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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Schweiz

Frankreich zurückkehrten. Dazu gesellten sich noch andere positive Handlungen,
was Bismarck veranlaßte, die Neutralität Luxemburgs ohne Verhandlungen für
verwirkt zu erklären. Wenn dies weiter keine Folgen hatte, wenn Bismarck
einlenkte, so erklärt sich das aus dem glücklichen Vortragen der militärischen
Operationen Deutschlands in Frankreich; vielleicht auch durch andere weltpolitische
Fernwirkungen, da Rußland sich gleichzeitig von den Festsetzungen des Pariser
Vertrages über den Pontus lossagte. Hätte Deutschland 1914 auf den Marsch
durch Belgien verzichtet, so hätte es damit seine empfindlichste Flanke, das
niederrheinische Industriegebiet, der französischen Stoßtaktik zur freien Verfügung
gestellt. Es mag ehrliche belgische Ideologen geben, die, wie Professor Waxweiler
in seiner, in der Schweiz stark verbreiteten und beachteten Druckschrift, Belgien
von dem Verdacht hinterhaltiger Pläne gegen Deutschland zu entlasten suchen, --
sie treffen nicht das Wesentliche der Sache. Vielmehr handelt es sich einzig
und allein darum, ob nicht Frankreich und England über Belgien den Stoß
in das Herz der deutschen Volkswirtschaft geführt haben würden. Es ist eine
starke Zumutung, daß Deutschland das hätte abwarten sollen, da es dadurch
härter getroffen wäre, als durch Niederlagen auf dem Schlachtfelde in Feindesland,
die immer wieder ausgeglichen werden können. Das wissen Frankreich und
England, weshalb sie ja ihre ganzen Hoffnungen auf den Hungerkrieg setzen,
der einen Ersatz dafür bieten soll, daß man das reiche und blühende nieder¬
rheinische Industriegebiet nicht in eine Wüste verwandeln konnte. Solange
Belgien nicht ein Heer besaß, das stark und groß genug war, die Neutralität
gegen jeden Staat zu schützen, solange war es nur eine Frage der militärischen
Schlagfertigkeit, die belgische Karte für sich auszuspielen. Die Schlagfertigkeit
war bei Deutschland; hätte es gewartet, bis die französisch-englische Armee über
Belgien nach dem Niederrhein marschierte, so hätten die edelsten menschlichen
Gefühle der neutralen Mitteleuropäer Deutschland nichts nützen können, wenn
ihm sein starkes industrielles Rückgrat eingedrückt worden wäre. Denn am
Niederrhein, drei Bahnstunden von der belgischen Grenze, liegen auch die
Kruppschen Werke. Dabei soll ganz abgesehen werden davon, daß Belgien sich
selbst durch die im Konquistadorenstil erfolgte Angliederung großer Kolonien
weltpolitische Reibungsflächen geschaffen hat, die auf die Dauer uicht ohne
Rückwirkung aus seine kontinentale Neutralität bleiben konnten. Man kann
nicht das eine tun und das andere lassen.

Dennoch erklärt das alles nicht das peinlich abgewogene Maß, mit dem
uns die Schweizer-Deutschen messen. Hier spielen die vorhin erwähnten
Imponderabilien hinein, vor allem die Abneigung, die die freie Schweiz gegen
den deutschen "Militarismus" hegt -- mehr aus Überlieferung, als aus Kenntnis
der tatsächlichen Verhältnisse. Auch da läuft ein verhängnisvoller geschichtlicher
Trugschluß unter. Zunächst ist nicht Deutschland der Geburtsstaat des
europäischen Militarismus. Kein anderer als Napoleon Bonaparte hat das
waffenstarrende Europa organisiert. In Taines "Entstehung des modernen


Deutschland und die Schweiz

Frankreich zurückkehrten. Dazu gesellten sich noch andere positive Handlungen,
was Bismarck veranlaßte, die Neutralität Luxemburgs ohne Verhandlungen für
verwirkt zu erklären. Wenn dies weiter keine Folgen hatte, wenn Bismarck
einlenkte, so erklärt sich das aus dem glücklichen Vortragen der militärischen
Operationen Deutschlands in Frankreich; vielleicht auch durch andere weltpolitische
Fernwirkungen, da Rußland sich gleichzeitig von den Festsetzungen des Pariser
Vertrages über den Pontus lossagte. Hätte Deutschland 1914 auf den Marsch
durch Belgien verzichtet, so hätte es damit seine empfindlichste Flanke, das
niederrheinische Industriegebiet, der französischen Stoßtaktik zur freien Verfügung
gestellt. Es mag ehrliche belgische Ideologen geben, die, wie Professor Waxweiler
in seiner, in der Schweiz stark verbreiteten und beachteten Druckschrift, Belgien
von dem Verdacht hinterhaltiger Pläne gegen Deutschland zu entlasten suchen, —
sie treffen nicht das Wesentliche der Sache. Vielmehr handelt es sich einzig
und allein darum, ob nicht Frankreich und England über Belgien den Stoß
in das Herz der deutschen Volkswirtschaft geführt haben würden. Es ist eine
starke Zumutung, daß Deutschland das hätte abwarten sollen, da es dadurch
härter getroffen wäre, als durch Niederlagen auf dem Schlachtfelde in Feindesland,
die immer wieder ausgeglichen werden können. Das wissen Frankreich und
England, weshalb sie ja ihre ganzen Hoffnungen auf den Hungerkrieg setzen,
der einen Ersatz dafür bieten soll, daß man das reiche und blühende nieder¬
rheinische Industriegebiet nicht in eine Wüste verwandeln konnte. Solange
Belgien nicht ein Heer besaß, das stark und groß genug war, die Neutralität
gegen jeden Staat zu schützen, solange war es nur eine Frage der militärischen
Schlagfertigkeit, die belgische Karte für sich auszuspielen. Die Schlagfertigkeit
war bei Deutschland; hätte es gewartet, bis die französisch-englische Armee über
Belgien nach dem Niederrhein marschierte, so hätten die edelsten menschlichen
Gefühle der neutralen Mitteleuropäer Deutschland nichts nützen können, wenn
ihm sein starkes industrielles Rückgrat eingedrückt worden wäre. Denn am
Niederrhein, drei Bahnstunden von der belgischen Grenze, liegen auch die
Kruppschen Werke. Dabei soll ganz abgesehen werden davon, daß Belgien sich
selbst durch die im Konquistadorenstil erfolgte Angliederung großer Kolonien
weltpolitische Reibungsflächen geschaffen hat, die auf die Dauer uicht ohne
Rückwirkung aus seine kontinentale Neutralität bleiben konnten. Man kann
nicht das eine tun und das andere lassen.

