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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ein "Europäischer Staatenbund" ?

weniger Individuen, sondern einer ungeheuren Mehrzahl zu erwarten hat.
Wenn in einem Volke von siebzig Millionen jemand einen andern bestiehlt,
so wird dies nicht bloß von dem einen Bestohlenen vergolten, sondern gewisser¬
maßen auch von den übrigen 69999998, da ja das Gericht, das den Dieb
bestraft, die Stelle der siebzig Millionen vertritt. Und die Wirkung der so¬
genannten öffentlichen Meinung, die für das sittliche Handeln der meisten
Menschen fast allein ausschlaggebend ist, beruht auf einem ähnlichen Tatbestand,
wie hier wohl nicht näher beleuchtet zu werden braucht. -- Wenn aber ein
europäischer Staat einen anderen bestiehlt -- was zu den Alltäglichkeiten der
Weltgeschichte gehört --. so hat er im allgemeinen nur die Vergeltung dieses
einen zu fürchten, während die anderen "neutral" bleiben; und wenn in Europa
nur soviel einzelne Individuen lebten, wie es Staaten darin gibt, so würden
sie wohl, falls sie in gegenseitige Berührung kämen, ebensowenig für einander
eintreten und übereinander Recht sprechen, wie dies bisher unter den europäischen
Staaten zu erreichen war. Ein Rechtsprecher und Rechtausüben ist eben nur
möglich, wenn hinter dem einen, dem Unrecht geschah, eine überwältigend große
Mehrheit steht, und wo der größte Teil der Gesamtheit gleiches Ansehen, gleiche
Macht und gleiches Recht hat. Bestände Europa aus lauter, also etwa achtzig
solchen Staaten wie Holland, so glaube ich eher, daß "für Europa die Ver¬
einigung zu einem Staatenbund" (zweiter Satz des Ausrufs) nicht nur wünschens¬
wert, sondern sogar möglich wäre. Solange es aber so bleibt wie gegenwärtig,
wo sich ziemlich alles um das Verhalten von fünf Großmächten dreht, da er¬
scheint mir eine dauernd friedliche Verständigung nicht wahrscheinlicher als eine
solche unter fünf Brüdern im Alter von sieben bis vierzehn Jahren, wenn die Eltern
nicht fortwährend kontrollierend und regulierend eingreifen. Es nützt nichts, wenn
man auf die Bundesstaaten im Deutschen Reich, in der Schweiz und in Nordamerika
hinweist (Seite 7 Ihrer Schrift) und sagt, zwischen den europäischen Staaten
könne es doch ebenso friedlich hergehen wie zwischen jenen. Denn jene drei
Staatenverbände haben sich erstens mal gewissermaßen unter dem Druck der
Erkenntnis des Satzes "Einigkeit macht stark" (gegen außen nämlich) gebildet,
und zweitens ist eben die Gemeinschaft der Rassen und der Schicksale, der
Sitten und der Sprache und nicht zuletzt auch den politischen Interessen
unter ihnen doch eine sehr große und daher relativ leicht zu dauernder
Vereinigung führende. Für die europäischen Staaten dagegen kommt
eine durch Zusammenschluß zu erreichende Stärkung gegen äußere Feinde,
vorläufig wenigstens, nicht in Betracht, und ihre Verschiedenheit in manchen
wesentlichen Beziehungen sowie der Widerstreit ihrer Interessen -- der
sehr reale Grund ihres "Mißtrauens!" -- ist eben so groß und zum
Teil unausgleichbar, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie sich ein bundes-
staatltches Verhältnis unter ihnen sollte herstellen lassen. Überhaupt meine ich,
daß man mit der Forderung einer "Rechtsgemeinschaft aller Kulturstaaten"
nichts rechtes anfangen kann, wenn sie nicht gleich von vornherein begleitet ist


Ein „Europäischer Staatenbund" ?

