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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

lichen Ganzen zu betrachten, ihr Zugehörigkeitsgefühl und ihre Hingabe an die
Idee des Staates. Zu Zeiten, in denen die politische Anteilnahme und die
politischen Rechte der Untertanen gering waren, wirkte in dieser Beziehung die
Macht derer, in deren Hand die staatlichen Entscheidungen verkörpert waren,
allein matzgebend und ausreichend. Heute, wo alle zivilisierten Staaten tat¬
sächlich auf mehr oder weniger demokratischer Grundlage ruhen, ist es der
geschlossene Wille der Staatsangehörigen, der das Gewicht, die Wucht staat¬
lichen Handelns bildet.

Dieser Wille überwindet auch die nationale Verschiedenheit der Angehörigen.
Es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Staaten, in denen die Träger unter¬
schiedlicher Nationalitäten nicht nur als geringere, wenig in Betracht kommende
Zusätze beigemischt find, sondern die geradezu auf der Gleichordnung verschiedener
Nationalitäten beruhen. Das beste Beispiel hierfür ist die Schweiz.

Die Begrenzung der Staaten ist, wie diese selbst und ihre Einrichtungen,
etwas historisch Gewordenes. Wenn sich Regeln, große leitende Ideen über
die Begrenzung der Staaten überhaupt aufstellen lassen, wenn es gewisser¬
maßen natürliche Begrenzungen der Staaten -- abgesehen etwa von geographischen
Notwendigkeiten -- gibt, so sind die Grundsätze hierfür in erster Linie aus den
Aufgaben und Zwecken der Staaten herzuleiten.

Staaten sind Zweckverbände.

Ihr grundlegendstes Ziel nutz sich mit dem Wunsche ihrer Angehörigen
decken: Schutz gewisser Rechte und Freiheiten nach innen und autzen. Sicherung
von Eigentum und persönlicher Freiheit, später Mitbestimmungsrecht der Unter¬
tanen bei den staatlichen Entschließungen, Aufrechterhaltung des verfassungs¬
mäßig gesicherten Rechtszustandes sind die letzten Interessen der Untertanen und
damit Pflichten des Staates. Zu ihrer Durchführung bedarf der Staat der
Dauerhaftigkeit. Damit wird die staatliche Selbsterhaltung auch Selbstzweck.

Dabei ist nicht zu übersehen, daß alles staatliche Handeln letzten Grundes
auf Mehrheitsentschließungen und Machtfaktoren beruht. So kann es geschehen,
daß die einfache militärische Sicherung eines Staates die Jnnehabung vou
Gebieten erfordert, deren Bewohner sich in gewissen Gegensätzen zu der über¬
wiegenden Mehrheit der anderen befinden.

Aber die Entwicklung ist über diese ursprünglichsten Ziele der Staats¬
erhaltung hinausgeschritten. Man ist sich heute darüber einig, daß der Staat
höhere, idealere Aufgaben hat.

Jellinek hat den Staat als den "durch planmäßige, zentralisierende, mit
äußeren Mitteln arbeitende Tätigkeit die individuellen, nationalen und mensch¬
heitlicher Solidarinteressen in der Richtung fortschreitender Gesamtentwicklung
befriedigenden . . . Verband eines Volkes" definiert. (Allgemeine Staatslehre,
3. Auflage. Seite 264.)

Darin ist die heute allgemein anerkannte Ansicht ausgesprochen, daß der
Staat auch der Träger großer Kulturausgaben sein soll.


Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

lichen Ganzen zu betrachten, ihr Zugehörigkeitsgefühl und ihre Hingabe an die
Idee des Staates. Zu Zeiten, in denen die politische Anteilnahme und die
politischen Rechte der Untertanen gering waren, wirkte in dieser Beziehung die
Macht derer, in deren Hand die staatlichen Entscheidungen verkörpert waren,
allein matzgebend und ausreichend. Heute, wo alle zivilisierten Staaten tat¬
sächlich auf mehr oder weniger demokratischer Grundlage ruhen, ist es der
geschlossene Wille der Staatsangehörigen, der das Gewicht, die Wucht staat¬
lichen Handelns bildet.

Dieser Wille überwindet auch die nationale Verschiedenheit der Angehörigen.
Es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Staaten, in denen die Träger unter¬
schiedlicher Nationalitäten nicht nur als geringere, wenig in Betracht kommende
Zusätze beigemischt find, sondern die geradezu auf der Gleichordnung verschiedener
Nationalitäten beruhen. Das beste Beispiel hierfür ist die Schweiz.

Die Begrenzung der Staaten ist, wie diese selbst und ihre Einrichtungen,
etwas historisch Gewordenes. Wenn sich Regeln, große leitende Ideen über
die Begrenzung der Staaten überhaupt aufstellen lassen, wenn es gewisser¬
maßen natürliche Begrenzungen der Staaten — abgesehen etwa von geographischen
Notwendigkeiten — gibt, so sind die Grundsätze hierfür in erster Linie aus den
Aufgaben und Zwecken der Staaten herzuleiten.

Staaten sind Zweckverbände.

