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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Rechtsfrieden

Nun, so gewiß der Krieg im Leben der Völker nur das äußerste Mittel
ist und sein soll, Streitigkeiten unter den verschiedenen Völkern zu entscheiden,
ebenso und nicht anders ist und sollte es der Prozeßkrieg zwischen in Streitigkeit
geratenden einzelnen Personen der Bevölkerung sein. So notwendig aber
anderseits als ultima ratio der Krieg im Leben der Völker ist, trotz aller
schweren Opfer, die er dem einzelnen wie den Völkern, auch dem stegreichen
Volke, auferlegt, so notwendig ist und bleibt auch der Prozeß. Deshalb heißt
es denn auch in der aus zahlreichen anderen Beweisstellen hervorgehobenen
A. G. O., daß Prozesse nicht absolut, sondern nur "möglichst" vermieden werden
sollen. Nicht anders wie bei dem Kriege sollten jedoch jedem Prozesse regel¬
mäßig zunächst gütliche Verhandlungen zwecks friedlicher Schlichtung und Bei¬
legung des Streites vorausgehen. Daß solche Verhandlungen natürlich nicht
in allen Fällen zum Ziele führen werden und können, vermag nur ein Utopist
und Friedensschwärmer um jeden Preis zu leugnen. Für solche Fälle muß
daher natürlich auch ein geordnetes Prozeßverfahren vorhanden sein, das sich in
allmählicher Entwicklung aus der ursprünglichsten Form der Selbsthilfe und aus dem
später an ihre Stelle tretenden Zweikampfe mit Waffen, der sich bei Angriffen auf die
Ehre des einzelnen in einzelnen Kreisen noch heute erhalten hat, bildete, und
in der heutigen Zivilprozeßordnung, trotz der wie bei allen menschlichen
Ordnungen und Einrichtungen natürlich immer bestehenden Verbesserungsbedürftig¬
keit, einen guten Abschluß gefunden hat. Aber zu allen Zeiten war sich die
Staatsregierung, insbesondere auch in deutschen Landen, bewußt, daß der förmliche
Rechtsgang tunlichst zu vermeiden ist, und daß der zwingende Rechtsausspruch
jedenfalls denjenigen, welchen er ins Unrecht setzt, eigentlich nie befriedigt,
und darum nur in den seltensten Fällen die Feindschaft unter den Streitenden
wirklich zu schlichten vermag. Im Gegenteil wird die Feindschaft und Erbitterung
des durch den zwingenden Urteilsspruch ins Unrecht gesetzten gegen den ob¬
siegenden Gegner oft nur größer und dehnt sich nicht selten auf die Familien¬
angehörigen der Streitteile, ja auch auf andere sonst bei dem Prozeßverfahren
mitwirkende Personen aus, weil eben der unterliegende Teil durch das zwingende
Urteil nicht wirklich von seinem Unrecht überzeugt zu werden pflegt, sondern sein
Unterliegen oft auf andere Umstände, etwa auf eine angeblich falsche Zeugnis¬
abgabe, auf Untüchtigkeit seines Rechtsbeistandes oder auch Unverständnis oder
Parteinahme der Richter und Sachverständigen für den obsiegenden Teil zurück-
führt. Von den Folgen, die die auf diese Weise hervorgerufene Proze߬
verbitterung zeitigt, können unsere Angklagebehörden und unsere Strafgerichte
berichten, und eine Statistik darüber, wieviel begründete und unbegründete
Strafanzeigen und Kriminalfälle direkt oder doch in letzter Quelle auf einen
verlorenen Prozeß zurückzuführen sind, würde uns ein Bild enthüllen, das
sicher noch weit über die Erwartungen, die man sich gemeinhin davon zu
machen pflegt, hinausgeht. Daß aber auch durch einen großen Teil der Prozeß-
führungen das Verhältnis zwischen der Staatsgewalt und der Bevölkerung sich


