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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ein französisches Herz

, Wenn der Deutsche in die Schulstube trat, dann stand auf der Tafel ein
Spottgedicht auf ihn oder sein Vaterland. An die Tür, die er öffnen mußte,
schrieben wir einen bitter höhnenden Schimpf. Auf sein Katheder zeichneten
wir giftige Karikaturen der großen Männer seines Landes. Und wenn wir
daheim davon erzählten, so lachten die Großen und bewunderten und er¬
munterten uns.

Aber der Lehrer trug alles wie ein Held oder Weiser. Vielleicht mochte
es ihn tief verletzen oder kränken -- er zeigte es nie. Er sprach uns freundlich
zu, redete wie zu Erwachsenen, riet uns milde und gütig, verständig und
vorurteilslos zu sein. Und gerade mich, den Allerschlimmsten, hatte er besonders
lieb. Wieviel Güte und Überredungskunst hat er an mich verschwendet! Als
wäre ich sein Bruder, sein Kind, der ich nur zehn Jahre jünger war als er.
Vielleicht erinnerte ich ihn an einen, den er daheim lieb hatte.

Wir wußten fast nichts von ihm. Gar nichts von seinem Leben, von
seiner Vergangenheit. Er sprach sich auch nie aus. Zwar verkehrte er mit
dem Pfarrer, dem Bürgermeister, dem Lilienwirt und dem anderen Lehrer, aber
da ward ihm auch nicht genug Freundschaft entgegengebracht, daß er hätte zu¬
traulich werden können. Er spielte Geige. O wie schön spielte er. Wir standen
viele Abende lang bis in die Nacht vor seinem Fenster, wenn er spielte. Aber
nie sagte ihm jemand etwas Freundliches darüber oder bat ihn gar, einmal zu
spielen. Vielmehr ward ihm angeblich des Spielens wegen sein Zimmer auf¬
gesagt. Er wohnte bei einem argen Deutschenhasser. Dann zog er zu einem
alten Weib in eine armselige Hütte, wo die Wände feucht waren und der
Kamin rauchte.

Er blieb immer ein Fremder -- und mehr als das: ein Deutscher! Ob-
schon wir nie ein deutsches Wort von ihm hörten, es sei denn, daß wir an
seiner Tür lauschten, hinter der er bisweilen laut deklamierte. Das waren
dann gewiß die Dichter seines Volkes, von denen er uns auch oft in der
Schule zu erzählen versuchten Aber wir gaben niemals acht. Schwerer hat es
wohl noch kein Lehrer gehabt. Ebenso gut hätte er die Herden des
Dorfes unterrichten können.

Einmal behauptete er, ich wäre musikalisch, denn er hatte mich auf einer
selbstgemachten Flöte spielen hören. Er ging zu meinen Eltern und bat, mich
auf seiner Geige spielen zu lehren. Aber ich lachte nur und grimmassierte,
und er ging beschämt wieder fort. Wie sanft war er! wie traurig immer und
doch kein Kopfhänger. Er machte schwere Touren auf die Berge, er lief Ski
wie keiner von uns, er badete im eisigen Bach, er ging auf Fuchs- und
Marderjagd. Aber je mehr wir ihn achten mußten, desto toller trieben wir
es mit ihm, und wir verspotteten ihn schon deshalb, um uns dagegen zu
schützen, ihn liebzugewinnen.

Er schien niemanden auf der Welt zu kennen. Er bekam nie einen Brief
und schrieb niemals einen. Er war ganz allein und am verlassensten wohl


6*
Ein französisches Herz

, Wenn der Deutsche in die Schulstube trat, dann stand auf der Tafel ein
Spottgedicht auf ihn oder sein Vaterland. An die Tür, die er öffnen mußte,
schrieben wir einen bitter höhnenden Schimpf. Auf sein Katheder zeichneten
wir giftige Karikaturen der großen Männer seines Landes. Und wenn wir
daheim davon erzählten, so lachten die Großen und bewunderten und er¬
munterten uns.

Aber der Lehrer trug alles wie ein Held oder Weiser. Vielleicht mochte
es ihn tief verletzen oder kränken — er zeigte es nie. Er sprach uns freundlich
zu, redete wie zu Erwachsenen, riet uns milde und gütig, verständig und
vorurteilslos zu sein. Und gerade mich, den Allerschlimmsten, hatte er besonders
lieb. Wieviel Güte und Überredungskunst hat er an mich verschwendet! Als
wäre ich sein Bruder, sein Kind, der ich nur zehn Jahre jünger war als er.
Vielleicht erinnerte ich ihn an einen, den er daheim lieb hatte.

Wir wußten fast nichts von ihm. Gar nichts von seinem Leben, von
seiner Vergangenheit. Er sprach sich auch nie aus. Zwar verkehrte er mit
dem Pfarrer, dem Bürgermeister, dem Lilienwirt und dem anderen Lehrer, aber
da ward ihm auch nicht genug Freundschaft entgegengebracht, daß er hätte zu¬
traulich werden können. Er spielte Geige. O wie schön spielte er. Wir standen
viele Abende lang bis in die Nacht vor seinem Fenster, wenn er spielte. Aber
nie sagte ihm jemand etwas Freundliches darüber oder bat ihn gar, einmal zu
spielen. Vielmehr ward ihm angeblich des Spielens wegen sein Zimmer auf¬
gesagt. Er wohnte bei einem argen Deutschenhasser. Dann zog er zu einem
alten Weib in eine armselige Hütte, wo die Wände feucht waren und der
Kamin rauchte.