Ihr grundlegendstes Ziel nutz sich mit dem Wunsche ihrer Angehörigen
decken: Schutz gewisser Rechte und Freiheiten nach innen und autzen. Sicherung
von Eigentum und persönlicher Freiheit, später Mitbestimmungsrecht der Unter¬
tanen bei den staatlichen Entschließungen, Aufrechterhaltung des verfassungs¬
mäßig gesicherten Rechtszustandes sind die letzten Interessen der Untertanen und
damit Pflichten des Staates. Zu ihrer Durchführung bedarf der Staat der
Dauerhaftigkeit. Damit wird die staatliche Selbsterhaltung auch Selbstzweck.

Dabei ist nicht zu übersehen, daß alles staatliche Handeln letzten Grundes
auf Mehrheitsentschließungen und Machtfaktoren beruht. So kann es geschehen,
daß die einfache militärische Sicherung eines Staates die Jnnehabung vou
Gebieten erfordert, deren Bewohner sich in gewissen Gegensätzen zu der über¬
wiegenden Mehrheit der anderen befinden.

Aber die Entwicklung ist über diese ursprünglichsten Ziele der Staats¬
erhaltung hinausgeschritten. Man ist sich heute darüber einig, daß der Staat
höhere, idealere Aufgaben hat.

Jellinek hat den Staat als den „durch planmäßige, zentralisierende, mit
äußeren Mitteln arbeitende Tätigkeit die individuellen, nationalen und mensch¬
heitlicher Solidarinteressen in der Richtung fortschreitender Gesamtentwicklung
befriedigenden . . . Verband eines Volkes" definiert. (Allgemeine Staatslehre,
3. Auflage. Seite 264.)

Darin ist die heute allgemein anerkannte Ansicht ausgesprochen, daß der
Staat auch der Träger großer Kulturausgaben sein soll.


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[0146] Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats lichen Ganzen zu betrachten, ihr Zugehörigkeitsgefühl und ihre Hingabe an die Idee des Staates. Zu Zeiten, in denen die politische Anteilnahme und die politischen Rechte der Untertanen gering waren, wirkte in dieser Beziehung die Macht derer, in deren Hand die staatlichen Entscheidungen verkörpert waren, allein matzgebend und ausreichend. Heute, wo alle zivilisierten Staaten tat¬ sächlich auf mehr oder weniger demokratischer Grundlage ruhen, ist es der geschlossene Wille der Staatsangehörigen, der das Gewicht, die Wucht staat¬ lichen Handelns bildet. Dieser Wille überwindet auch die nationale Verschiedenheit der Angehörigen. Es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Staaten, in denen die Träger unter¬ schiedlicher Nationalitäten nicht nur als geringere, wenig in Betracht kommende Zusätze beigemischt find, sondern die geradezu auf der Gleichordnung verschiedener Nationalitäten beruhen. Das beste Beispiel hierfür ist die Schweiz. Die Begrenzung der Staaten ist, wie diese selbst und ihre Einrichtungen, etwas historisch Gewordenes. Wenn sich Regeln, große leitende Ideen über die Begrenzung der Staaten überhaupt aufstellen lassen, wenn es gewisser¬ maßen natürliche Begrenzungen der Staaten — abgesehen etwa von geographischen Notwendigkeiten — gibt, so sind die Grundsätze hierfür in erster Linie aus den Aufgaben und Zwecken der Staaten herzuleiten. Staaten sind Zweckverbände. Ihr grundlegendstes Ziel nutz sich mit dem Wunsche ihrer Angehörigen decken: Schutz gewisser Rechte und Freiheiten nach innen und autzen. Sicherung von Eigentum und persönlicher Freiheit, später Mitbestimmungsrecht der Unter¬ tanen bei den staatlichen Entschließungen, Aufrechterhaltung des verfassungs¬ mäßig gesicherten Rechtszustandes sind die letzten Interessen der Untertanen und damit Pflichten des Staates. Zu ihrer Durchführung bedarf der Staat der Dauerhaftigkeit. Damit wird die staatliche Selbsterhaltung auch Selbstzweck. Dabei ist nicht zu übersehen, daß alles staatliche Handeln letzten Grundes auf Mehrheitsentschließungen und Machtfaktoren beruht. So kann es geschehen, daß die einfache militärische Sicherung eines Staates die Jnnehabung vou Gebieten erfordert, deren Bewohner sich in gewissen Gegensätzen zu der über¬ wiegenden Mehrheit der anderen befinden. Aber die Entwicklung ist über diese ursprünglichsten Ziele der Staats¬ erhaltung hinausgeschritten. Man ist sich heute darüber einig, daß der Staat höhere, idealere Aufgaben hat. Jellinek hat den Staat als den „durch planmäßige, zentralisierende, mit äußeren Mitteln arbeitende Tätigkeit die individuellen, nationalen und mensch¬ heitlicher Solidarinteressen in der Richtung fortschreitender Gesamtentwicklung befriedigenden . . . Verband eines Volkes" definiert. (Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage. Seite 264.) Darin ist die heute allgemein anerkannte Ansicht ausgesprochen, daß der Staat auch der Träger großer Kulturausgaben sein soll.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/146>, abgerufen am 22.07.2024.