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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Schweiz

Niemals war der Einfluß des Bürgertums in Deutschland auf die Gesetz¬
gebung und deren freiheitliche Ziele größer als nach dem stegreichen Kriege
gegen Frankreich. Wenn dieser Einfluß nicht durchhielt, so trägt einzig und
allein die parteipolitische Zersplitterung des Bürgertums daran die Schuld, das
in Kämpfen ohne Maß und Ziel sich gegenseitig schwächte. Es war der natür¬
liche Lauf der Entwicklung, daß die Leitung wieder an die Regierung fiel,
zumal sie in den Händen des erfolgreichsten Staatsmannes der neueren Zeit
lag. Nichts spricht dagegen, daß ein siegreiches Deutschland sich nach innen
seinen Bedürfnissen gemäß frei entwickeln wird, daß das deutsche Volk, im
Schmiedefeuer des Weltkrieges geläutert, nicht Fehler der Vergangenheit wieder¬
holen werde. Niemand sorgt heute in Deutschland, daß der Sieg eine poli¬
tische Reaktion bringen werde. Um so weniger, als das ganze deutsche Volk der
Erringer des Sieges sein würde. Und es wird ihn zu wahren, als eine Kultur¬
mission ohnegleichen zu schützen wissen. Ob in Rußland ein ähnliches sich ereignen
könnte, in Frankreich, das im Siege immer übermütig war, in England
schließlich, das alle neu gewonnene Macht in Barrengold gemünzt auf die
heimische Insel bringen würde! Wer fragt danach?

Wir aber fragen danach, woher es kommt, daß uns aus dem Seelen¬
spiegel der Neutralen ein Zerrbild des Deutschtums entgegenstarrt. Möglich,
daß die Ursache auch bei uns liegt, die wir unterließen, uns mehr für unsere
nächsten stammverwandten Nachbarn zu interessieren. Denn dies Interesse kann
sich nicht darin allein erschöpfen, daß wir zu Tausenden jährlich die großen
Hotels der Schweiz bevölkern, daß an der Statistik gemessen unsere Ausfuhr
und Einfuhr nach der Schweiz von Jahr zu Jahr wächst. Vom Gesamthandel
der Schweiz im Jahre 1913 im Betrage von über zweiundeinerhalben
Milliarde Mark entfallen rund 749 Millionen Mark auf Deutschland. Daran
war unsere Ausfuhr allein mit 536 Millionen Mark beteiligt, so daß nach den
Ziffern der Handelsbilanz die Schweiz unser guter Kunde ist. Indessen
bleibt zu berücksichtigen, daß wir jährlich einige hundert Millionen Mark Bargeld
in die Schweiz ausführen durch das Mittel des Reise- und Fremdenverkehrs.
Doch wissen wir damit noch nicht viel von Schweizer Eigenart und Geschichte.
Der Schweizer ist stolz auf fein Eigenstaatswerk, gerade weil er es aus sich
heraus gebildet und geschaffen hat, ohne Hilfe von außen, unter sorgfältiger
Nutzung und Schonung urgermanischer Überlieferungen. Von der germanischen
Volksdemokratie finden sich noch heute in den Länderkantonen lebenskräftige
Zeugnisse, die auf die Gesamtverfassung der Schweiz zurückgewirkt haben.
Wenn immer nur der Versuch gemacht wurde, der Schweiz durch das Mittel
des Zwangs eine künstliche, nicht organisch-gewachsene Staatsform aufzudrängen,
so brach sie bald auseinander. Wie dies mit der Helvetik geschah, der Zwangs¬
geburt der französischen Revolution, mit den Mediationsakten Bonapartes,
endlich auch mit dem Staatenbund, an dem die enge Weisheit des Wiener
Kongresses mitgearbeitet hatte. Das Schweizer Staatswesen, wie es sich nach


Deutschland und die Schweiz

Niemals war der Einfluß des Bürgertums in Deutschland auf die Gesetz¬
gebung und deren freiheitliche Ziele größer als nach dem stegreichen Kriege
gegen Frankreich. Wenn dieser Einfluß nicht durchhielt, so trägt einzig und
allein die parteipolitische Zersplitterung des Bürgertums daran die Schuld, das
in Kämpfen ohne Maß und Ziel sich gegenseitig schwächte. Es war der natür¬
liche Lauf der Entwicklung, daß die Leitung wieder an die Regierung fiel,
zumal sie in den Händen des erfolgreichsten Staatsmannes der neueren Zeit
lag. Nichts spricht dagegen, daß ein siegreiches Deutschland sich nach innen
seinen Bedürfnissen gemäß frei entwickeln wird, daß das deutsche Volk, im
Schmiedefeuer des Weltkrieges geläutert, nicht Fehler der Vergangenheit wieder¬
holen werde. Niemand sorgt heute in Deutschland, daß der Sieg eine poli¬
tische Reaktion bringen werde. Um so weniger, als das ganze deutsche Volk der
Erringer des Sieges sein würde. Und es wird ihn zu wahren, als eine Kultur¬
mission ohnegleichen zu schützen wissen. Ob in Rußland ein ähnliches sich ereignen
könnte, in Frankreich, das im Siege immer übermütig war, in England
schließlich, das alle neu gewonnene Macht in Barrengold gemünzt auf die
heimische Insel bringen würde! Wer fragt danach?

