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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ein französisches Herz

Kirche lag. Als wäre es mein Verdienst, blickte er dankbar zu mir auf. Ich
saß neben ihm im Stroh.

"Deutscher Bruder," flüsterte er, dann begann er die Beichte -- hinüber
zu der Heiligen, die aus Blut und Wunden rein und freudig lächelte und glänzte.

"Ich bin geboren und wuchs auf in einem großen Dorf oben in Hoch-
Savoyen. Wenn man eine kleine Anhöhe ersteigt, so sieht man die weiße
Kuppe des Montblanc. Dort zu Haus gibt es einen herrlichen langen Winter
und einen Frühling, den keiner schöner kennt. Der Sommer ist still und schwer.
Nur wenig Fremde kommen zu uns. Denn wir sind ganz abgelegen und
haben drei Fußstunden zur nächsten Station. Aber wir haben eine Kirche, ein
kleines Hotel, im dem wir im Winter Theater spielen, und wenn wir Stadt¬
luft atmen wollen, fahren wir nach Genf hinüber. In fünf Stunden sind wir
da. Und Genf ist so gut wie Frankreich. Da versteht man uns.

Einmal ist draußen einer aus unserem Dorf gestorben, der war reich ge¬
worden. Und er vermachte dem Dorfe ein Stück Geld, von dessen Zinsen ein
Lehrer bezahlt werden sollte, bei dem wir allerlei Höheres lernen sollten:
Literaturgeschichte und Weltgeschichte und vor allem Englisch. Denn dieser
Mann hatte sich in Amerika sein Geld erworben, und auf diese Weise wollte
er dem Lande danken, indem er uns seine Sprache übermittelte. Aber diese
Lehrerstelle war nur mit hundertfünfzig Franken besoldet, und dafür fand sich
nur schwer ein Mann, der soviel leisten konnte. So waren wir wieder einmal
längere Zeit ohne Lehrer gewesen, da fuhr der Wirt von der "Noten Lilie"
nach Genf und brachte von dort einen neuen Lehrer mit. Ich weiß nicht, wie
er ihn gefunden hatte, vielleicht auf der Straße, denn er war ein verhungerter,
armseliger, blasser Mensch, mager und dürftig. Aber er sprach unsere Sprache
besser als wir und konnte auch alles andere fein und war dennoch ein Deutscher.
Das merkten wir sofort all seinem Namen, und befragt machte er auch keinen
Hehl daraus.

Ich war damals ein Junge von zwölf Jahren, der Anführer der Dorfjugend.
Ich stieg schon den Mädchen nach und hatte schon Glück bei ihnen, und es
verdroß mich arg, daß ich noch auf der Schulbank sitzen und Dinge lernen
mußte, von denen ich mir nichts fürs Leben versprach. Mein Vater hatte ein
großes Stück Land und Vieh. Ich war sein Einziger.

Um den deutschen Lehrer nun mit Haß und Spott zu verfolgen, gab es
zwei Gründe: er war Lehrer und er war Deutscher. Wir quälten den Armen
auf alle erdenkliche Weise. Niemand unten im Lande oder draußen bei den
anderen weiß ja, wie in den kleinen Ortschaften unter dem Volk der Deutsche
verhaßt ist. Unsere Großväter, die den Krieg siebzig und einundsiebzig mit¬
gemacht, die vererben den Haß, und er wird den Kindern schon im Blut mit¬
gegeben. "Preuße" -- das ist schlimmer als ein Schimpfwort, und keiner
dürfte es wagen, jemanden so zu beschimpfen. Das müßte mit Blut gerächt
werden.


Ein französisches Herz

Kirche lag. Als wäre es mein Verdienst, blickte er dankbar zu mir auf. Ich
saß neben ihm im Stroh.

„Deutscher Bruder," flüsterte er, dann begann er die Beichte — hinüber
zu der Heiligen, die aus Blut und Wunden rein und freudig lächelte und glänzte.

„Ich bin geboren und wuchs auf in einem großen Dorf oben in Hoch-
Savoyen. Wenn man eine kleine Anhöhe ersteigt, so sieht man die weiße
Kuppe des Montblanc. Dort zu Haus gibt es einen herrlichen langen Winter
und einen Frühling, den keiner schöner kennt. Der Sommer ist still und schwer.
Nur wenig Fremde kommen zu uns. Denn wir sind ganz abgelegen und
haben drei Fußstunden zur nächsten Station. Aber wir haben eine Kirche, ein
kleines Hotel, im dem wir im Winter Theater spielen, und wenn wir Stadt¬
luft atmen wollen, fahren wir nach Genf hinüber. In fünf Stunden sind wir
da. Und Genf ist so gut wie Frankreich. Da versteht man uns.

Einmal ist draußen einer aus unserem Dorf gestorben, der war reich ge¬
worden. Und er vermachte dem Dorfe ein Stück Geld, von dessen Zinsen ein
Lehrer bezahlt werden sollte, bei dem wir allerlei Höheres lernen sollten:
Literaturgeschichte und Weltgeschichte und vor allem Englisch. Denn dieser
Mann hatte sich in Amerika sein Geld erworben, und auf diese Weise wollte
er dem Lande danken, indem er uns seine Sprache übermittelte. Aber diese
Lehrerstelle war nur mit hundertfünfzig Franken besoldet, und dafür fand sich
nur schwer ein Mann, der soviel leisten konnte. So waren wir wieder einmal
längere Zeit ohne Lehrer gewesen, da fuhr der Wirt von der „Noten Lilie"
nach Genf und brachte von dort einen neuen Lehrer mit. Ich weiß nicht, wie
er ihn gefunden hatte, vielleicht auf der Straße, denn er war ein verhungerter,
armseliger, blasser Mensch, mager und dürftig. Aber er sprach unsere Sprache
besser als wir und konnte auch alles andere fein und war dennoch ein Deutscher.
Das merkten wir sofort all seinem Namen, und befragt machte er auch keinen
Hehl daraus.

Ich war damals ein Junge von zwölf Jahren, der Anführer der Dorfjugend.
Ich stieg schon den Mädchen nach und hatte schon Glück bei ihnen, und es
verdroß mich arg, daß ich noch auf der Schulbank sitzen und Dinge lernen
mußte, von denen ich mir nichts fürs Leben versprach. Mein Vater hatte ein
großes Stück Land und Vieh. Ich war sein Einziger.

Um den deutschen Lehrer nun mit Haß und Spott zu verfolgen, gab es
zwei Gründe: er war Lehrer und er war Deutscher. Wir quälten den Armen
auf alle erdenkliche Weise. Niemand unten im Lande oder draußen bei den
anderen weiß ja, wie in den kleinen Ortschaften unter dem Volk der Deutsche
verhaßt ist. Unsere Großväter, die den Krieg siebzig und einundsiebzig mit¬
gemacht, die vererben den Haß, und er wird den Kindern schon im Blut mit¬
gegeben. „Preuße" — das ist schlimmer als ein Schimpfwort, und keiner
dürfte es wagen, jemanden so zu beschimpfen. Das müßte mit Blut gerächt
werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/94>, abgerufen am 20.10.2024.