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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Schweiz

ist, der nicht nach Deutschland, nicht nach Frankreich sieht, kann man sich auch
darüber unterrichten, in welch hinterlistiger Weise die Republik Frankreich die
aufrechte und wohlwollende Neutralität der Republik der Eidgenossen in der
savoyischen Frage nach dem Frankfurter Frieden belohnte. Solange Frankreich
die deutsche Faust noch fest im Nacken spürte, hielt es bei der Schweiz um gut
Wetter an, sagte in bindender Form die Mitwirkung bei der Umgestaltung der
Verhältnisse Savoyens nach dem Friedensschlüsse zu. Als der Friede unter¬
zeichnet war, vertröstete Frankreich die Schweiz für später, um die dann nachher
tatsächlich erfolgte Mahnung mit dem unwirscher Bemerken abzutun: es habe
keine Zeit dafür. Schollenberger nennt dies Verhalten rücksichtslos und perfid.
Daß der Bundesrat es sich gefallen ließ, daß das staatliche Selbstbewußtsein
der Schweizer sich nicht aufbäumte, läßt sich psychologisch zureichend kaum
erklären. Es sei denn, daß die Schweiz eine üble Behandlung durch Frankreich
gewohnt war, seitdem die Eidgenossen 1848 ihren Bundesstaat errichtet hatten.
Mußte doch die Schweiz schon 1850 in Sachen des Asylrechts von der Re¬
gierung des Prinzregenten eine Drohnote hinnehmen, in der es hieß: die
Schweiz könne auf die guten Dienste Frankreichs rechnen, solange sie ihren
völkerrechtlichen Verpflichtungen treu bleibe; aber es würde für sie gefährlich
werden, wenn sie gerechte und vernünftige Forderungen ablehne. Was das
für Forderungen waren, zeigte sich 1852, als der französische Gesandte an den
Bundesrat das -- nach Schollenberger -- "unverschämte" Begehren richtete,
bestimmte staatspolizeiliche Maßregeln unverzüglich durchzuführen. Vielleicht
gehörte zu diesen Forderungen auch der territoriale Raub, den Frankreich 1862
an der Schweiz durch die Wegnahme des Dappetals, das das natürliche Tor
des Wallis ist, beging. Dagegen halte man die Abwicklung des Neuenburger
Handels, in dem Preußens König sogar auf die Barentschädigung Verzicht
leistete. Und doch war das Recht Preußens unbestritten, wenn ihm auch die
Machtverhältnisse entgegenwirkten. Durch Erledigung der savoyischen Frage
1870 durch den Bundesrat wird das Urteil bestätigt, das der ausgezeichnete
Schweizer Historiker W. Oechsli über die Schweizer fällt: sobald die Eidgenossen
eine etwelchermaßen haltbare Grenze gewonnen hatten, ließen sie die schönsten
Gelegenheiten zur Ausdehnung ihres Gebietes vorübergehen. Daß die Aus¬
dehnung sich an und für sich mit dem Neutralitätsprinzip verträgt, behauptet
auch Schollenberger: In Beurteilung ist zu sagen, daß für die Frage der
Neutralität zwar kein Papier, sondern das Interesse entscheidend ist; aber nur
das Interesse der Schweiz selbst, nicht das Interesse anderer Staaten,
anderer Völker so wenig als anderer Regierungen, auch wenn es sich
um Ausbreitung der Demokratie handelt; die Schweiz hat keine besondere
Mission im Interesse Europas oder gar des Erdballes, auch nicht die der
demokratischen Propaganda, sondern wie jeder Staat die Aufgabe festzu¬
stehen und zu diesem Zweck möglichst stark und daher möglichst groß, zu
sein.


