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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der italienische Irredentismns

englische Flottenstützpunkt und Kriegshafen im Mittelmeer, von einer italienisch
redenden Bevölkerung bewohnt werden, daß auch sie folglich der Erlösung
harren, hat man in dem ungestümen Verlangen nach der gegenüberliegenden
Küste fast vollständig vergessen, und die Jrredentisten haben nur selten daran
gedacht, auch die Gewinnung dieser Gebiete in ihr Programm aufzunehmen.
Recht dem Charakter der Südländer entsprechend ist so die politische Agitation
des Jrredentismus, diese Entartung und dieser Auswuchs jenes gesunden
nationalen Strebens, das einst die Italia unita geschaffen, gefühlsmäßig und
romantisch zugleich. Der alte Haß gegen ein Land, von dem man einst
Schlimmes erduldet, erstickt alle kühlen und praktischen Erwägungen der Ver¬
nunft.

Zudem aber sieht es auch mit dem historischen Recht, das Italien auf
die österreichischen Gebiete Südtirols und Jftriens hat, recht windig und fraglich
aus. "Mit Ausnahme weniger Jahre" so weist Fischer in seinem Buch .Italien
und die Italiener' nach, "während deren Südtirol dem von Napoleon errichteten
und von ihm beherrschten Königreich Italien einverleibt gewesen ist, hat der
italienisch redende Teil von Tirol niemals in irgend welchem politischen Verbände
zu Italien gestanden. Die Fürstbischöfe von Brixen und Trient sind bis zum
Eindringen der Franzosen deutsche Reichsstände gewesen. Die Grenze, welche
in Südtirol zwischen Österreich und Italien besteht, ist dieselbe, welche seit
Jahrhunderten das Gebiet der Republik Venedig von dem deutschen Reiche
getrennt hat. Übrigens fällt jener uralte politische Grenzzug auch mit der
natürlichen Grenze überein. Denn diese folgt nicht dem Hauptkamme der
Alpen, der durch die tiefen, von Norden her bequem zugänglichen Einschaltungen
des Neschenscheidecks und des Brenners unterbrochen ist, sondern sie wird durch
die hohen, gegen die Täter der Lombardei und Venetiens scharf abfallenden
Bergzüge gebildet, welche das obere und mittlere Etschtal im Westen und im
Osten umgeben und sich gegen Süden keilförmig zu dem alten Tor von Italien,
dem Engpaß der Veroneser Klause, zuspitzen. Innerhalb dieses Dreiecks, das
immer zu Deutschland gehört hat, das den Schauplatz uralter deutscher Volks-
sagen bildet, und das im Mittelalter eine Heimat des besten deutschen Minne¬
sanges gewesen ist, befindet sich seit dem sechzehnten Jahrhundert das italienische
Idiom zwar im Vordringen, allein es hat selbst im Süden, dem Trientinischen.
keineswegs die Alleinherrschaft erlangt. Denn sowohl westlich der Etsch, im
Nonsberger und im Sulsberger Tal, als auch namentlich in den Bergtälern im
Osten der Etsch haben sich zahlreiche deutsch gebliebene Gemeinden erhalten.
Der Norden nun gar, der doch auch jenseits des Hauptkammes der Alpen
liegt, ist bis über den Bozener Boden hinaus ganz und gar deutsch. Von
einem Rechtstitel, auf Grund dessen Österreich zur Abtretung von Südtirol an
Italien angehalten werden könnte, liegt nicht eine Spur vor. Auf Jstrien und
an der Küste von Dalmatien haben die Venezianer Besitzungen gehabt, aber
Kraft Eroberungsrechtes auf nicht italienischem Boden und unter einer fremd-


Der italienische Irredentismns

englische Flottenstützpunkt und Kriegshafen im Mittelmeer, von einer italienisch
redenden Bevölkerung bewohnt werden, daß auch sie folglich der Erlösung
harren, hat man in dem ungestümen Verlangen nach der gegenüberliegenden
Küste fast vollständig vergessen, und die Jrredentisten haben nur selten daran
gedacht, auch die Gewinnung dieser Gebiete in ihr Programm aufzunehmen.
Recht dem Charakter der Südländer entsprechend ist so die politische Agitation
des Jrredentismus, diese Entartung und dieser Auswuchs jenes gesunden
nationalen Strebens, das einst die Italia unita geschaffen, gefühlsmäßig und
romantisch zugleich. Der alte Haß gegen ein Land, von dem man einst
Schlimmes erduldet, erstickt alle kühlen und praktischen Erwägungen der Ver¬
nunft.

