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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

Beziehung, wenn diese auch bisher nicht gerade lebhaft zum Ausdruck gekommen
ist. Die Sprache der Letten ist eine jüngere Schwestersprache des Litauischen
und dürfte sich von dieser kaum in demselben Grade unterscheiden, wie etwa
das Holländische von dem Hochdeutschen. In der Geschichte sind die Letten
als Volk nie in besonderem Maße hervorgetreten. Um etwa 1200 eroberte der
Schwertbrüderorden die Sitze der Letten und Esthen und beherrschte sie bis zu
seiner Vereinigung mit dem deutschen Ritterorden (1237). Letzterer suchte durch
langjährige Kämpfe gegen die Litauer das zwischen Preußen und dem Lettlands
liegende Szamaitenland zu erobern, um ein zusammenhängendes Reich zu
schaffen. Nur für eine kurze Zeit (1404 bis 1409) konnte er sich des ungetrennten
Besitzes erfreuen. Die Reformation fand in Kur- und Livland (auch in Esth¬
land, das der Orden 1346 erobert hatte) freudige Aufnahme; auch gegenwärtig
bekennen über 80 Prozent der Bevölkerung den protestantischen Glauben. --
Die katholischen Letten, 300000 an der Zahl, haben ihre Sitze vornehmlich
im Gouvernement Witebsk. -- Später verfiel die Macht des Ordens. Esthland
sagte sich von ihm los und stellte sich unter Schwedens Oberhoheit; Livland
wurde mit Polen-Litauen vereinigt und Kurland geriet 1561 in Abhängigkeit
von Polen, bis es sich 1795 an Rußland anschloß.

Die Letten haben sich unter der Fürsorge des deutschen Adels und der
deutschen Intelligenz in Stadt und Land, insbesondere der Geistlichkeit, zu einer
beträchtlichen Kulturstufe emporgearbeitet, so daß sie in der letzten Zeit sogar
in einen für ihre Lehrmeister fast gefährlichen wirtschaftlichen und nationalen
Wettbewerb mit diesen getreten sind. Dieser Kampf hat insofern für die Letten
viel Aussicht aus Erhaltung und Stärkung ihrer Nationalität, als sie numerisch
den Deutschen weit überlegen sind. Zählt man doch in Kurland (bei einem
Flächeninhalt von 27286 Quadratkilometern) unter 674000 Einwohnern
75 Prozent Letten und nur 8 Prozent Deutsche (meist Bürger und Guts¬
besitzer) und in Livland (47000 Quadratkilometer) unter 1300000 Bewohnern
43 Prozent Letten und ebenfalls nur 8 Prozent Deutsche. Auch in den
Städten, die bisher vorwiegend deutsch waren, ist das lettische Element so stark
geworden, daß es bei den Wahlen der städtischen Körperschaften bereits sein
Gewicht kräftig in die Wagschale zu legen vermag. Unter fernerer russischer
Herrschaft dürfte die Bedeutung des Deutschtums in den baltischen Gebieten
immer mehr schwinden. Hat doch Rußland seit vielen Jahrzehnten
die Russifizierung des Baltenlandes, trotz des notorischen Einflusses des baltischen
Adels in Petersburg, energisch und nicht ohne Erfolg betrieben. Anderseits
würde eine mit starker Hand betriebene Germanisierung der Letten, wie von
manchen naiv denkenden Leuten empfohlen wird, wenig Erfolg zeitigen, weil
die Letten national und wirtschaftlich bereits zu sehr erstarkt sind. Von einer
Verdeutschung der Letten in fünfzig Jahren, was unlängst in der "Ostpreußischen
Zeitung" als möglich hinstellt wurde, kann keine Rede sein. Ein solches Beginnen
würde gewaltige finanzielle und moralische Opfer fordern, die ein etwaiger


Die litauisch-baltische Frage

Beziehung, wenn diese auch bisher nicht gerade lebhaft zum Ausdruck gekommen
ist. Die Sprache der Letten ist eine jüngere Schwestersprache des Litauischen
und dürfte sich von dieser kaum in demselben Grade unterscheiden, wie etwa
das Holländische von dem Hochdeutschen. In der Geschichte sind die Letten
als Volk nie in besonderem Maße hervorgetreten. Um etwa 1200 eroberte der
Schwertbrüderorden die Sitze der Letten und Esthen und beherrschte sie bis zu
seiner Vereinigung mit dem deutschen Ritterorden (1237). Letzterer suchte durch
langjährige Kämpfe gegen die Litauer das zwischen Preußen und dem Lettlands
liegende Szamaitenland zu erobern, um ein zusammenhängendes Reich zu
schaffen. Nur für eine kurze Zeit (1404 bis 1409) konnte er sich des ungetrennten
Besitzes erfreuen. Die Reformation fand in Kur- und Livland (auch in Esth¬
land, das der Orden 1346 erobert hatte) freudige Aufnahme; auch gegenwärtig
bekennen über 80 Prozent der Bevölkerung den protestantischen Glauben. —
Die katholischen Letten, 300000 an der Zahl, haben ihre Sitze vornehmlich
im Gouvernement Witebsk. — Später verfiel die Macht des Ordens. Esthland
sagte sich von ihm los und stellte sich unter Schwedens Oberhoheit; Livland
wurde mit Polen-Litauen vereinigt und Kurland geriet 1561 in Abhängigkeit
von Polen, bis es sich 1795 an Rußland anschloß.