Deutschland und die Schweiz

ist, der nicht nach Deutschland, nicht nach Frankreich sieht, kann man sich auch
darüber unterrichten, in welch hinterlistiger Weise die Republik Frankreich die
aufrechte und wohlwollende Neutralität der Republik der Eidgenossen in der
savoyischen Frage nach dem Frankfurter Frieden belohnte. Solange Frankreich
die deutsche Faust noch fest im Nacken spürte, hielt es bei der Schweiz um gut
Wetter an, sagte in bindender Form die Mitwirkung bei der Umgestaltung der
Verhältnisse Savoyens nach dem Friedensschlüsse zu. Als der Friede unter¬
zeichnet war, vertröstete Frankreich die Schweiz für später, um die dann nachher
tatsächlich erfolgte Mahnung mit dem unwirscher Bemerken abzutun: es habe
keine Zeit dafür. Schollenberger nennt dies Verhalten rücksichtslos und perfid.
Daß der Bundesrat es sich gefallen ließ, daß das staatliche Selbstbewußtsein
der Schweizer sich nicht aufbäumte, läßt sich psychologisch zureichend kaum
erklären. Es sei denn, daß die Schweiz eine üble Behandlung durch Frankreich
gewohnt war, seitdem die Eidgenossen 1848 ihren Bundesstaat errichtet hatten.
Mußte doch die Schweiz schon 1850 in Sachen des Asylrechts von der Re¬
gierung des Prinzregenten eine Drohnote hinnehmen, in der es hieß: die
Schweiz könne auf die guten Dienste Frankreichs rechnen, solange sie ihren
völkerrechtlichen Verpflichtungen treu bleibe; aber es würde für sie gefährlich
werden, wenn sie gerechte und vernünftige Forderungen ablehne. Was das
für Forderungen waren, zeigte sich 1852, als der französische Gesandte an den
Bundesrat das — nach Schollenberger — „unverschämte" Begehren richtete,
bestimmte staatspolizeiliche Maßregeln unverzüglich durchzuführen. Vielleicht
gehörte zu diesen Forderungen auch der territoriale Raub, den Frankreich 1862
an der Schweiz durch die Wegnahme des Dappetals, das das natürliche Tor
des Wallis ist, beging. Dagegen halte man die Abwicklung des Neuenburger
Handels, in dem Preußens König sogar auf die Barentschädigung Verzicht
leistete. Und doch war das Recht Preußens unbestritten, wenn ihm auch die
Machtverhältnisse entgegenwirkten. Durch Erledigung der savoyischen Frage
1870 durch den Bundesrat wird das Urteil bestätigt, das der ausgezeichnete
Schweizer Historiker W. Oechsli über die Schweizer fällt: sobald die Eidgenossen
eine etwelchermaßen haltbare Grenze gewonnen hatten, ließen sie die schönsten
Gelegenheiten zur Ausdehnung ihres Gebietes vorübergehen. Daß die Aus¬
dehnung sich an und für sich mit dem Neutralitätsprinzip verträgt, behauptet
auch Schollenberger: In Beurteilung ist zu sagen, daß für die Frage der
Neutralität zwar kein Papier, sondern das Interesse entscheidend ist; aber nur
das Interesse der Schweiz selbst, nicht das Interesse anderer Staaten,
anderer Völker so wenig als anderer Regierungen, auch wenn es sich
um Ausbreitung der Demokratie handelt; die Schweiz hat keine besondere
Mission im Interesse Europas oder gar des Erdballes, auch nicht die der
demokratischen Propaganda, sondern wie jeder Staat die Aufgabe festzu¬
stehen und zu diesem Zweck möglichst stark und daher möglichst groß, zu
sein.


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[0336] Deutschland und die Schweiz ist, der nicht nach Deutschland, nicht nach Frankreich sieht, kann man sich auch darüber unterrichten, in welch hinterlistiger Weise die Republik Frankreich die aufrechte und wohlwollende Neutralität der Republik der Eidgenossen in der savoyischen Frage nach dem Frankfurter Frieden belohnte. Solange Frankreich die deutsche Faust noch fest im Nacken spürte, hielt es bei der Schweiz um gut Wetter an, sagte in bindender Form die Mitwirkung bei der Umgestaltung der Verhältnisse Savoyens nach dem Friedensschlüsse zu. Als der Friede unter¬ zeichnet war, vertröstete Frankreich die Schweiz für später, um die dann nachher tatsächlich erfolgte Mahnung mit dem unwirscher Bemerken abzutun: es habe keine Zeit dafür. Schollenberger nennt dies Verhalten rücksichtslos und perfid. Daß der Bundesrat es sich gefallen ließ, daß das staatliche Selbstbewußtsein der Schweizer sich nicht aufbäumte, läßt sich psychologisch zureichend kaum erklären. Es sei denn, daß die Schweiz eine üble Behandlung durch Frankreich gewohnt war, seitdem die Eidgenossen 1848 ihren Bundesstaat errichtet hatten. Mußte doch die Schweiz schon 1850 in Sachen des Asylrechts von der Re¬ gierung des Prinzregenten eine Drohnote hinnehmen, in der es hieß: die Schweiz könne auf die guten Dienste Frankreichs rechnen, solange sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen treu bleibe; aber es würde für sie gefährlich werden, wenn sie gerechte und vernünftige Forderungen ablehne. Was das für Forderungen waren, zeigte sich 1852, als der französische Gesandte an den Bundesrat das — nach Schollenberger — „unverschämte" Begehren richtete, bestimmte staatspolizeiliche Maßregeln unverzüglich durchzuführen. Vielleicht gehörte zu diesen Forderungen auch der territoriale Raub, den Frankreich 1862 an der Schweiz durch die Wegnahme des Dappetals, das das natürliche Tor des Wallis ist, beging. Dagegen halte man die Abwicklung des Neuenburger Handels, in dem Preußens König sogar auf die Barentschädigung Verzicht leistete. Und doch war das Recht Preußens unbestritten, wenn ihm auch die Machtverhältnisse entgegenwirkten. Durch Erledigung der savoyischen Frage 1870 durch den Bundesrat wird das Urteil bestätigt, das der ausgezeichnete Schweizer Historiker W. Oechsli über die Schweizer fällt: sobald die Eidgenossen eine etwelchermaßen haltbare Grenze gewonnen hatten, ließen sie die schönsten Gelegenheiten zur Ausdehnung ihres Gebietes vorübergehen. Daß die Aus¬ dehnung sich an und für sich mit dem Neutralitätsprinzip verträgt, behauptet auch Schollenberger: In Beurteilung ist zu sagen, daß für die Frage der Neutralität zwar kein Papier, sondern das Interesse entscheidend ist; aber nur das Interesse der Schweiz selbst, nicht das Interesse anderer Staaten, anderer Völker so wenig als anderer Regierungen, auch wenn es sich um Ausbreitung der Demokratie handelt; die Schweiz hat keine besondere Mission im Interesse Europas oder gar des Erdballes, auch nicht die der demokratischen Propaganda, sondern wie jeder Staat die Aufgabe festzu¬ stehen und zu diesem Zweck möglichst stark und daher möglichst groß, zu sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/336>, abgerufen am 27.09.2024.