gebietserweiterung sprechen, solange es sich die innere Kraft zutrauen kann,
über kurz oder lang auch den Willen der seiner Gemeinschaft einverleibten
neuen Untertanen zu gewinnen. Den Willen, auf dem allein die Einheit und
Macht des Staates beruht. Das ist eine hohe Kulturaufgabe und es erfordert
eingehende und gewissenhafte Prüfung im einzelnen Falle, ob man sich ihr
gewachsen glauben darf. Ob man hoffen darf, ausreichende wirtschaftliche, soziale
oder geistige Bande anknüpfen zu können, um den Einwohnern eines durch die
Gewalt der Waffen einverleibten Gebietes im Laufe der Zeiten -- und diese
Zeiten müssen und dürfen nach Jahrzehnten rechnen -- die neue Zugehörigkeit
auch selbst wünschenswert erscheinen zu lassen.

Wenn man die Staaten als die Träger der Kultur ansieht, aus deren
innerem Streben und äußerem Wettstreit aller menschliche Fortschritt erwächst,
so bedarf es zu deren Erhaltung starker gesunder Staatswesen, die nicht
geschwächt werden durch innerpolitische Gärungen und die nicht gezwungen sind,
ihre beste Kraft zu roher, gewaltsamer Niederhaltung Widerstrebender zu opfern. Es
heißt den freien Willen der neuen Staatsgenossen gewinnen, und das kann nur der,
der auch etwas Gewinnendes zu bieten und zu geben hat: eine überlegene Kultur.

Glaubt man sich hierzu imstande, so braucht man sich beim Aufbau der
Staaten durch Nationalitätsfragen nicht schrecken zu lassen.


Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Aus alledem geht hervor, daß heute nicht die Nationalität für die äußere
Begrenzung der Staaten ausschließlich maßgebend ist. Die Beispiele, in denen
die gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Interessen, aber auch die rein
geistige Kultur größere Angleichungsfähigkeit besessen haben, als gemeinsames
Blut und Rasse, lassen sich aus der Geschichte erbringen. Für den letzten Punkt
ist vor allem die jahrhundertelange, starke Hinneigung von Elsaß-Lothringen
an Frankreich kennzeichnend, aber auch die frühere Vereinigung der Schleswig-
Holsteinschen Herzogtümer mit Dänemark. Oder der Anschluß rein italienischer
Gebietsteile in Nizza und Savoyen an Frankreich ohne nennenswertes inneres
Widerstreben. In mancher Beziehung auch das jetzt so heiß umstrittene Belgien,
wo Einwohner verschiedener Rasse und Sprache durch staatliche Einrichtungen
verbunden ein lebensfähiges Staatswesen gebildet haben.

Früher haben bei der Frage der natürlichen Begrenzung der Staaten
vielfach geographische Gesichtspunkte eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Ihre
Bedeutung hat gegenüber den ungeheuren Fortschritten der modernen Technik,
der Verkehrsmöglichkeiten, an Bedeutung verloren, wenngleich sie militärisch ein
nicht zu unterschätzender Faktor bleiben.

Damit kommt man zu dem Ergebnis, daß der äußere Umfang der Staaten
lediglich durch ihre innere Kraft bestimmt wird. Die Begrenzung ist Machtfrage.
Aber nicht in dem brutalen Sinne, daß ein Staat sich alle Gebiete einverleiben
kann, zu deren Niederhaltung ihm die militärischen Zwangsmittel zur Verfügung
stehen. Sondern in dem Sinne, daß für ein kulturell hochstehendes Staatswesen
nationale Gegensätze nicht abschreckend wirken dürfen, wenn andere Gründe für
eine Gebietserweiterung sprechen, solange es sich die innere Kraft zutrauen kann,
über kurz oder lang auch den Willen der seiner Gemeinschaft einverleibten
neuen Untertanen zu gewinnen. Den Willen, auf dem allein die Einheit und
Macht des Staates beruht. Das ist eine hohe Kulturaufgabe und es erfordert
eingehende und gewissenhafte Prüfung im einzelnen Falle, ob man sich ihr
gewachsen glauben darf. Ob man hoffen darf, ausreichende wirtschaftliche, soziale
oder geistige Bande anknüpfen zu können, um den Einwohnern eines durch die
Gewalt der Waffen einverleibten Gebietes im Laufe der Zeiten — und diese
Zeiten müssen und dürfen nach Jahrzehnten rechnen — die neue Zugehörigkeit
auch selbst wünschenswert erscheinen zu lassen.