Die Letten haben sich unter der Fürsorge des deutschen Adels und der
deutschen Intelligenz in Stadt und Land, insbesondere der Geistlichkeit, zu einer
beträchtlichen Kulturstufe emporgearbeitet, so daß sie in der letzten Zeit sogar
in einen für ihre Lehrmeister fast gefährlichen wirtschaftlichen und nationalen
Wettbewerb mit diesen getreten sind. Dieser Kampf hat insofern für die Letten
viel Aussicht aus Erhaltung und Stärkung ihrer Nationalität, als sie numerisch
den Deutschen weit überlegen sind. Zählt man doch in Kurland (bei einem
Flächeninhalt von 27286 Quadratkilometern) unter 674000 Einwohnern
75 Prozent Letten und nur 8 Prozent Deutsche (meist Bürger und Guts¬
besitzer) und in Livland (47000 Quadratkilometer) unter 1300000 Bewohnern
43 Prozent Letten und ebenfalls nur 8 Prozent Deutsche. Auch in den
Städten, die bisher vorwiegend deutsch waren, ist das lettische Element so stark
geworden, daß es bei den Wahlen der städtischen Körperschaften bereits sein
Gewicht kräftig in die Wagschale zu legen vermag. Unter fernerer russischer
Herrschaft dürfte die Bedeutung des Deutschtums in den baltischen Gebieten
immer mehr schwinden. Hat doch Rußland seit vielen Jahrzehnten
die Russifizierung des Baltenlandes, trotz des notorischen Einflusses des baltischen
Adels in Petersburg, energisch und nicht ohne Erfolg betrieben. Anderseits
würde eine mit starker Hand betriebene Germanisierung der Letten, wie von
manchen naiv denkenden Leuten empfohlen wird, wenig Erfolg zeitigen, weil
die Letten national und wirtschaftlich bereits zu sehr erstarkt sind. Von einer
Verdeutschung der Letten in fünfzig Jahren, was unlängst in der „Ostpreußischen
Zeitung" als möglich hinstellt wurde, kann keine Rede sein. Ein solches Beginnen
würde gewaltige finanzielle und moralische Opfer fordern, die ein etwaiger


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[0247] Die litauisch-baltische Frage Beziehung, wenn diese auch bisher nicht gerade lebhaft zum Ausdruck gekommen ist. Die Sprache der Letten ist eine jüngere Schwestersprache des Litauischen und dürfte sich von dieser kaum in demselben Grade unterscheiden, wie etwa das Holländische von dem Hochdeutschen. In der Geschichte sind die Letten als Volk nie in besonderem Maße hervorgetreten. Um etwa 1200 eroberte der Schwertbrüderorden die Sitze der Letten und Esthen und beherrschte sie bis zu seiner Vereinigung mit dem deutschen Ritterorden (1237). Letzterer suchte durch langjährige Kämpfe gegen die Litauer das zwischen Preußen und dem Lettlands liegende Szamaitenland zu erobern, um ein zusammenhängendes Reich zu schaffen. Nur für eine kurze Zeit (1404 bis 1409) konnte er sich des ungetrennten Besitzes erfreuen. Die Reformation fand in Kur- und Livland (auch in Esth¬ land, das der Orden 1346 erobert hatte) freudige Aufnahme; auch gegenwärtig bekennen über 80 Prozent der Bevölkerung den protestantischen Glauben. — Die katholischen Letten, 300000 an der Zahl, haben ihre Sitze vornehmlich im Gouvernement Witebsk. — Später verfiel die Macht des Ordens. Esthland sagte sich von ihm los und stellte sich unter Schwedens Oberhoheit; Livland wurde mit Polen-Litauen vereinigt und Kurland geriet 1561 in Abhängigkeit von Polen, bis es sich 1795 an Rußland anschloß. Die Letten haben sich unter der Fürsorge des deutschen Adels und der deutschen Intelligenz in Stadt und Land, insbesondere der Geistlichkeit, zu einer beträchtlichen Kulturstufe emporgearbeitet, so daß sie in der letzten Zeit sogar in einen für ihre Lehrmeister fast gefährlichen wirtschaftlichen und nationalen Wettbewerb mit diesen getreten sind. Dieser Kampf hat insofern für die Letten viel Aussicht aus Erhaltung und Stärkung ihrer Nationalität, als sie numerisch den Deutschen weit überlegen sind. Zählt man doch in Kurland (bei einem Flächeninhalt von 27286 Quadratkilometern) unter 674000 Einwohnern 75 Prozent Letten und nur 8 Prozent Deutsche (meist Bürger und Guts¬ besitzer) und in Livland (47000 Quadratkilometer) unter 1300000 Bewohnern 43 Prozent Letten und ebenfalls nur 8 Prozent Deutsche. Auch in den Städten, die bisher vorwiegend deutsch waren, ist das lettische Element so stark geworden, daß es bei den Wahlen der städtischen Körperschaften bereits sein Gewicht kräftig in die Wagschale zu legen vermag. Unter fernerer russischer Herrschaft dürfte die Bedeutung des Deutschtums in den baltischen Gebieten immer mehr schwinden. Hat doch Rußland seit vielen Jahrzehnten die Russifizierung des Baltenlandes, trotz des notorischen Einflusses des baltischen Adels in Petersburg, energisch und nicht ohne Erfolg betrieben. Anderseits würde eine mit starker Hand betriebene Germanisierung der Letten, wie von manchen naiv denkenden Leuten empfohlen wird, wenig Erfolg zeitigen, weil die Letten national und wirtschaftlich bereits zu sehr erstarkt sind. Von einer Verdeutschung der Letten in fünfzig Jahren, was unlängst in der „Ostpreußischen Zeitung" als möglich hinstellt wurde, kann keine Rede sein. Ein solches Beginnen würde gewaltige finanzielle und moralische Opfer fordern, die ein etwaiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/247>, abgerufen am 27.09.2024.