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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Die litauisch-baltische Frage

aus jahrein seine Kräfte zu stählen, seine Kriegsbereitschaft zu stärken suchen,
um uns bei Gelegenheit den Todesstreich zu versetzen. Das ist nicht im
mindesten zu bezweifeln. Und welch gewaltige, ja unerschöpfliche Hilfsmittel
Rußland an Menschenmaterial, an Bodenschätzen und anderem mehr besitzt, ist
zur Genüge bekannt. Ein Jahrzehnte hindurch kriegerisch gegen uns vorbereitetes
Rußland würde uns ein viel gewaltigerer und furchtbarerer Gegner sein, als
es jetzt ist.

Dürfen mir es nun im Hinblick auf diese früher oder später unzweifelhaft
eintretenden Ereignisse zugeben, daß Rußland territorial und national un¬
geschwächt bleibt? Das wäre fast politischer Selbstmord, geradezu unverzeihlich,
im höchsten Grade unvernünftig. Diese Empfindung hat unser Volk in seiner
großen Masse: wir müssen Rußland schwächen, um vor ihm sicher zu sein.
Wir müssen größere Gebiete seinem Machtbereich entziehen und so ihm die
Möglichkeit nehmen, uns in absehbarer Zeit verderblich zu werden. Wir müssen
zu verhüten suchen, daß unser Volk wiederum Ströme edeln und edelsten Blutes
vergießt und sich selbst an dem Teuersten, was es besitzt, schädigt.

Diese unabweisbare Forderung zu erfüllen wäre schwieriger, wenn Nußland
ein Nationalstaat wäre, wenn alle seine Bewohner wirkliche Russen, also durch
Bande der Abstammung und Sprache untrennbar verbunden wären. Nun
reichen aber die Sitze der eigentlichen Großrussen an keiner Stelle bis zur
deutschen Grenze. Die einzigen an unserer Grenze in Nußland wohnenden
Völkerschaften sind die Polen und Litauer. Ostlich von diesen hüben zunächst
die Weißrussen und die Kleinrussen oder Nuthenen ihre Sitze und erst hinter
Smolensk, von der Linie Miasma bis zur Pripetmündung ab östlich, also unfern
vor Moskau, beginnt das Gebiet der Großrussen. Die Weißrussen, deren Gebiet
innerhalb der Linien Bjelostok. Augustowo, Grodno, Wilna, Dünaburg, Luznn,
Wiasma, Pripetmündung und Pinsk liegt, und die Kleinrussen, die ihre Sitze
in Teilen der Gouvernements Grodno und Minsk, in Wolynien, Podolien und
weiter haben, sind, wie der Name besagt, allerdings auch Russen, jedoch in
der Sprache dialektisch nicht unbeträchtlich verschieden und beseelt von dem
Streben, national neben den Großrussen sich zu betätigen.

Wenn nun Teile vom russischen Reich abgetrennt werden sollten, so müßte
es sich hierbei wegen der geographischen Lage zunächst um die von den Polen
und Litauern, als den uns benachbarten Völkerschaften, bewohnten Gebiete
handeln. Die Polen, die gegenwärtig in Rußland etwa 8 Millionen zählen und
deren Gebiet 127 312 Quadratkilometer umfaßt, haben in der Geschichte der
Völker Europas jahrhundertelang eine bedeutende Rolle gespielt, sind dann aber
infolge einer unpraktischen Staatsverfassung, Bestechlichkeit der Adelsparteien
und innerer Uneinigkeit eine Beute der benachbarten Reiche geworden. Bei der
dreimaligen Teilung Polens hat Preußen zunächst (1773) ganz Polnisch-Preußen
mit Ausnahme von Danzig und Thorn erhalten, dann (1793) sind ihm die
Wojewodschaften Posen, Gnesen, Kalisch und andere Landschaften von Groß-


Die litauisch-baltische Frage

aus jahrein seine Kräfte zu stählen, seine Kriegsbereitschaft zu stärken suchen,
um uns bei Gelegenheit den Todesstreich zu versetzen. Das ist nicht im
mindesten zu bezweifeln. Und welch gewaltige, ja unerschöpfliche Hilfsmittel
Rußland an Menschenmaterial, an Bodenschätzen und anderem mehr besitzt, ist
zur Genüge bekannt. Ein Jahrzehnte hindurch kriegerisch gegen uns vorbereitetes
Rußland würde uns ein viel gewaltigerer und furchtbarerer Gegner sein, als
es jetzt ist.

Dürfen mir es nun im Hinblick auf diese früher oder später unzweifelhaft
eintretenden Ereignisse zugeben, daß Rußland territorial und national un¬
geschwächt bleibt? Das wäre fast politischer Selbstmord, geradezu unverzeihlich,
im höchsten Grade unvernünftig. Diese Empfindung hat unser Volk in seiner
großen Masse: wir müssen Rußland schwächen, um vor ihm sicher zu sein.
Wir müssen größere Gebiete seinem Machtbereich entziehen und so ihm die
Möglichkeit nehmen, uns in absehbarer Zeit verderblich zu werden. Wir müssen
zu verhüten suchen, daß unser Volk wiederum Ströme edeln und edelsten Blutes
vergießt und sich selbst an dem Teuersten, was es besitzt, schädigt.

