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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Der italienische Jrredentismus

Und war es da ein Wunder, daß man damals Frankreich zujubelte, als
es zum zweitenmal diesem unhaltbaren Zustand ein Ende machte, als Napoleon
der Dritte mit seinen Truppen die Tyrannen verjagte, als er die österreichische
Herrschaft in Italien brach?

Wir von heute freilich wissen, daß es nur eine Pose war, die Napoleon
dazu trieb, den Freiheitsapostel der Völker zu spielen, daß er die Verbindung mit
den Umstürzlern, in deren Reihen er seine Jugend verbracht hatte, nicht aufgeben
konnte, wollte er nicht sein eigenes Leben wagen, daß er vor allem seine Hilfe
sich teuer genug bezahlen ließ. Dennoch haben die Italiener damals und noch
heute sich mit diesem Opfer abgefunden, das Cavour einst das grausamste und
schwerste seines Lebens genannt; sie haben sich damit abgefunden, daß sie das
Stammland ihres nationalen Königsgeschlechtes, das Land, das so eng verwachsen
war mit seiner Dynastie, deren Kriege es geschlagen, deren Größe es erkämpft
hatte, daß sie die Heimat ihres großen Helden Garibaldi haben preisgeben
müssen. Und die sonst so scharfen und Klugen haben ohne Widerspruch sich
von den Franzosen belehren lassen, daß Nizza und Savoyen eben zu Frankreich
gehörten, weil die Sprache der Savoyarden dem französischen verwandter sei
als dem italienischen, weil die Länder auf der französischen Seite der Alpen
lägen, weil sie -- ein wichtiger Grund -- nicht erst wie das übrige Piemont
1802, sondern schon 1792 von Frankreich annektiert worden feien!

Auch das großartige Versprechen, das er damals gegeben, Italien müsse
bis zur Adria frei werden, hat Napoleon nicht halten können. Erst das Bündnis
mit Preußen gegen Österreich 1866, dieses Bündnis, das, wie Viktor Hugo
einmal sagte, durch einen Schrei der Natur gefordert sei, hat Italien trotz all
seiner schweren Niederlagen zu Wasser und zu Lande durch Preußens Erfolge
das heißbegehrte Venetien gebracht. Und erst die deutschen Siege von 1870
verschafften ihm die Hauptstadt seines Landes, seine schöne, stolze, ewige, auf
sieben Hügeln thronende Stadt am Tiber.

Dennoch aber hat man den Deutschen diese Liebesdienste nicht allzulange
gedankt, während man es Frankreich bis heute nicht vergessen hat, daß seine
Regimenter es waren, die die Siege von Magenta und Solferino davon¬
tragen halfen.

So ist es denn gekommen, daß die italienischen Jrredentisten, die die
Erlösung der unter fremdem Joche stehenden italienischen Gebiete verlangen,
die Einverleibung der Länder, die nach Sprache, Sitte und Abstammung zu
Italien gehören, sich nicht oder nur selten gegen Frankreich richteten, während
eine weitschweifige Agitation nicht Mittel und Wege scheut, der Menge, die,
erregbar und nervös, so leicht zu beeinflussen ist in den südlichen Ländern, fort
und fort zu beweisen, daß die Befreiung und Einigung Italiens nicht eher
vollendet sei, als bis auch Jstrien und Welschtirol der österreichisch-ungarischen
Monarchie entrissen und mit der Apenninenhalbinsel verbunden wären. Daß
auch der Schweizerkanton Tessin, daß Korsika, daß Malta, dieser wichtige,


Der italienische Jrredentismus

Und war es da ein Wunder, daß man damals Frankreich zujubelte, als
es zum zweitenmal diesem unhaltbaren Zustand ein Ende machte, als Napoleon
der Dritte mit seinen Truppen die Tyrannen verjagte, als er die österreichische
Herrschaft in Italien brach?

Wir von heute freilich wissen, daß es nur eine Pose war, die Napoleon
dazu trieb, den Freiheitsapostel der Völker zu spielen, daß er die Verbindung mit
den Umstürzlern, in deren Reihen er seine Jugend verbracht hatte, nicht aufgeben
konnte, wollte er nicht sein eigenes Leben wagen, daß er vor allem seine Hilfe
sich teuer genug bezahlen ließ. Dennoch haben die Italiener damals und noch
heute sich mit diesem Opfer abgefunden, das Cavour einst das grausamste und
schwerste seines Lebens genannt; sie haben sich damit abgefunden, daß sie das
Stammland ihres nationalen Königsgeschlechtes, das Land, das so eng verwachsen
war mit seiner Dynastie, deren Kriege es geschlagen, deren Größe es erkämpft
hatte, daß sie die Heimat ihres großen Helden Garibaldi haben preisgeben
müssen. Und die sonst so scharfen und Klugen haben ohne Widerspruch sich
von den Franzosen belehren lassen, daß Nizza und Savoyen eben zu Frankreich
gehörten, weil die Sprache der Savoyarden dem französischen verwandter sei
als dem italienischen, weil die Länder auf der französischen Seite der Alpen
lägen, weil sie — ein wichtiger Grund — nicht erst wie das übrige Piemont
1802, sondern schon 1792 von Frankreich annektiert worden feien!