Rechtsfrieden

Nun, so gewiß der Krieg im Leben der Völker nur das äußerste Mittel
ist und sein soll, Streitigkeiten unter den verschiedenen Völkern zu entscheiden,
ebenso und nicht anders ist und sollte es der Prozeßkrieg zwischen in Streitigkeit
geratenden einzelnen Personen der Bevölkerung sein. So notwendig aber
anderseits als ultima ratio der Krieg im Leben der Völker ist, trotz aller
schweren Opfer, die er dem einzelnen wie den Völkern, auch dem stegreichen
Volke, auferlegt, so notwendig ist und bleibt auch der Prozeß. Deshalb heißt
es denn auch in der aus zahlreichen anderen Beweisstellen hervorgehobenen
A. G. O., daß Prozesse nicht absolut, sondern nur „möglichst" vermieden werden
sollen. Nicht anders wie bei dem Kriege sollten jedoch jedem Prozesse regel¬
mäßig zunächst gütliche Verhandlungen zwecks friedlicher Schlichtung und Bei¬
legung des Streites vorausgehen. Daß solche Verhandlungen natürlich nicht
in allen Fällen zum Ziele führen werden und können, vermag nur ein Utopist
und Friedensschwärmer um jeden Preis zu leugnen. Für solche Fälle muß
daher natürlich auch ein geordnetes Prozeßverfahren vorhanden sein, das sich in
allmählicher Entwicklung aus der ursprünglichsten Form der Selbsthilfe und aus dem
später an ihre Stelle tretenden Zweikampfe mit Waffen, der sich bei Angriffen auf die
Ehre des einzelnen in einzelnen Kreisen noch heute erhalten hat, bildete, und
in der heutigen Zivilprozeßordnung, trotz der wie bei allen menschlichen
Ordnungen und Einrichtungen natürlich immer bestehenden Verbesserungsbedürftig¬
keit, einen guten Abschluß gefunden hat. Aber zu allen Zeiten war sich die
Staatsregierung, insbesondere auch in deutschen Landen, bewußt, daß der förmliche
Rechtsgang tunlichst zu vermeiden ist, und daß der zwingende Rechtsausspruch
jedenfalls denjenigen, welchen er ins Unrecht setzt, eigentlich nie befriedigt,
und darum nur in den seltensten Fällen die Feindschaft unter den Streitenden
wirklich zu schlichten vermag. Im Gegenteil wird die Feindschaft und Erbitterung
des durch den zwingenden Urteilsspruch ins Unrecht gesetzten gegen den ob¬
siegenden Gegner oft nur größer und dehnt sich nicht selten auf die Familien¬
angehörigen der Streitteile, ja auch auf andere sonst bei dem Prozeßverfahren
mitwirkende Personen aus, weil eben der unterliegende Teil durch das zwingende
Urteil nicht wirklich von seinem Unrecht überzeugt zu werden pflegt, sondern sein
Unterliegen oft auf andere Umstände, etwa auf eine angeblich falsche Zeugnis¬
abgabe, auf Untüchtigkeit seines Rechtsbeistandes oder auch Unverständnis oder
Parteinahme der Richter und Sachverständigen für den obsiegenden Teil zurück-
führt. Von den Folgen, die die auf diese Weise hervorgerufene Proze߬
verbitterung zeitigt, können unsere Angklagebehörden und unsere Strafgerichte
berichten, und eine Statistik darüber, wieviel begründete und unbegründete
Strafanzeigen und Kriminalfälle direkt oder doch in letzter Quelle auf einen
verlorenen Prozeß zurückzuführen sind, würde uns ein Bild enthüllen, das
sicher noch weit über die Erwartungen, die man sich gemeinhin davon zu
machen pflegt, hinausgeht. Daß aber auch durch einen großen Teil der Prozeß-
führungen das Verhältnis zwischen der Staatsgewalt und der Bevölkerung sich