Diese unabweisbare Forderung zu erfüllen wäre schwieriger, wenn Nußland
ein Nationalstaat wäre, wenn alle seine Bewohner wirkliche Russen, also durch
Bande der Abstammung und Sprache untrennbar verbunden wären. Nun
reichen aber die Sitze der eigentlichen Großrussen an keiner Stelle bis zur
deutschen Grenze. Die einzigen an unserer Grenze in Nußland wohnenden
Völkerschaften sind die Polen und Litauer. Ostlich von diesen hüben zunächst
die Weißrussen und die Kleinrussen oder Nuthenen ihre Sitze und erst hinter
Smolensk, von der Linie Miasma bis zur Pripetmündung ab östlich, also unfern
vor Moskau, beginnt das Gebiet der Großrussen. Die Weißrussen, deren Gebiet
innerhalb der Linien Bjelostok. Augustowo, Grodno, Wilna, Dünaburg, Luznn,
Wiasma, Pripetmündung und Pinsk liegt, und die Kleinrussen, die ihre Sitze
in Teilen der Gouvernements Grodno und Minsk, in Wolynien, Podolien und
weiter haben, sind, wie der Name besagt, allerdings auch Russen, jedoch in
der Sprache dialektisch nicht unbeträchtlich verschieden und beseelt von dem
Streben, national neben den Großrussen sich zu betätigen.

Wenn nun Teile vom russischen Reich abgetrennt werden sollten, so müßte
es sich hierbei wegen der geographischen Lage zunächst um die von den Polen
und Litauern, als den uns benachbarten Völkerschaften, bewohnten Gebiete
handeln. Die Polen, die gegenwärtig in Rußland etwa 8 Millionen zählen und
deren Gebiet 127 312 Quadratkilometer umfaßt, haben in der Geschichte der
Völker Europas jahrhundertelang eine bedeutende Rolle gespielt, sind dann aber
infolge einer unpraktischen Staatsverfassung, Bestechlichkeit der Adelsparteien
und innerer Uneinigkeit eine Beute der benachbarten Reiche geworden. Bei der
dreimaligen Teilung Polens hat Preußen zunächst (1773) ganz Polnisch-Preußen
mit Ausnahme von Danzig und Thorn erhalten, dann (1793) sind ihm die
Wojewodschaften Posen, Gnesen, Kalisch und andere Landschaften von Groß-


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[0218] Die litauisch-baltische Frage aus jahrein seine Kräfte zu stählen, seine Kriegsbereitschaft zu stärken suchen, um uns bei Gelegenheit den Todesstreich zu versetzen. Das ist nicht im mindesten zu bezweifeln. Und welch gewaltige, ja unerschöpfliche Hilfsmittel Rußland an Menschenmaterial, an Bodenschätzen und anderem mehr besitzt, ist zur Genüge bekannt. Ein Jahrzehnte hindurch kriegerisch gegen uns vorbereitetes Rußland würde uns ein viel gewaltigerer und furchtbarerer Gegner sein, als es jetzt ist. Dürfen mir es nun im Hinblick auf diese früher oder später unzweifelhaft eintretenden Ereignisse zugeben, daß Rußland territorial und national un¬ geschwächt bleibt? Das wäre fast politischer Selbstmord, geradezu unverzeihlich, im höchsten Grade unvernünftig. Diese Empfindung hat unser Volk in seiner großen Masse: wir müssen Rußland schwächen, um vor ihm sicher zu sein. Wir müssen größere Gebiete seinem Machtbereich entziehen und so ihm die Möglichkeit nehmen, uns in absehbarer Zeit verderblich zu werden. Wir müssen zu verhüten suchen, daß unser Volk wiederum Ströme edeln und edelsten Blutes vergießt und sich selbst an dem Teuersten, was es besitzt, schädigt. Diese unabweisbare Forderung zu erfüllen wäre schwieriger, wenn Nußland ein Nationalstaat wäre, wenn alle seine Bewohner wirkliche Russen, also durch Bande der Abstammung und Sprache untrennbar verbunden wären. Nun reichen aber die Sitze der eigentlichen Großrussen an keiner Stelle bis zur deutschen Grenze. Die einzigen an unserer Grenze in Nußland wohnenden Völkerschaften sind die Polen und Litauer. Ostlich von diesen hüben zunächst die Weißrussen und die Kleinrussen oder Nuthenen ihre Sitze und erst hinter Smolensk, von der Linie Miasma bis zur Pripetmündung ab östlich, also unfern vor Moskau, beginnt das Gebiet der Großrussen. Die Weißrussen, deren Gebiet innerhalb der Linien Bjelostok. Augustowo, Grodno, Wilna, Dünaburg, Luznn, Wiasma, Pripetmündung und Pinsk liegt, und die Kleinrussen, die ihre Sitze in Teilen der Gouvernements Grodno und Minsk, in Wolynien, Podolien und weiter haben, sind, wie der Name besagt, allerdings auch Russen, jedoch in der Sprache dialektisch nicht unbeträchtlich verschieden und beseelt von dem Streben, national neben den Großrussen sich zu betätigen. Wenn nun Teile vom russischen Reich abgetrennt werden sollten, so müßte es sich hierbei wegen der geographischen Lage zunächst um die von den Polen und Litauern, als den uns benachbarten Völkerschaften, bewohnten Gebiete handeln. Die Polen, die gegenwärtig in Rußland etwa 8 Millionen zählen und deren Gebiet 127 312 Quadratkilometer umfaßt, haben in der Geschichte der Völker Europas jahrhundertelang eine bedeutende Rolle gespielt, sind dann aber infolge einer unpraktischen Staatsverfassung, Bestechlichkeit der Adelsparteien und innerer Uneinigkeit eine Beute der benachbarten Reiche geworden. Bei der dreimaligen Teilung Polens hat Preußen zunächst (1773) ganz Polnisch-Preußen mit Ausnahme von Danzig und Thorn erhalten, dann (1793) sind ihm die Wojewodschaften Posen, Gnesen, Kalisch und andere Landschaften von Groß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/218>, abgerufen am 20.10.2024.