weniger Individuen, sondern einer ungeheuren Mehrzahl zu erwarten hat.
Wenn in einem Volke von siebzig Millionen jemand einen andern bestiehlt,
so wird dies nicht bloß von dem einen Bestohlenen vergolten, sondern gewisser¬
maßen auch von den übrigen 69999998, da ja das Gericht, das den Dieb
bestraft, die Stelle der siebzig Millionen vertritt. Und die Wirkung der so¬
genannten öffentlichen Meinung, die für das sittliche Handeln der meisten
Menschen fast allein ausschlaggebend ist, beruht auf einem ähnlichen Tatbestand,
wie hier wohl nicht näher beleuchtet zu werden braucht. — Wenn aber ein
europäischer Staat einen anderen bestiehlt — was zu den Alltäglichkeiten der
Weltgeschichte gehört —. so hat er im allgemeinen nur die Vergeltung dieses
einen zu fürchten, während die anderen „neutral" bleiben; und wenn in Europa
nur soviel einzelne Individuen lebten, wie es Staaten darin gibt, so würden
sie wohl, falls sie in gegenseitige Berührung kämen, ebensowenig für einander
eintreten und übereinander Recht sprechen, wie dies bisher unter den europäischen
Staaten zu erreichen war. Ein Rechtsprecher und Rechtausüben ist eben nur
möglich, wenn hinter dem einen, dem Unrecht geschah, eine überwältigend große
Mehrheit steht, und wo der größte Teil der Gesamtheit gleiches Ansehen, gleiche
Macht und gleiches Recht hat. Bestände Europa aus lauter, also etwa achtzig
solchen Staaten wie Holland, so glaube ich eher, daß „für Europa die Ver¬
einigung zu einem Staatenbund" (zweiter Satz des Ausrufs) nicht nur wünschens¬
wert, sondern sogar möglich wäre. Solange es aber so bleibt wie gegenwärtig,
wo sich ziemlich alles um das Verhalten von fünf Großmächten dreht, da er¬
scheint mir eine dauernd friedliche Verständigung nicht wahrscheinlicher als eine
solche unter fünf Brüdern im Alter von sieben bis vierzehn Jahren, wenn die Eltern
nicht fortwährend kontrollierend und regulierend eingreifen. Es nützt nichts, wenn
man auf die Bundesstaaten im Deutschen Reich, in der Schweiz und in Nordamerika
hinweist (Seite 7 Ihrer Schrift) und sagt, zwischen den europäischen Staaten
könne es doch ebenso friedlich hergehen wie zwischen jenen. Denn jene drei
Staatenverbände haben sich erstens mal gewissermaßen unter dem Druck der
Erkenntnis des Satzes „Einigkeit macht stark" (gegen außen nämlich) gebildet,
und zweitens ist eben die Gemeinschaft der Rassen und der Schicksale, der
Sitten und der Sprache und nicht zuletzt auch den politischen Interessen
unter ihnen doch eine sehr große und daher relativ leicht zu dauernder
Vereinigung führende. Für die europäischen Staaten dagegen kommt
eine durch Zusammenschluß zu erreichende Stärkung gegen äußere Feinde,
vorläufig wenigstens, nicht in Betracht, und ihre Verschiedenheit in manchen
wesentlichen Beziehungen sowie der Widerstreit ihrer Interessen — der
sehr reale Grund ihres „Mißtrauens!" — ist eben so groß und zum
Teil unausgleichbar, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie sich ein bundes-
staatltches Verhältnis unter ihnen sollte herstellen lassen. Überhaupt meine ich,
daß man mit der Forderung einer „Rechtsgemeinschaft aller Kulturstaaten"
nichts rechtes anfangen kann, wenn sie nicht gleich von vornherein begleitet ist


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[0281] Ein „Europäischer Staatenbund" ? weniger Individuen, sondern einer ungeheuren Mehrzahl zu erwarten hat. Wenn in einem Volke von siebzig Millionen jemand einen andern bestiehlt, so wird dies nicht bloß von dem einen Bestohlenen vergolten, sondern gewisser¬ maßen auch von den übrigen 69999998, da ja das Gericht, das den Dieb bestraft, die Stelle der siebzig Millionen vertritt. Und die Wirkung der so¬ genannten öffentlichen Meinung, die für das sittliche Handeln der meisten Menschen fast allein ausschlaggebend ist, beruht auf einem ähnlichen Tatbestand, wie hier wohl nicht näher beleuchtet zu werden braucht. — Wenn aber ein europäischer Staat einen anderen bestiehlt — was zu den Alltäglichkeiten der Weltgeschichte gehört —. so hat er im allgemeinen nur die Vergeltung dieses einen zu fürchten, während die anderen „neutral" bleiben; und wenn in Europa nur soviel einzelne Individuen lebten, wie es Staaten darin gibt, so würden sie wohl, falls sie in gegenseitige Berührung kämen, ebensowenig für einander eintreten und übereinander Recht sprechen, wie dies bisher unter den europäischen Staaten zu erreichen war. Ein Rechtsprecher und Rechtausüben ist eben nur möglich, wenn hinter dem einen, dem Unrecht geschah, eine überwältigend große Mehrheit steht, und wo der größte Teil der Gesamtheit gleiches Ansehen, gleiche Macht und gleiches Recht hat. Bestände Europa aus lauter, also etwa achtzig solchen Staaten wie Holland, so glaube ich eher, daß „für Europa die Ver¬ einigung zu einem Staatenbund" (zweiter Satz des Ausrufs) nicht nur wünschens¬ wert, sondern sogar möglich wäre. Solange es aber so bleibt wie gegenwärtig, wo sich ziemlich alles um das Verhalten von fünf Großmächten dreht, da er¬ scheint mir eine dauernd friedliche Verständigung nicht wahrscheinlicher als eine solche unter fünf Brüdern im Alter von sieben bis vierzehn Jahren, wenn die Eltern nicht fortwährend kontrollierend und regulierend eingreifen. Es nützt nichts, wenn man auf die Bundesstaaten im Deutschen Reich, in der Schweiz und in Nordamerika hinweist (Seite 7 Ihrer Schrift) und sagt, zwischen den europäischen Staaten könne es doch ebenso friedlich hergehen wie zwischen jenen. Denn jene drei Staatenverbände haben sich erstens mal gewissermaßen unter dem Druck der Erkenntnis des Satzes „Einigkeit macht stark" (gegen außen nämlich) gebildet, und zweitens ist eben die Gemeinschaft der Rassen und der Schicksale, der Sitten und der Sprache und nicht zuletzt auch den politischen Interessen unter ihnen doch eine sehr große und daher relativ leicht zu dauernder Vereinigung führende. Für die europäischen Staaten dagegen kommt eine durch Zusammenschluß zu erreichende Stärkung gegen äußere Feinde, vorläufig wenigstens, nicht in Betracht, und ihre Verschiedenheit in manchen wesentlichen Beziehungen sowie der Widerstreit ihrer Interessen — der sehr reale Grund ihres „Mißtrauens!" — ist eben so groß und zum Teil unausgleichbar, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie sich ein bundes- staatltches Verhältnis unter ihnen sollte herstellen lassen. Überhaupt meine ich, daß man mit der Forderung einer „Rechtsgemeinschaft aller Kulturstaaten" nichts rechtes anfangen kann, wenn sie nicht gleich von vornherein begleitet ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/281>, abgerufen am 27.09.2024.