Er blieb immer ein Fremder — und mehr als das: ein Deutscher! Ob-
schon wir nie ein deutsches Wort von ihm hörten, es sei denn, daß wir an
seiner Tür lauschten, hinter der er bisweilen laut deklamierte. Das waren
dann gewiß die Dichter seines Volkes, von denen er uns auch oft in der
Schule zu erzählen versuchten Aber wir gaben niemals acht. Schwerer hat es
wohl noch kein Lehrer gehabt. Ebenso gut hätte er die Herden des
Dorfes unterrichten können.

Einmal behauptete er, ich wäre musikalisch, denn er hatte mich auf einer
selbstgemachten Flöte spielen hören. Er ging zu meinen Eltern und bat, mich
auf seiner Geige spielen zu lehren. Aber ich lachte nur und grimmassierte,
und er ging beschämt wieder fort. Wie sanft war er! wie traurig immer und
doch kein Kopfhänger. Er machte schwere Touren auf die Berge, er lief Ski
wie keiner von uns, er badete im eisigen Bach, er ging auf Fuchs- und
Marderjagd. Aber je mehr wir ihn achten mußten, desto toller trieben wir
es mit ihm, und wir verspotteten ihn schon deshalb, um uns dagegen zu
schützen, ihn liebzugewinnen.

Er schien niemanden auf der Welt zu kennen. Er bekam nie einen Brief
und schrieb niemals einen. Er war ganz allein und am verlassensten wohl


6*
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[0095] Ein französisches Herz , Wenn der Deutsche in die Schulstube trat, dann stand auf der Tafel ein Spottgedicht auf ihn oder sein Vaterland. An die Tür, die er öffnen mußte, schrieben wir einen bitter höhnenden Schimpf. Auf sein Katheder zeichneten wir giftige Karikaturen der großen Männer seines Landes. Und wenn wir daheim davon erzählten, so lachten die Großen und bewunderten und er¬ munterten uns. Aber der Lehrer trug alles wie ein Held oder Weiser. Vielleicht mochte es ihn tief verletzen oder kränken — er zeigte es nie. Er sprach uns freundlich zu, redete wie zu Erwachsenen, riet uns milde und gütig, verständig und vorurteilslos zu sein. Und gerade mich, den Allerschlimmsten, hatte er besonders lieb. Wieviel Güte und Überredungskunst hat er an mich verschwendet! Als wäre ich sein Bruder, sein Kind, der ich nur zehn Jahre jünger war als er. Vielleicht erinnerte ich ihn an einen, den er daheim lieb hatte. Wir wußten fast nichts von ihm. Gar nichts von seinem Leben, von seiner Vergangenheit. Er sprach sich auch nie aus. Zwar verkehrte er mit dem Pfarrer, dem Bürgermeister, dem Lilienwirt und dem anderen Lehrer, aber da ward ihm auch nicht genug Freundschaft entgegengebracht, daß er hätte zu¬ traulich werden können. Er spielte Geige. O wie schön spielte er. Wir standen viele Abende lang bis in die Nacht vor seinem Fenster, wenn er spielte. Aber nie sagte ihm jemand etwas Freundliches darüber oder bat ihn gar, einmal zu spielen. Vielmehr ward ihm angeblich des Spielens wegen sein Zimmer auf¬ gesagt. Er wohnte bei einem argen Deutschenhasser. Dann zog er zu einem alten Weib in eine armselige Hütte, wo die Wände feucht waren und der Kamin rauchte. Er blieb immer ein Fremder — und mehr als das: ein Deutscher! Ob- schon wir nie ein deutsches Wort von ihm hörten, es sei denn, daß wir an seiner Tür lauschten, hinter der er bisweilen laut deklamierte. Das waren dann gewiß die Dichter seines Volkes, von denen er uns auch oft in der Schule zu erzählen versuchten Aber wir gaben niemals acht. Schwerer hat es wohl noch kein Lehrer gehabt. Ebenso gut hätte er die Herden des Dorfes unterrichten können. Einmal behauptete er, ich wäre musikalisch, denn er hatte mich auf einer selbstgemachten Flöte spielen hören. Er ging zu meinen Eltern und bat, mich auf seiner Geige spielen zu lehren. Aber ich lachte nur und grimmassierte, und er ging beschämt wieder fort. Wie sanft war er! wie traurig immer und doch kein Kopfhänger. Er machte schwere Touren auf die Berge, er lief Ski wie keiner von uns, er badete im eisigen Bach, er ging auf Fuchs- und Marderjagd. Aber je mehr wir ihn achten mußten, desto toller trieben wir es mit ihm, und wir verspotteten ihn schon deshalb, um uns dagegen zu schützen, ihn liebzugewinnen. Er schien niemanden auf der Welt zu kennen. Er bekam nie einen Brief und schrieb niemals einen. Er war ganz allein und am verlassensten wohl 6*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/95>, abgerufen am 27.09.2024.