Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.Die Grenzen des Versicherungsgedankens Lin Beitrag zur Philosophie der Zivilisation Dr. Max Hildebert Bochen von le Entwicklung, die Deutschland seit der Begründung seiner staat¬ Man sieht: die Arbeit an der Naturwissenschaft und der auf ihr auf¬ Die Grenzen des Versicherungsgedankens Lin Beitrag zur Philosophie der Zivilisation Dr. Max Hildebert Bochen von le Entwicklung, die Deutschland seit der Begründung seiner staat¬ Man sieht: die Arbeit an der Naturwissenschaft und der auf ihr auf¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323128"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341901_323097/figures/grenzboten_341901_323097_323128_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Die Grenzen des Versicherungsgedankens<lb/> Lin Beitrag zur Philosophie der Zivilisation<lb/><note type="byline"> Dr. Max Hildebert Bochen</note> von</head><lb/> <p xml:id="ID_43"> le Entwicklung, die Deutschland seit der Begründung seiner staat¬<lb/> lichen Einigkeit genommen hat, kennzeichnet sich im wesentlichen<lb/> als ein gewaltiger zivilisatorischer Aufschwung. Hieraus erklärt<lb/> sich der Konkurrenzneid der Völker, die die Dinge der Zivilisation<lb/> in Erbpacht zu haben glaubten und uns dafür gnädig die Rolle<lb/> eines Kulturlakeien zuwiesen, der die Herren der Erde in Musik und Philosophie<lb/> zu bedienen hätte. Daß aber in uns der Wille zur Macht, der sein wirksamstes<lb/> Mittel in der modernen Technik findet, plötzlich wieder lebendig wurde, das<lb/> konnte man uns nicht verzeihen. Dies ist allbekannt. Es sollte aber auch das<lb/> andere nicht vergessen werden, daß sich aus diesem wesentlich zivilisatorischer<lb/> Charakter unserer jüngsten Epoche auch das seltsame Mißtrauen, die scharfe<lb/> Kritik erklärt, die seit Nietzsche nicht die Schlechtesten unter unseren Volks¬<lb/> genossen zu Beschwörern und mahnenden Warnern gegenüber dem neuen<lb/> Deutschland gemacht hat. Der Wechsel kam sehr schroff. Aus der Gedrücktheit<lb/> und Kümmerlichkeit des kleinstaatlichen Deutschlands führten uns die über¬<lb/> raschenden kriegerischen Erfolge in die Reihe der gebietenden Großmächte. Zu<lb/> weit lagen die Zeiten der staatlichen Herrlichkeit im großen Mittelalter zurück.<lb/> Wir hatten sie vergessen. Wir waren „kleine Leute" geworden. Jetzt wurden<lb/> wir Parvenus. Wir bauten in einem erschreckenden Tempo Großstädte, deren<lb/> Villenviertel, errichtet aus dem Gold des über Nacht reich gewordenen Neu¬<lb/> deutschland, das Fürchterlichste an Unselbständigkeit, Aufdringlichkeit und innerer<lb/> Hohlheit im Stil boten, was die deutsche Baugeschichte gesehen hat. Die<lb/> Philosophie lag brach, abseits stand als Prediger in der Wüste der eine Friedrich<lb/> Nietzsche. Und in der Dichtung und Malerei feierten Epigonentum und Histo¬<lb/> rismus ihre Orgien. Verstande stehen heute die Werke von Georg Ebers im<lb/> Bücherschrank als trauriges Erinnerungsmal der „Gründerzeit".</p><lb/> <p xml:id="ID_44"> Man sieht: die Arbeit an der Naturwissenschaft und der auf ihr auf¬<lb/> bauenden Technik, die rechtliche Ordnung des neuen Reiches, die Ausgestaltung<lb/> der sozialen Einrichtungen, in denen das Versicherungswesen schnell eine beherr-<lb/> schende Stellung gewann: all diese Zivilisationsarbeit sog die Kräfte der Nation<lb/> dermaßen auf, daß für die kulturellen Leistungen in Philosophie, Kunst und Geistes¬<lb/> wissenschaft, daß für eine religiöse Erstarkung undVertiefung kaum etwas übrig blieb.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
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Die Grenzen des Versicherungsgedankens
Lin Beitrag zur Philosophie der Zivilisation
Dr. Max Hildebert Bochen von
le Entwicklung, die Deutschland seit der Begründung seiner staat¬
lichen Einigkeit genommen hat, kennzeichnet sich im wesentlichen
als ein gewaltiger zivilisatorischer Aufschwung. Hieraus erklärt
sich der Konkurrenzneid der Völker, die die Dinge der Zivilisation
in Erbpacht zu haben glaubten und uns dafür gnädig die Rolle
eines Kulturlakeien zuwiesen, der die Herren der Erde in Musik und Philosophie
zu bedienen hätte. Daß aber in uns der Wille zur Macht, der sein wirksamstes
Mittel in der modernen Technik findet, plötzlich wieder lebendig wurde, das
konnte man uns nicht verzeihen. Dies ist allbekannt. Es sollte aber auch das
andere nicht vergessen werden, daß sich aus diesem wesentlich zivilisatorischer
Charakter unserer jüngsten Epoche auch das seltsame Mißtrauen, die scharfe
Kritik erklärt, die seit Nietzsche nicht die Schlechtesten unter unseren Volks¬
genossen zu Beschwörern und mahnenden Warnern gegenüber dem neuen
Deutschland gemacht hat. Der Wechsel kam sehr schroff. Aus der Gedrücktheit
und Kümmerlichkeit des kleinstaatlichen Deutschlands führten uns die über¬
raschenden kriegerischen Erfolge in die Reihe der gebietenden Großmächte. Zu
weit lagen die Zeiten der staatlichen Herrlichkeit im großen Mittelalter zurück.
Wir hatten sie vergessen. Wir waren „kleine Leute" geworden. Jetzt wurden
wir Parvenus. Wir bauten in einem erschreckenden Tempo Großstädte, deren
Villenviertel, errichtet aus dem Gold des über Nacht reich gewordenen Neu¬
deutschland, das Fürchterlichste an Unselbständigkeit, Aufdringlichkeit und innerer
Hohlheit im Stil boten, was die deutsche Baugeschichte gesehen hat. Die
Philosophie lag brach, abseits stand als Prediger in der Wüste der eine Friedrich
Nietzsche. Und in der Dichtung und Malerei feierten Epigonentum und Histo¬
rismus ihre Orgien. Verstande stehen heute die Werke von Georg Ebers im
Bücherschrank als trauriges Erinnerungsmal der „Gründerzeit".
Man sieht: die Arbeit an der Naturwissenschaft und der auf ihr auf¬
bauenden Technik, die rechtliche Ordnung des neuen Reiches, die Ausgestaltung
der sozialen Einrichtungen, in denen das Versicherungswesen schnell eine beherr-
schende Stellung gewann: all diese Zivilisationsarbeit sog die Kräfte der Nation
dermaßen auf, daß für die kulturellen Leistungen in Philosophie, Kunst und Geistes¬
wissenschaft, daß für eine religiöse Erstarkung undVertiefung kaum etwas übrig blieb.
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