Dennoch erklärt das alles nicht das peinlich abgewogene Maß, mit dem
uns die Schweizer-Deutschen messen. Hier spielen die vorhin erwähnten
Imponderabilien hinein, vor allem die Abneigung, die die freie Schweiz gegen
den deutschen „Militarismus" hegt — mehr aus Überlieferung, als aus Kenntnis
der tatsächlichen Verhältnisse. Auch da läuft ein verhängnisvoller geschichtlicher
Trugschluß unter. Zunächst ist nicht Deutschland der Geburtsstaat des
europäischen Militarismus. Kein anderer als Napoleon Bonaparte hat das
waffenstarrende Europa organisiert. In Taines „Entstehung des modernen


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[0338] Deutschland und die Schweiz Frankreich zurückkehrten. Dazu gesellten sich noch andere positive Handlungen, was Bismarck veranlaßte, die Neutralität Luxemburgs ohne Verhandlungen für verwirkt zu erklären. Wenn dies weiter keine Folgen hatte, wenn Bismarck einlenkte, so erklärt sich das aus dem glücklichen Vortragen der militärischen Operationen Deutschlands in Frankreich; vielleicht auch durch andere weltpolitische Fernwirkungen, da Rußland sich gleichzeitig von den Festsetzungen des Pariser Vertrages über den Pontus lossagte. Hätte Deutschland 1914 auf den Marsch durch Belgien verzichtet, so hätte es damit seine empfindlichste Flanke, das niederrheinische Industriegebiet, der französischen Stoßtaktik zur freien Verfügung gestellt. Es mag ehrliche belgische Ideologen geben, die, wie Professor Waxweiler in seiner, in der Schweiz stark verbreiteten und beachteten Druckschrift, Belgien von dem Verdacht hinterhaltiger Pläne gegen Deutschland zu entlasten suchen, — sie treffen nicht das Wesentliche der Sache. Vielmehr handelt es sich einzig und allein darum, ob nicht Frankreich und England über Belgien den Stoß in das Herz der deutschen Volkswirtschaft geführt haben würden. Es ist eine starke Zumutung, daß Deutschland das hätte abwarten sollen, da es dadurch härter getroffen wäre, als durch Niederlagen auf dem Schlachtfelde in Feindesland, die immer wieder ausgeglichen werden können. Das wissen Frankreich und England, weshalb sie ja ihre ganzen Hoffnungen auf den Hungerkrieg setzen, der einen Ersatz dafür bieten soll, daß man das reiche und blühende nieder¬ rheinische Industriegebiet nicht in eine Wüste verwandeln konnte. Solange Belgien nicht ein Heer besaß, das stark und groß genug war, die Neutralität gegen jeden Staat zu schützen, solange war es nur eine Frage der militärischen Schlagfertigkeit, die belgische Karte für sich auszuspielen. Die Schlagfertigkeit war bei Deutschland; hätte es gewartet, bis die französisch-englische Armee über Belgien nach dem Niederrhein marschierte, so hätten die edelsten menschlichen Gefühle der neutralen Mitteleuropäer Deutschland nichts nützen können, wenn ihm sein starkes industrielles Rückgrat eingedrückt worden wäre. Denn am Niederrhein, drei Bahnstunden von der belgischen Grenze, liegen auch die Kruppschen Werke. Dabei soll ganz abgesehen werden davon, daß Belgien sich selbst durch die im Konquistadorenstil erfolgte Angliederung großer Kolonien weltpolitische Reibungsflächen geschaffen hat, die auf die Dauer uicht ohne Rückwirkung aus seine kontinentale Neutralität bleiben konnten. Man kann nicht das eine tun und das andere lassen. Dennoch erklärt das alles nicht das peinlich abgewogene Maß, mit dem uns die Schweizer-Deutschen messen. Hier spielen die vorhin erwähnten Imponderabilien hinein, vor allem die Abneigung, die die freie Schweiz gegen den deutschen „Militarismus" hegt — mehr aus Überlieferung, als aus Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. Auch da läuft ein verhängnisvoller geschichtlicher Trugschluß unter. Zunächst ist nicht Deutschland der Geburtsstaat des europäischen Militarismus. Kein anderer als Napoleon Bonaparte hat das waffenstarrende Europa organisiert. In Taines „Entstehung des modernen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/338>, abgerufen am 27.09.2024.