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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Ein "Europäischer Staatenbund"?

den einzelnen Engländer oder Franzosen ebenso verhalten wie gegen den
einzelnen Deutschen, weil seine Erziehung ihm dies nahelegt. Aber zu irgend¬
einem sittlichen Verhalten gegen Staaten kann weder ein einzelner Mensch,
noch gar ein Staat erzogen werden. Jeder Mensch ist als Kind "Mores
gelehrt" worden nur gegenüber anderen Individuell, wie soll er als Erwachsener
irgendwelche Mores gegenüber Staaten kennen und beherrschen? Aber diese
Frage ist sogar überflüssig, da es sich ja hier um das Verhalten der einzelnen
Staaten gegeneinander, nicht um dasjenige einzelner Individuen handelt. Die
Staaten verkehren unter sich freilich in Gestalt einzelner Individuen, der
Herrscher, Minister, Diplomaten. Aber diese Leute fungieren doch dann nicht
als Privatpersonen, so daß sie auch keine Gelegenheit haben, in ihrem Handeln
ihre ihnen früher anerzogene Prtvatmoral anzubringen. Ich halte es daher,
nebenbet bemerkt, für verfehlt, wenn man bei uns in Deutschland ganz all¬
gemein die Herren Grey, Asquith, Churchill, Potncarö, Sasonow und andere
ohne weiteres als lauter Gauner und Halunken betrachtet. Über die Prtvat¬
moral dieser Männer ist nirgends etwas bekannt, und es liegt nichts vor
gegen die Annahme, daß sie auf gleicher Höhe steht wie die Privatmoral der
Durchschnittsstaatslenker aller Zeiten und Länder. Die genannten Männer
sehen sich nur eben durch ihr Amt, wenn sie darin bleiben wollen, durch die
Tradition und die äußeren Umstände dazu gedrängt, so zu handeln, daß eine
große Menge von Menschen in verschiedenen Ländern beträchtlichen Schaden
erleidet. Daß ein Mensch (als Vertreter eines Staates) Staaten gegenüber
auf Grund anderer Regeln sollte verfahren tonnen und müssen als anderen
Etnzelmenschen gegenüber, mag ein bedauerlicher Widerspruch sein; aber dies
beweist nichts. Denn das Leben aller Menschen setzt sich aus Widersprüchen
zusammen, wenn sie es auch nicht merken und sehr verwundert oder gar
beleidigt sind, wenn man es ihnen sagt. Ein völlig konsequenter Mensch wäre
ein Heiliger oder ein Narr.

Die Privatmoral kommt also für die Staaten untereinander nicht in
Betracht. Diese sind Gesamtpersonen, Wesen von ganz anderer Art als die
Einzelpersonen. Wie soll aber den Staaten als Gesamtpersonen "Mores gelehrt"
werden? Dazu müßten sie in ihrer Kindheit von andern solchen Gesamt¬
personen langsam und sorgfältig erzogen werden, denn auf andere Weise gelingt
kein gewohnheitsmäßiges Unterdrücken von ursprünglich egoistischen Neigungen.
Eine derartige Erziehung von Staaten durch andere Staaten ist natürlich un¬
sinnig. Aber wo soll dann eine Staatsmoral herkommen, da doch Moral
lediglich -- oder doch zu neun Zehnteln -- Erziehungsprodukt ist?

Es gäbe vielleicht einen Ausweg hieraus, wenn eine zweite Voraussetzung
des Handelns, die für "das gesellschaftliche Leben der einzelnen Nationen"
gilt, auch für den Verkehr der Staaten untereinander gelten würde, nämlich:
daß jede sittlich gute beziehungsweise schlechte Tat eines Individuums nicht
bloß Lob und Belohnung beziehungsweise Tadel und Strafe eines oder einiger


Ein „Europäischer Staatenbund"?

den einzelnen Engländer oder Franzosen ebenso verhalten wie gegen den
einzelnen Deutschen, weil seine Erziehung ihm dies nahelegt. Aber zu irgend¬
einem sittlichen Verhalten gegen Staaten kann weder ein einzelner Mensch,
noch gar ein Staat erzogen werden. Jeder Mensch ist als Kind „Mores
gelehrt" worden nur gegenüber anderen Individuell, wie soll er als Erwachsener
irgendwelche Mores gegenüber Staaten kennen und beherrschen? Aber diese
Frage ist sogar überflüssig, da es sich ja hier um das Verhalten der einzelnen
Staaten gegeneinander, nicht um dasjenige einzelner Individuen handelt. Die
Staaten verkehren unter sich freilich in Gestalt einzelner Individuen, der
Herrscher, Minister, Diplomaten. Aber diese Leute fungieren doch dann nicht
als Privatpersonen, so daß sie auch keine Gelegenheit haben, in ihrem Handeln
ihre ihnen früher anerzogene Prtvatmoral anzubringen. Ich halte es daher,
nebenbet bemerkt, für verfehlt, wenn man bei uns in Deutschland ganz all¬
gemein die Herren Grey, Asquith, Churchill, Potncarö, Sasonow und andere
ohne weiteres als lauter Gauner und Halunken betrachtet. Über die Prtvat¬
moral dieser Männer ist nirgends etwas bekannt, und es liegt nichts vor
gegen die Annahme, daß sie auf gleicher Höhe steht wie die Privatmoral der
Durchschnittsstaatslenker aller Zeiten und Länder. Die genannten Männer
sehen sich nur eben durch ihr Amt, wenn sie darin bleiben wollen, durch die
Tradition und die äußeren Umstände dazu gedrängt, so zu handeln, daß eine
große Menge von Menschen in verschiedenen Ländern beträchtlichen Schaden
erleidet. Daß ein Mensch (als Vertreter eines Staates) Staaten gegenüber
auf Grund anderer Regeln sollte verfahren tonnen und müssen als anderen
Etnzelmenschen gegenüber, mag ein bedauerlicher Widerspruch sein; aber dies
beweist nichts. Denn das Leben aller Menschen setzt sich aus Widersprüchen
zusammen, wenn sie es auch nicht merken und sehr verwundert oder gar
beleidigt sind, wenn man es ihnen sagt. Ein völlig konsequenter Mensch wäre
ein Heiliger oder ein Narr.