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[0344] Rechtsfrieden Nun, so gewiß der Krieg im Leben der Völker nur das äußerste Mittel ist und sein soll, Streitigkeiten unter den verschiedenen Völkern zu entscheiden, ebenso und nicht anders ist und sollte es der Prozeßkrieg zwischen in Streitigkeit geratenden einzelnen Personen der Bevölkerung sein. So notwendig aber anderseits als ultima ratio der Krieg im Leben der Völker ist, trotz aller schweren Opfer, die er dem einzelnen wie den Völkern, auch dem stegreichen Volke, auferlegt, so notwendig ist und bleibt auch der Prozeß. Deshalb heißt es denn auch in der aus zahlreichen anderen Beweisstellen hervorgehobenen A. G. O., daß Prozesse nicht absolut, sondern nur „möglichst" vermieden werden sollen. Nicht anders wie bei dem Kriege sollten jedoch jedem Prozesse regel¬ mäßig zunächst gütliche Verhandlungen zwecks friedlicher Schlichtung und Bei¬ legung des Streites vorausgehen. Daß solche Verhandlungen natürlich nicht in allen Fällen zum Ziele führen werden und können, vermag nur ein Utopist und Friedensschwärmer um jeden Preis zu leugnen. Für solche Fälle muß daher natürlich auch ein geordnetes Prozeßverfahren vorhanden sein, das sich in allmählicher Entwicklung aus der ursprünglichsten Form der Selbsthilfe und aus dem später an ihre Stelle tretenden Zweikampfe mit Waffen, der sich bei Angriffen auf die Ehre des einzelnen in einzelnen Kreisen noch heute erhalten hat, bildete, und in der heutigen Zivilprozeßordnung, trotz der wie bei allen menschlichen Ordnungen und Einrichtungen natürlich immer bestehenden Verbesserungsbedürftig¬ keit, einen guten Abschluß gefunden hat. Aber zu allen Zeiten war sich die Staatsregierung, insbesondere auch in deutschen Landen, bewußt, daß der förmliche Rechtsgang tunlichst zu vermeiden ist, und daß der zwingende Rechtsausspruch jedenfalls denjenigen, welchen er ins Unrecht setzt, eigentlich nie befriedigt, und darum nur in den seltensten Fällen die Feindschaft unter den Streitenden wirklich zu schlichten vermag. Im Gegenteil wird die Feindschaft und Erbitterung des durch den zwingenden Urteilsspruch ins Unrecht gesetzten gegen den ob¬ siegenden Gegner oft nur größer und dehnt sich nicht selten auf die Familien¬ angehörigen der Streitteile, ja auch auf andere sonst bei dem Prozeßverfahren mitwirkende Personen aus, weil eben der unterliegende Teil durch das zwingende Urteil nicht wirklich von seinem Unrecht überzeugt zu werden pflegt, sondern sein Unterliegen oft auf andere Umstände, etwa auf eine angeblich falsche Zeugnis¬ abgabe, auf Untüchtigkeit seines Rechtsbeistandes oder auch Unverständnis oder Parteinahme der Richter und Sachverständigen für den obsiegenden Teil zurück- führt. Von den Folgen, die die auf diese Weise hervorgerufene Proze߬ verbitterung zeitigt, können unsere Angklagebehörden und unsere Strafgerichte berichten, und eine Statistik darüber, wieviel begründete und unbegründete Strafanzeigen und Kriminalfälle direkt oder doch in letzter Quelle auf einen verlorenen Prozeß zurückzuführen sind, würde uns ein Bild enthüllen, das sicher noch weit über die Erwartungen, die man sich gemeinhin davon zu machen pflegt, hinausgeht. Daß aber auch durch einen großen Teil der Prozeß- führungen das Verhältnis zwischen der Staatsgewalt und der Bevölkerung sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/344>, abgerufen am 20.10.2024.