Wenn man die Staaten als die Träger der Kultur ansieht, aus deren
innerem Streben und äußerem Wettstreit aller menschliche Fortschritt erwächst,
so bedarf es zu deren Erhaltung starker gesunder Staatswesen, die nicht
geschwächt werden durch innerpolitische Gärungen und die nicht gezwungen sind,
ihre beste Kraft zu roher, gewaltsamer Niederhaltung Widerstrebender zu opfern. Es
heißt den freien Willen der neuen Staatsgenossen gewinnen, und das kann nur der,
der auch etwas Gewinnendes zu bieten und zu geben hat: eine überlegene Kultur.

Glaubt man sich hierzu imstande, so braucht man sich beim Aufbau der
Staaten durch Nationalitätsfragen nicht schrecken zu lassen.


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[0148] Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats Aus alledem geht hervor, daß heute nicht die Nationalität für die äußere Begrenzung der Staaten ausschließlich maßgebend ist. Die Beispiele, in denen die gemeinsamen wirtschaftlichen und sozialen Interessen, aber auch die rein geistige Kultur größere Angleichungsfähigkeit besessen haben, als gemeinsames Blut und Rasse, lassen sich aus der Geschichte erbringen. Für den letzten Punkt ist vor allem die jahrhundertelange, starke Hinneigung von Elsaß-Lothringen an Frankreich kennzeichnend, aber auch die frühere Vereinigung der Schleswig- Holsteinschen Herzogtümer mit Dänemark. Oder der Anschluß rein italienischer Gebietsteile in Nizza und Savoyen an Frankreich ohne nennenswertes inneres Widerstreben. In mancher Beziehung auch das jetzt so heiß umstrittene Belgien, wo Einwohner verschiedener Rasse und Sprache durch staatliche Einrichtungen verbunden ein lebensfähiges Staatswesen gebildet haben. Früher haben bei der Frage der natürlichen Begrenzung der Staaten vielfach geographische Gesichtspunkte eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Ihre Bedeutung hat gegenüber den ungeheuren Fortschritten der modernen Technik, der Verkehrsmöglichkeiten, an Bedeutung verloren, wenngleich sie militärisch ein nicht zu unterschätzender Faktor bleiben. Damit kommt man zu dem Ergebnis, daß der äußere Umfang der Staaten lediglich durch ihre innere Kraft bestimmt wird. Die Begrenzung ist Machtfrage. Aber nicht in dem brutalen Sinne, daß ein Staat sich alle Gebiete einverleiben kann, zu deren Niederhaltung ihm die militärischen Zwangsmittel zur Verfügung stehen. Sondern in dem Sinne, daß für ein kulturell hochstehendes Staatswesen nationale Gegensätze nicht abschreckend wirken dürfen, wenn andere Gründe für eine Gebietserweiterung sprechen, solange es sich die innere Kraft zutrauen kann, über kurz oder lang auch den Willen der seiner Gemeinschaft einverleibten neuen Untertanen zu gewinnen. Den Willen, auf dem allein die Einheit und Macht des Staates beruht. Das ist eine hohe Kulturaufgabe und es erfordert eingehende und gewissenhafte Prüfung im einzelnen Falle, ob man sich ihr gewachsen glauben darf. Ob man hoffen darf, ausreichende wirtschaftliche, soziale oder geistige Bande anknüpfen zu können, um den Einwohnern eines durch die Gewalt der Waffen einverleibten Gebietes im Laufe der Zeiten — und diese Zeiten müssen und dürfen nach Jahrzehnten rechnen — die neue Zugehörigkeit auch selbst wünschenswert erscheinen zu lassen. Wenn man die Staaten als die Träger der Kultur ansieht, aus deren innerem Streben und äußerem Wettstreit aller menschliche Fortschritt erwächst, so bedarf es zu deren Erhaltung starker gesunder Staatswesen, die nicht geschwächt werden durch innerpolitische Gärungen und die nicht gezwungen sind, ihre beste Kraft zu roher, gewaltsamer Niederhaltung Widerstrebender zu opfern. Es heißt den freien Willen der neuen Staatsgenossen gewinnen, und das kann nur der, der auch etwas Gewinnendes zu bieten und zu geben hat: eine überlegene Kultur. Glaubt man sich hierzu imstande, so braucht man sich beim Aufbau der Staaten durch Nationalitätsfragen nicht schrecken zu lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/148>, abgerufen am 22.07.2024.