Wir aber fragen danach, woher es kommt, daß uns aus dem Seelen¬
spiegel der Neutralen ein Zerrbild des Deutschtums entgegenstarrt. Möglich,
daß die Ursache auch bei uns liegt, die wir unterließen, uns mehr für unsere
nächsten stammverwandten Nachbarn zu interessieren. Denn dies Interesse kann
sich nicht darin allein erschöpfen, daß wir zu Tausenden jährlich die großen
Hotels der Schweiz bevölkern, daß an der Statistik gemessen unsere Ausfuhr
und Einfuhr nach der Schweiz von Jahr zu Jahr wächst. Vom Gesamthandel
der Schweiz im Jahre 1913 im Betrage von über zweiundeinerhalben
Milliarde Mark entfallen rund 749 Millionen Mark auf Deutschland. Daran
war unsere Ausfuhr allein mit 536 Millionen Mark beteiligt, so daß nach den
Ziffern der Handelsbilanz die Schweiz unser guter Kunde ist. Indessen
bleibt zu berücksichtigen, daß wir jährlich einige hundert Millionen Mark Bargeld
in die Schweiz ausführen durch das Mittel des Reise- und Fremdenverkehrs.
Doch wissen wir damit noch nicht viel von Schweizer Eigenart und Geschichte.
Der Schweizer ist stolz auf fein Eigenstaatswerk, gerade weil er es aus sich
heraus gebildet und geschaffen hat, ohne Hilfe von außen, unter sorgfältiger
Nutzung und Schonung urgermanischer Überlieferungen. Von der germanischen
Volksdemokratie finden sich noch heute in den Länderkantonen lebenskräftige
Zeugnisse, die auf die Gesamtverfassung der Schweiz zurückgewirkt haben.
Wenn immer nur der Versuch gemacht wurde, der Schweiz durch das Mittel
des Zwangs eine künstliche, nicht organisch-gewachsene Staatsform aufzudrängen,
so brach sie bald auseinander. Wie dies mit der Helvetik geschah, der Zwangs¬
geburt der französischen Revolution, mit den Mediationsakten Bonapartes,
endlich auch mit dem Staatenbund, an dem die enge Weisheit des Wiener
Kongresses mitgearbeitet hatte. Das Schweizer Staatswesen, wie es sich nach


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[0341] Deutschland und die Schweiz Niemals war der Einfluß des Bürgertums in Deutschland auf die Gesetz¬ gebung und deren freiheitliche Ziele größer als nach dem stegreichen Kriege gegen Frankreich. Wenn dieser Einfluß nicht durchhielt, so trägt einzig und allein die parteipolitische Zersplitterung des Bürgertums daran die Schuld, das in Kämpfen ohne Maß und Ziel sich gegenseitig schwächte. Es war der natür¬ liche Lauf der Entwicklung, daß die Leitung wieder an die Regierung fiel, zumal sie in den Händen des erfolgreichsten Staatsmannes der neueren Zeit lag. Nichts spricht dagegen, daß ein siegreiches Deutschland sich nach innen seinen Bedürfnissen gemäß frei entwickeln wird, daß das deutsche Volk, im Schmiedefeuer des Weltkrieges geläutert, nicht Fehler der Vergangenheit wieder¬ holen werde. Niemand sorgt heute in Deutschland, daß der Sieg eine poli¬ tische Reaktion bringen werde. Um so weniger, als das ganze deutsche Volk der Erringer des Sieges sein würde. Und es wird ihn zu wahren, als eine Kultur¬ mission ohnegleichen zu schützen wissen. Ob in Rußland ein ähnliches sich ereignen könnte, in Frankreich, das im Siege immer übermütig war, in England schließlich, das alle neu gewonnene Macht in Barrengold gemünzt auf die heimische Insel bringen würde! Wer fragt danach? Wir aber fragen danach, woher es kommt, daß uns aus dem Seelen¬ spiegel der Neutralen ein Zerrbild des Deutschtums entgegenstarrt. Möglich, daß die Ursache auch bei uns liegt, die wir unterließen, uns mehr für unsere nächsten stammverwandten Nachbarn zu interessieren. Denn dies Interesse kann sich nicht darin allein erschöpfen, daß wir zu Tausenden jährlich die großen Hotels der Schweiz bevölkern, daß an der Statistik gemessen unsere Ausfuhr und Einfuhr nach der Schweiz von Jahr zu Jahr wächst. Vom Gesamthandel der Schweiz im Jahre 1913 im Betrage von über zweiundeinerhalben Milliarde Mark entfallen rund 749 Millionen Mark auf Deutschland. Daran war unsere Ausfuhr allein mit 536 Millionen Mark beteiligt, so daß nach den Ziffern der Handelsbilanz die Schweiz unser guter Kunde ist. Indessen bleibt zu berücksichtigen, daß wir jährlich einige hundert Millionen Mark Bargeld in die Schweiz ausführen durch das Mittel des Reise- und Fremdenverkehrs. Doch wissen wir damit noch nicht viel von Schweizer Eigenart und Geschichte. Der Schweizer ist stolz auf fein Eigenstaatswerk, gerade weil er es aus sich heraus gebildet und geschaffen hat, ohne Hilfe von außen, unter sorgfältiger Nutzung und Schonung urgermanischer Überlieferungen. Von der germanischen Volksdemokratie finden sich noch heute in den Länderkantonen lebenskräftige Zeugnisse, die auf die Gesamtverfassung der Schweiz zurückgewirkt haben. Wenn immer nur der Versuch gemacht wurde, der Schweiz durch das Mittel des Zwangs eine künstliche, nicht organisch-gewachsene Staatsform aufzudrängen, so brach sie bald auseinander. Wie dies mit der Helvetik geschah, der Zwangs¬ geburt der französischen Revolution, mit den Mediationsakten Bonapartes, endlich auch mit dem Staatenbund, an dem die enge Weisheit des Wiener Kongresses mitgearbeitet hatte. Das Schweizer Staatswesen, wie es sich nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/341>, abgerufen am 27.09.2024.