Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.Japans Presse und öffentliche Meinung während des Weltkrieges letzten Jahrzehnte als "übertrieben national" bezeichnen. Dem schon in der Japans Presse und öffentliche Meinung während des Weltkrieges letzten Jahrzehnte als „übertrieben national" bezeichnen. Dem schon in der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0380" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323477"/> <fw type="header" place="top"> Japans Presse und öffentliche Meinung während des Weltkrieges</fw><lb/> <p xml:id="ID_1309" prev="#ID_1308" next="#ID_1310"> letzten Jahrzehnte als „übertrieben national" bezeichnen. Dem schon in der<lb/> Schule dem jungen Japaner eingeimpften, von der japanischen Religion, dem<lb/> Schintoismus, geradezu zum Evangelium erhobenen Nationalismus war das<lb/> vor Japans Toren gelagerte Tsingtan immer ein Dorn im Auge. Für<lb/> die weitere Ausbreitung des japanischen Herrschaftsgebietes, oder in der Sprache<lb/> des Volkes: für das zukünftige Glück des geliebten, als Halbgott verehrten<lb/> Mikado bedeutete das wirtschaftlich zu immer wachsender Blüte gelangende<lb/> Tsingtan ein Hindernis. Man wußte in Japan, daß wir Deutsche unser<lb/> mühsam zur Entwicklung gebrachtes Pachtgebiet lieben und es nicht freiwillig<lb/> herausgeben würden. Daß man Tsingtau nehmen mußte, daß man es mit<lb/> den Deutschen verderben mußte, mit denen man sowohl in Kiautschau als auch<lb/> in Japan selbst sehr gut auskam, weckte in der Masse des Volkes, wie aus<lb/> Zeitungsberichten herauszulesen ist, ein Gefühl des Bedauerns. Für politische<lb/> Notwendigkeiten, für Bündnispflichten und dergleichen hat das Volk nie Ver¬<lb/> ständnis besessen. Es ist politisch völlig urteilslos und unreif. Große Welt¬<lb/> ereignisse, blutige Kriege und verheerende Katastrophen betrachtet der Japaner<lb/> mit den Augen eines geborenen Dichters. So seltsam dies klingen mag — jeder<lb/> der Japan aus eigener Anschauung kennt, hat es erfahren: das Volk ist<lb/> ungemein poetisch veranlagt und verleugnet diese Liebe zur Welt der lebhaftesten<lb/> Phantasie bei keiner Gelegenheit. Das Volk liebt die rohen Affekte nicht und<lb/> ist ungemein ästhetisch. Betrunkene, wie sie ganz vereinzelt zur Zeit des Reis-<lb/> weins in den Großstädten auftauchen, sind für den Mann aus dem Volke ein<lb/> Greuel und kommen in seinen Vorstellungen gleich hinter den Schwerverbrechern.<lb/> Die natürliche Gutmütigkeit des Japaners, verbunden mit seiner an ästhetischen<lb/> Idealen reichen Lebensanschauung, verhindert das allgemeine Umsichgreifen eines<lb/> Hasses gegen eine fremde Nation. Haß aus politischen Motiven kennt da5<lb/> Volk nicht, schon weil es von Politik so herzlich wenig versteht. Eine allgemeine<lb/> Volksstimmung, wie sie heute in Frankreich und England gegen uns herrscht<lb/> und ihre meist recht bedauerlichen, oft aber auch wirklich komischen Blüten<lb/> treibt, ist in Japan undenkbar. Wenn in der allerneuesten Zeit das japanische<lb/> Volk für politische Vorgänge Interesse hat, so liegt dieses auf dem Gebiet der<lb/> inneren Politik. Durch die Milliardenausgaben, die Heer und Marine, die<lb/> eine verwegene Großmachtpolitik verschlungen haben, lastet auf dem Volke die<lb/> bitterste Not. Wirtschaftliche Reformen, Steuerprobleme, vor allem aber sozial¬<lb/> politische Maßnahmen der Regierung sind es heute, die auch im niederen Volke<lb/> mit zunehmendem Eifer und Verständnis diskutiert werden. Die Zeitungen<lb/> bemühen sich, die Kenntnis der brennendsten Wirtschaftsfragen dem Volke zu<lb/> vermitteln. Unzählige Vorträge in allen Teilen des Reiches behandeln in<lb/> volkstümlicher Weise soziale Probleme. Die Hörer der sozialpolitischen und<lb/> wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen an den in mehreren Städten nach<lb/> deutschem und amerikanischem Muster errichteten Volksuniversitäten nehmen<lb/> während des Krieges an Zahl sichtlich zu. Die Regierung erteilt Prämien</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0380]