Auch das großartige Versprechen, das er damals gegeben, Italien müsse
bis zur Adria frei werden, hat Napoleon nicht halten können. Erst das Bündnis
mit Preußen gegen Österreich 1866, dieses Bündnis, das, wie Viktor Hugo
einmal sagte, durch einen Schrei der Natur gefordert sei, hat Italien trotz all
seiner schweren Niederlagen zu Wasser und zu Lande durch Preußens Erfolge
das heißbegehrte Venetien gebracht. Und erst die deutschen Siege von 1870
verschafften ihm die Hauptstadt seines Landes, seine schöne, stolze, ewige, auf
sieben Hügeln thronende Stadt am Tiber.

Dennoch aber hat man den Deutschen diese Liebesdienste nicht allzulange
gedankt, während man es Frankreich bis heute nicht vergessen hat, daß seine
Regimenter es waren, die die Siege von Magenta und Solferino davon¬
tragen halfen.

So ist es denn gekommen, daß die italienischen Jrredentisten, die die
Erlösung der unter fremdem Joche stehenden italienischen Gebiete verlangen,
die Einverleibung der Länder, die nach Sprache, Sitte und Abstammung zu
Italien gehören, sich nicht oder nur selten gegen Frankreich richteten, während
eine weitschweifige Agitation nicht Mittel und Wege scheut, der Menge, die,
erregbar und nervös, so leicht zu beeinflussen ist in den südlichen Ländern, fort
und fort zu beweisen, daß die Befreiung und Einigung Italiens nicht eher
vollendet sei, als bis auch Jstrien und Welschtirol der österreichisch-ungarischen
Monarchie entrissen und mit der Apenninenhalbinsel verbunden wären. Daß
auch der Schweizerkanton Tessin, daß Korsika, daß Malta, dieser wichtige,


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[0272] Der italienische Jrredentismus Und war es da ein Wunder, daß man damals Frankreich zujubelte, als es zum zweitenmal diesem unhaltbaren Zustand ein Ende machte, als Napoleon der Dritte mit seinen Truppen die Tyrannen verjagte, als er die österreichische Herrschaft in Italien brach? Wir von heute freilich wissen, daß es nur eine Pose war, die Napoleon dazu trieb, den Freiheitsapostel der Völker zu spielen, daß er die Verbindung mit den Umstürzlern, in deren Reihen er seine Jugend verbracht hatte, nicht aufgeben konnte, wollte er nicht sein eigenes Leben wagen, daß er vor allem seine Hilfe sich teuer genug bezahlen ließ. Dennoch haben die Italiener damals und noch heute sich mit diesem Opfer abgefunden, das Cavour einst das grausamste und schwerste seines Lebens genannt; sie haben sich damit abgefunden, daß sie das Stammland ihres nationalen Königsgeschlechtes, das Land, das so eng verwachsen war mit seiner Dynastie, deren Kriege es geschlagen, deren Größe es erkämpft hatte, daß sie die Heimat ihres großen Helden Garibaldi haben preisgeben müssen. Und die sonst so scharfen und Klugen haben ohne Widerspruch sich von den Franzosen belehren lassen, daß Nizza und Savoyen eben zu Frankreich gehörten, weil die Sprache der Savoyarden dem französischen verwandter sei als dem italienischen, weil die Länder auf der französischen Seite der Alpen lägen, weil sie — ein wichtiger Grund — nicht erst wie das übrige Piemont 1802, sondern schon 1792 von Frankreich annektiert worden feien! Auch das großartige Versprechen, das er damals gegeben, Italien müsse bis zur Adria frei werden, hat Napoleon nicht halten können. Erst das Bündnis mit Preußen gegen Österreich 1866, dieses Bündnis, das, wie Viktor Hugo einmal sagte, durch einen Schrei der Natur gefordert sei, hat Italien trotz all seiner schweren Niederlagen zu Wasser und zu Lande durch Preußens Erfolge das heißbegehrte Venetien gebracht. Und erst die deutschen Siege von 1870 verschafften ihm die Hauptstadt seines Landes, seine schöne, stolze, ewige, auf sieben Hügeln thronende Stadt am Tiber. Dennoch aber hat man den Deutschen diese Liebesdienste nicht allzulange gedankt, während man es Frankreich bis heute nicht vergessen hat, daß seine Regimenter es waren, die die Siege von Magenta und Solferino davon¬ tragen halfen. So ist es denn gekommen, daß die italienischen Jrredentisten, die die Erlösung der unter fremdem Joche stehenden italienischen Gebiete verlangen, die Einverleibung der Länder, die nach Sprache, Sitte und Abstammung zu Italien gehören, sich nicht oder nur selten gegen Frankreich richteten, während eine weitschweifige Agitation nicht Mittel und Wege scheut, der Menge, die, erregbar und nervös, so leicht zu beeinflussen ist in den südlichen Ländern, fort und fort zu beweisen, daß die Befreiung und Einigung Italiens nicht eher vollendet sei, als bis auch Jstrien und Welschtirol der österreichisch-ungarischen Monarchie entrissen und mit der Apenninenhalbinsel verbunden wären. Daß auch der Schweizerkanton Tessin, daß Korsika, daß Malta, dieser wichtige,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/272>, abgerufen am 27.09.2024.