Die Privatmoral kommt also für die Staaten untereinander nicht in
Betracht. Diese sind Gesamtpersonen, Wesen von ganz anderer Art als die
Einzelpersonen. Wie soll aber den Staaten als Gesamtpersonen „Mores gelehrt"
werden? Dazu müßten sie in ihrer Kindheit von andern solchen Gesamt¬
personen langsam und sorgfältig erzogen werden, denn auf andere Weise gelingt
kein gewohnheitsmäßiges Unterdrücken von ursprünglich egoistischen Neigungen.
Eine derartige Erziehung von Staaten durch andere Staaten ist natürlich un¬
sinnig. Aber wo soll dann eine Staatsmoral herkommen, da doch Moral
lediglich — oder doch zu neun Zehnteln — Erziehungsprodukt ist?

Es gäbe vielleicht einen Ausweg hieraus, wenn eine zweite Voraussetzung
des Handelns, die für „das gesellschaftliche Leben der einzelnen Nationen"
gilt, auch für den Verkehr der Staaten untereinander gelten würde, nämlich:
daß jede sittlich gute beziehungsweise schlechte Tat eines Individuums nicht
bloß Lob und Belohnung beziehungsweise Tadel und Strafe eines oder einiger


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[0280] Ein „Europäischer Staatenbund"? den einzelnen Engländer oder Franzosen ebenso verhalten wie gegen den einzelnen Deutschen, weil seine Erziehung ihm dies nahelegt. Aber zu irgend¬ einem sittlichen Verhalten gegen Staaten kann weder ein einzelner Mensch, noch gar ein Staat erzogen werden. Jeder Mensch ist als Kind „Mores gelehrt" worden nur gegenüber anderen Individuell, wie soll er als Erwachsener irgendwelche Mores gegenüber Staaten kennen und beherrschen? Aber diese Frage ist sogar überflüssig, da es sich ja hier um das Verhalten der einzelnen Staaten gegeneinander, nicht um dasjenige einzelner Individuen handelt. Die Staaten verkehren unter sich freilich in Gestalt einzelner Individuen, der Herrscher, Minister, Diplomaten. Aber diese Leute fungieren doch dann nicht als Privatpersonen, so daß sie auch keine Gelegenheit haben, in ihrem Handeln ihre ihnen früher anerzogene Prtvatmoral anzubringen. Ich halte es daher, nebenbet bemerkt, für verfehlt, wenn man bei uns in Deutschland ganz all¬ gemein die Herren Grey, Asquith, Churchill, Potncarö, Sasonow und andere ohne weiteres als lauter Gauner und Halunken betrachtet. Über die Prtvat¬ moral dieser Männer ist nirgends etwas bekannt, und es liegt nichts vor gegen die Annahme, daß sie auf gleicher Höhe steht wie die Privatmoral der Durchschnittsstaatslenker aller Zeiten und Länder. Die genannten Männer sehen sich nur eben durch ihr Amt, wenn sie darin bleiben wollen, durch die Tradition und die äußeren Umstände dazu gedrängt, so zu handeln, daß eine große Menge von Menschen in verschiedenen Ländern beträchtlichen Schaden erleidet. Daß ein Mensch (als Vertreter eines Staates) Staaten gegenüber auf Grund anderer Regeln sollte verfahren tonnen und müssen als anderen Etnzelmenschen gegenüber, mag ein bedauerlicher Widerspruch sein; aber dies beweist nichts. Denn das Leben aller Menschen setzt sich aus Widersprüchen zusammen, wenn sie es auch nicht merken und sehr verwundert oder gar beleidigt sind, wenn man es ihnen sagt. Ein völlig konsequenter Mensch wäre ein Heiliger oder ein Narr. Die Privatmoral kommt also für die Staaten untereinander nicht in Betracht. Diese sind Gesamtpersonen, Wesen von ganz anderer Art als die Einzelpersonen. Wie soll aber den Staaten als Gesamtpersonen „Mores gelehrt" werden? Dazu müßten sie in ihrer Kindheit von andern solchen Gesamt¬ personen langsam und sorgfältig erzogen werden, denn auf andere Weise gelingt kein gewohnheitsmäßiges Unterdrücken von ursprünglich egoistischen Neigungen. Eine derartige Erziehung von Staaten durch andere Staaten ist natürlich un¬ sinnig. Aber wo soll dann eine Staatsmoral herkommen, da doch Moral lediglich — oder doch zu neun Zehnteln — Erziehungsprodukt ist? Es gäbe vielleicht einen Ausweg hieraus, wenn eine zweite Voraussetzung des Handelns, die für „das gesellschaftliche Leben der einzelnen Nationen" gilt, auch für den Verkehr der Staaten untereinander gelten würde, nämlich: daß jede sittlich gute beziehungsweise schlechte Tat eines Individuums nicht bloß Lob und Belohnung beziehungsweise Tadel und Strafe eines oder einiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/280>, abgerufen am 27.09.2024.