Japans Presse und öffentliche Meinung während des Weltkrieges
letzten Jahrzehnte als „übertrieben national" bezeichnen. Dem schon in der
Schule dem jungen Japaner eingeimpften, von der japanischen Religion, dem
Schintoismus, geradezu zum Evangelium erhobenen Nationalismus war das
vor Japans Toren gelagerte Tsingtan immer ein Dorn im Auge. Für
die weitere Ausbreitung des japanischen Herrschaftsgebietes, oder in der Sprache
des Volkes: für das zukünftige Glück des geliebten, als Halbgott verehrten
Mikado bedeutete das wirtschaftlich zu immer wachsender Blüte gelangende
Tsingtan ein Hindernis. Man wußte in Japan, daß wir Deutsche unser
mühsam zur Entwicklung gebrachtes Pachtgebiet lieben und es nicht freiwillig
herausgeben würden. Daß man Tsingtau nehmen mußte, daß man es mit
den Deutschen verderben mußte, mit denen man sowohl in Kiautschau als auch
in Japan selbst sehr gut auskam, weckte in der Masse des Volkes, wie aus
Zeitungsberichten herauszulesen ist, ein Gefühl des Bedauerns. Für politische
Notwendigkeiten, für Bündnispflichten und dergleichen hat das Volk nie Ver¬
ständnis besessen. Es ist politisch völlig urteilslos und unreif. Große Welt¬
ereignisse, blutige Kriege und verheerende Katastrophen betrachtet der Japaner
mit den Augen eines geborenen Dichters. So seltsam dies klingen mag — jeder
der Japan aus eigener Anschauung kennt, hat es erfahren: das Volk ist
ungemein poetisch veranlagt und verleugnet diese Liebe zur Welt der lebhaftesten
Phantasie bei keiner Gelegenheit. Das Volk liebt die rohen Affekte nicht und
ist ungemein ästhetisch. Betrunkene, wie sie ganz vereinzelt zur Zeit des Reis-
weins in den Großstädten auftauchen, sind für den Mann aus dem Volke ein
Greuel und kommen in seinen Vorstellungen gleich hinter den Schwerverbrechern.
Die natürliche Gutmütigkeit des Japaners, verbunden mit seiner an ästhetischen
Idealen reichen Lebensanschauung, verhindert das allgemeine Umsichgreifen eines
Hasses gegen eine fremde Nation. Haß aus politischen Motiven kennt da5
Volk nicht, schon weil es von Politik so herzlich wenig versteht. Eine allgemeine
Volksstimmung, wie sie heute in Frankreich und England gegen uns herrscht
und ihre meist recht bedauerlichen, oft aber auch wirklich komischen Blüten
treibt, ist in Japan undenkbar. Wenn in der allerneuesten Zeit das japanische
Volk für politische Vorgänge Interesse hat, so liegt dieses auf dem Gebiet der
inneren Politik. Durch die Milliardenausgaben, die Heer und Marine, die
eine verwegene Großmachtpolitik verschlungen haben, lastet auf dem Volke die
bitterste Not. Wirtschaftliche Reformen, Steuerprobleme, vor allem aber sozial¬
politische Maßnahmen der Regierung sind es heute, die auch im niederen Volke
mit zunehmendem Eifer und Verständnis diskutiert werden. Die Zeitungen
bemühen sich, die Kenntnis der brennendsten Wirtschaftsfragen dem Volke zu
vermitteln. Unzählige Vorträge in allen Teilen des Reiches behandeln in
volkstümlicher Weise soziale Probleme. Die Hörer der sozialpolitischen und
wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen an den in mehreren Städten nach
deutschem und amerikanischem Muster errichteten Volksuniversitäten nehmen
während des Krieges an Zahl sichtlich zu. Die Regierung erteilt Prämien
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