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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ein holländischer Britenspiegcl

ausspielte. "Der deutsche Soldat hielt viele Jahre hindurch den Frieden unter
den Großmächten aufrecht und vertrat damit bewußt und entschlossen zugleich
die Rechte und Lebensinteressen der kleinen Staaten, wie zu allen Zeiten. Der
deutsche Kaiser setzte unbeirrt und ritterlich immer wieder seine ganze Persönlichkeit
für die Wahrung des Friedens ein, und der Kanzler des Deutschen Reiches
erklärte wiederholt aller Welt feierlich den Willen Deutschlands, nur zu einer
friedlichen Lösung aller Konflikte seine Hand bieten zu wollen. Die Haltung
der Berliner Regierung in der Marokkokrisis, in der Balkanfrage, die von ihm
in Afrika, Asien und überall von jeher vertretene Politik der offenen Tür, ihr Ent¬
gegenkommen in der Flottenbaufrage bewies es. "Das deutsche Volk." meint Vatter,
"hat beinahe um Frieden gebettelt, und Gott wird es dafür unendlich segnen."

Aber es war vergebens: die Netze der dreifachen Entente waren schon zu
fest gewoben, Englands Trumpf mußte heraus, und "halbwilde serbische
Agitatoren" warfen dann den Brand in das Pulverfaß.

Sehr interessant verbreitet Vatter sich über die dem Kriege unmittelbar
vorangehenden Ereignisse, speziell über das Verhalten Englands. England, so
meint er, hatte alles in der Hand, es konnte noch in elfter Stunde vieles ab¬
wenden, zum mindesten Belgien retten. Aber seine einigermaßen umsichtige,
rätselhafte Politik des Zauderns in der kritischen Stunde besiegelte das Geschick
des unglücklichen Königreichs. "Während englische Minister erwogen, ging
Belgien verloren." Vatter bespricht mit beachtenswerten kritischen Bemerkungen
den bekannten Notenwechsel, betreffend die belgische Neutralität, und die noch
nicht genügend aufgeklärte Rolle Englands dabei, die es schließlich "unter der
schönen Losung, für die gewährleisteten Rechte der kleinen Staaten" zu Ende
spielte. Man mag aber, meinte Vatter nüchtern, die Frage, ob England im
letzten Augenblick doch noch den Krieg vermeiden wollte oder nicht, noch dahin¬
gestellt sein lassen: "Eine lange Kette von Geschehnissen vieler Jahre bis auf
die letzte Zeit beweist, daß die britische Politik auf die Entfesselung eines
kontinentalen Krieges gerichtet gewesen ist, daß dieses Land mehr als irgend ein
anderes die Verantwortung für den Völkerkrieg trägt, den die deutsche Regierung zu
vermeiden trachtete, und den Frankreich nicht gewagt haben würde, wenn es
nicht schließlich auf Englands Mithilfe gerechnet hätte." Die so heiß umstrittene
Frage der belgischen Neutralität unterzieht Vatter in einem besonderen Abschnitt
seines Werkes einer scharfsinnigen und höchst individuellen Kritik, wobei er
allerdings zu einem -- deutschfreundlichen Urteil gelangt. Die Ausführungen
dürften von besonderem Interesse sein.

Über die wirkliche Bedeutung des Vertrages von 1831 herrschte längst,
sagt Vatter, die communis opini", daß die Akte im gegebenen Falle keinerlei
praktischen Wert mehr haben würde. Angesichts der politischen Konstellationen
seit dem Bestehen der Triple-Entente und ihrer offen ausgesprochenen Pläne
konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß bei Ausbruch eines Krieges gegen
Deutschland Frankreich durch Belgien seinen Aufmarsch nehmen würde, den


Ein holländischer Britenspiegcl

ausspielte. „Der deutsche Soldat hielt viele Jahre hindurch den Frieden unter
den Großmächten aufrecht und vertrat damit bewußt und entschlossen zugleich
die Rechte und Lebensinteressen der kleinen Staaten, wie zu allen Zeiten. Der
deutsche Kaiser setzte unbeirrt und ritterlich immer wieder seine ganze Persönlichkeit
für die Wahrung des Friedens ein, und der Kanzler des Deutschen Reiches
erklärte wiederholt aller Welt feierlich den Willen Deutschlands, nur zu einer
friedlichen Lösung aller Konflikte seine Hand bieten zu wollen. Die Haltung
der Berliner Regierung in der Marokkokrisis, in der Balkanfrage, die von ihm
in Afrika, Asien und überall von jeher vertretene Politik der offenen Tür, ihr Ent¬
gegenkommen in der Flottenbaufrage bewies es. „Das deutsche Volk." meint Vatter,
„hat beinahe um Frieden gebettelt, und Gott wird es dafür unendlich segnen."

Aber es war vergebens: die Netze der dreifachen Entente waren schon zu
fest gewoben, Englands Trumpf mußte heraus, und „halbwilde serbische
Agitatoren" warfen dann den Brand in das Pulverfaß.

Sehr interessant verbreitet Vatter sich über die dem Kriege unmittelbar
vorangehenden Ereignisse, speziell über das Verhalten Englands. England, so
meint er, hatte alles in der Hand, es konnte noch in elfter Stunde vieles ab¬
wenden, zum mindesten Belgien retten. Aber seine einigermaßen umsichtige,
rätselhafte Politik des Zauderns in der kritischen Stunde besiegelte das Geschick
des unglücklichen Königreichs. „Während englische Minister erwogen, ging
Belgien verloren." Vatter bespricht mit beachtenswerten kritischen Bemerkungen
den bekannten Notenwechsel, betreffend die belgische Neutralität, und die noch
nicht genügend aufgeklärte Rolle Englands dabei, die es schließlich „unter der
schönen Losung, für die gewährleisteten Rechte der kleinen Staaten" zu Ende
spielte. Man mag aber, meinte Vatter nüchtern, die Frage, ob England im
letzten Augenblick doch noch den Krieg vermeiden wollte oder nicht, noch dahin¬
gestellt sein lassen: „Eine lange Kette von Geschehnissen vieler Jahre bis auf
die letzte Zeit beweist, daß die britische Politik auf die Entfesselung eines
kontinentalen Krieges gerichtet gewesen ist, daß dieses Land mehr als irgend ein
anderes die Verantwortung für den Völkerkrieg trägt, den die deutsche Regierung zu
vermeiden trachtete, und den Frankreich nicht gewagt haben würde, wenn es
nicht schließlich auf Englands Mithilfe gerechnet hätte." Die so heiß umstrittene
Frage der belgischen Neutralität unterzieht Vatter in einem besonderen Abschnitt
seines Werkes einer scharfsinnigen und höchst individuellen Kritik, wobei er
allerdings zu einem — deutschfreundlichen Urteil gelangt. Die Ausführungen
dürften von besonderem Interesse sein.

Über die wirkliche Bedeutung des Vertrages von 1831 herrschte längst,
sagt Vatter, die communis opini«, daß die Akte im gegebenen Falle keinerlei
praktischen Wert mehr haben würde. Angesichts der politischen Konstellationen
seit dem Bestehen der Triple-Entente und ihrer offen ausgesprochenen Pläne
konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß bei Ausbruch eines Krieges gegen
Deutschland Frankreich durch Belgien seinen Aufmarsch nehmen würde, den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/288>, abgerufen am 27.09.2024.