Zudem aber sieht es auch mit dem historischen Recht, das Italien auf
die österreichischen Gebiete Südtirols und Jftriens hat, recht windig und fraglich
aus. „Mit Ausnahme weniger Jahre" so weist Fischer in seinem Buch .Italien
und die Italiener' nach, „während deren Südtirol dem von Napoleon errichteten
und von ihm beherrschten Königreich Italien einverleibt gewesen ist, hat der
italienisch redende Teil von Tirol niemals in irgend welchem politischen Verbände
zu Italien gestanden. Die Fürstbischöfe von Brixen und Trient sind bis zum
Eindringen der Franzosen deutsche Reichsstände gewesen. Die Grenze, welche
in Südtirol zwischen Österreich und Italien besteht, ist dieselbe, welche seit
Jahrhunderten das Gebiet der Republik Venedig von dem deutschen Reiche
getrennt hat. Übrigens fällt jener uralte politische Grenzzug auch mit der
natürlichen Grenze überein. Denn diese folgt nicht dem Hauptkamme der
Alpen, der durch die tiefen, von Norden her bequem zugänglichen Einschaltungen
des Neschenscheidecks und des Brenners unterbrochen ist, sondern sie wird durch
die hohen, gegen die Täter der Lombardei und Venetiens scharf abfallenden
Bergzüge gebildet, welche das obere und mittlere Etschtal im Westen und im
Osten umgeben und sich gegen Süden keilförmig zu dem alten Tor von Italien,
dem Engpaß der Veroneser Klause, zuspitzen. Innerhalb dieses Dreiecks, das
immer zu Deutschland gehört hat, das den Schauplatz uralter deutscher Volks-
sagen bildet, und das im Mittelalter eine Heimat des besten deutschen Minne¬
sanges gewesen ist, befindet sich seit dem sechzehnten Jahrhundert das italienische
Idiom zwar im Vordringen, allein es hat selbst im Süden, dem Trientinischen.
keineswegs die Alleinherrschaft erlangt. Denn sowohl westlich der Etsch, im
Nonsberger und im Sulsberger Tal, als auch namentlich in den Bergtälern im
Osten der Etsch haben sich zahlreiche deutsch gebliebene Gemeinden erhalten.
Der Norden nun gar, der doch auch jenseits des Hauptkammes der Alpen
liegt, ist bis über den Bozener Boden hinaus ganz und gar deutsch. Von
einem Rechtstitel, auf Grund dessen Österreich zur Abtretung von Südtirol an
Italien angehalten werden könnte, liegt nicht eine Spur vor. Auf Jstrien und
an der Küste von Dalmatien haben die Venezianer Besitzungen gehabt, aber
Kraft Eroberungsrechtes auf nicht italienischem Boden und unter einer fremd-


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[0273] Der italienische Irredentismns englische Flottenstützpunkt und Kriegshafen im Mittelmeer, von einer italienisch redenden Bevölkerung bewohnt werden, daß auch sie folglich der Erlösung harren, hat man in dem ungestümen Verlangen nach der gegenüberliegenden Küste fast vollständig vergessen, und die Jrredentisten haben nur selten daran gedacht, auch die Gewinnung dieser Gebiete in ihr Programm aufzunehmen. Recht dem Charakter der Südländer entsprechend ist so die politische Agitation des Jrredentismus, diese Entartung und dieser Auswuchs jenes gesunden nationalen Strebens, das einst die Italia unita geschaffen, gefühlsmäßig und romantisch zugleich. Der alte Haß gegen ein Land, von dem man einst Schlimmes erduldet, erstickt alle kühlen und praktischen Erwägungen der Ver¬ nunft. Zudem aber sieht es auch mit dem historischen Recht, das Italien auf die österreichischen Gebiete Südtirols und Jftriens hat, recht windig und fraglich aus. „Mit Ausnahme weniger Jahre" so weist Fischer in seinem Buch .Italien und die Italiener' nach, „während deren Südtirol dem von Napoleon errichteten und von ihm beherrschten Königreich Italien einverleibt gewesen ist, hat der italienisch redende Teil von Tirol niemals in irgend welchem politischen Verbände zu Italien gestanden. Die Fürstbischöfe von Brixen und Trient sind bis zum Eindringen der Franzosen deutsche Reichsstände gewesen. Die Grenze, welche in Südtirol zwischen Österreich und Italien besteht, ist dieselbe, welche seit Jahrhunderten das Gebiet der Republik Venedig von dem deutschen Reiche getrennt hat. Übrigens fällt jener uralte politische Grenzzug auch mit der natürlichen Grenze überein. Denn diese folgt nicht dem Hauptkamme der Alpen, der durch die tiefen, von Norden her bequem zugänglichen Einschaltungen des Neschenscheidecks und des Brenners unterbrochen ist, sondern sie wird durch die hohen, gegen die Täter der Lombardei und Venetiens scharf abfallenden Bergzüge gebildet, welche das obere und mittlere Etschtal im Westen und im Osten umgeben und sich gegen Süden keilförmig zu dem alten Tor von Italien, dem Engpaß der Veroneser Klause, zuspitzen. Innerhalb dieses Dreiecks, das immer zu Deutschland gehört hat, das den Schauplatz uralter deutscher Volks- sagen bildet, und das im Mittelalter eine Heimat des besten deutschen Minne¬ sanges gewesen ist, befindet sich seit dem sechzehnten Jahrhundert das italienische Idiom zwar im Vordringen, allein es hat selbst im Süden, dem Trientinischen. keineswegs die Alleinherrschaft erlangt. Denn sowohl westlich der Etsch, im Nonsberger und im Sulsberger Tal, als auch namentlich in den Bergtälern im Osten der Etsch haben sich zahlreiche deutsch gebliebene Gemeinden erhalten. Der Norden nun gar, der doch auch jenseits des Hauptkammes der Alpen liegt, ist bis über den Bozener Boden hinaus ganz und gar deutsch. Von einem Rechtstitel, auf Grund dessen Österreich zur Abtretung von Südtirol an Italien angehalten werden könnte, liegt nicht eine Spur vor. Auf Jstrien und an der Küste von Dalmatien haben die Venezianer Besitzungen gehabt, aber Kraft Eroberungsrechtes auf nicht italienischem Boden und unter einer fremd-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/273>, abgerufen am 27.09.2024.