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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität 5370

Unabhängigkeit verletzt würde. Die englische Presse stellte den Vertragsentwurf
als eine Beleidigung Englands, des Beschützers der belgischen Neutralität, hin.

Am 1. August ergriff Disraelc zum zweiten Male das Wort im Unterhause
und forderte die Regierung zur bewaffneten Neutralität auf; denn auf keinen
Fall dürfe sich eine starke Militärmacht England gegenüber an der europäischen
Küste zwischen Dünkirchen, Ostende und den Nordseeinseln festsetzen. Gladstone
lehnte die Forderung Disraelis ab und überließ es Granville, das Oberhaus
zu beruhigen durch die Versicherung, daß er in der Zwischenzeit nicht untätig
gewesen sei, und durch das Versprechen, sobald als möglich den Vertretern des
englischen Volkes die Ergebnisse seiner diplomatischen Maßnahmen mitzuteilen.

Die englische Regierung hatte sich inzwischen offiziell am 30. Juli an die
französische gewandt. Sie hatte dieser ihr Bedauern ausgesprochen, daß befreundete
Mächte jemals daran gedacht hätten, die Neutralität eines Staates anzutasten,
dessen Verteidigung mit der Ehre und dem Interesse Englands eng verbunden
sei. Ein klarer Bericht über die Verhandlungen mit Preußen sei jetzt eine Pflicht
für die französische Regierung, da die kurzen Bemerkungen im Journal officiel
als zu allgemein und dürftig zu beurteilen wären. Angesichts dieser Enthüllungen
betrachte es nun die englische Regierung als ihre Pflicht, die Garantie der
Neutralität Belgiens für den augenblicklichen Krieg und für einige Zeit danach
zu kräftigen.

England schlägt daher Frankreich und Preußen vor, getrennt voneinander
mit ihm einen Vertrag oder ein Protokoll zu unterzeichnen, das auf dem be¬
treffenden Artikel des Vertrages von 1839 fußen und Englands bewaffnetes
Eingreifen bestimmen sollte, wenn eine der beiden kriegführenden Mächte die
Neutralität Belgiens verletzen würde. Die militärischen Operationen Englands
sollten sich innerhalb der belgischen Grenzen vollziehen. Ferner wünschte Eng¬
land, daß dieser Vertrag noch zwölf Monate nach einem Friedensschluß in Geltung
bliebe, damit eine ruhige Ausführung der einzelnen Friedensartikel gesichert
wäre. Dann sollte die Garantie der Neutralität Belgiens wieder allein auf
dem Artikel des Vertrages von 1839 beruhen. Granville fügte diesem Vor¬
schlag einige Tage später noch Erläuterungen hinzu, die besagten, daß vor allen
Dingen keine der durch den Vertrag verpflichteten Parteien eine belgische Festung
ohne vorherige Vereinbarung mit der anderen besetzen dürfe, um mit dieser
Bestimmung den Moment für ein Eingreifen Englands etwas zu fixieren.

Ehe Bismarck den Wortlaut des englischen Projektes kannte, erteilte er
telegraphisch seine Zustimmung zu jeglicher Maßnahme, die die Neutralität
Belgiens stärken würde. Die übrigen Signatarmächte schlössen sich ohne weiteres
dem englischen Vorschlag an. Belgien, das Englands Fürsorge später als
Preußen und Frankreich erfuhr, konnte weiter nichts mehr tun, als seine Dank¬
barkeit aussprechen. Frankreich versuchte zwar, den Passus über die Geltung
des Vertrages nach einem Friedensschluß zurückzuweisen. Die englische Regierung
aber hatte Bismarcks uneingeschränkte Zusage in Händen und ging auf die


Belgiens Neutralität 5370

Unabhängigkeit verletzt würde. Die englische Presse stellte den Vertragsentwurf
als eine Beleidigung Englands, des Beschützers der belgischen Neutralität, hin.

Am 1. August ergriff Disraelc zum zweiten Male das Wort im Unterhause
und forderte die Regierung zur bewaffneten Neutralität auf; denn auf keinen
Fall dürfe sich eine starke Militärmacht England gegenüber an der europäischen
Küste zwischen Dünkirchen, Ostende und den Nordseeinseln festsetzen. Gladstone
lehnte die Forderung Disraelis ab und überließ es Granville, das Oberhaus
zu beruhigen durch die Versicherung, daß er in der Zwischenzeit nicht untätig
gewesen sei, und durch das Versprechen, sobald als möglich den Vertretern des
englischen Volkes die Ergebnisse seiner diplomatischen Maßnahmen mitzuteilen.

Die englische Regierung hatte sich inzwischen offiziell am 30. Juli an die
französische gewandt. Sie hatte dieser ihr Bedauern ausgesprochen, daß befreundete
Mächte jemals daran gedacht hätten, die Neutralität eines Staates anzutasten,
dessen Verteidigung mit der Ehre und dem Interesse Englands eng verbunden
sei. Ein klarer Bericht über die Verhandlungen mit Preußen sei jetzt eine Pflicht
für die französische Regierung, da die kurzen Bemerkungen im Journal officiel
als zu allgemein und dürftig zu beurteilen wären. Angesichts dieser Enthüllungen
betrachte es nun die englische Regierung als ihre Pflicht, die Garantie der
Neutralität Belgiens für den augenblicklichen Krieg und für einige Zeit danach
zu kräftigen.

England schlägt daher Frankreich und Preußen vor, getrennt voneinander
mit ihm einen Vertrag oder ein Protokoll zu unterzeichnen, das auf dem be¬
treffenden Artikel des Vertrages von 1839 fußen und Englands bewaffnetes
Eingreifen bestimmen sollte, wenn eine der beiden kriegführenden Mächte die
Neutralität Belgiens verletzen würde. Die militärischen Operationen Englands
sollten sich innerhalb der belgischen Grenzen vollziehen. Ferner wünschte Eng¬
land, daß dieser Vertrag noch zwölf Monate nach einem Friedensschluß in Geltung
bliebe, damit eine ruhige Ausführung der einzelnen Friedensartikel gesichert
wäre. Dann sollte die Garantie der Neutralität Belgiens wieder allein auf
dem Artikel des Vertrages von 1839 beruhen. Granville fügte diesem Vor¬
schlag einige Tage später noch Erläuterungen hinzu, die besagten, daß vor allen
Dingen keine der durch den Vertrag verpflichteten Parteien eine belgische Festung
ohne vorherige Vereinbarung mit der anderen besetzen dürfe, um mit dieser
Bestimmung den Moment für ein Eingreifen Englands etwas zu fixieren.

Ehe Bismarck den Wortlaut des englischen Projektes kannte, erteilte er
telegraphisch seine Zustimmung zu jeglicher Maßnahme, die die Neutralität
Belgiens stärken würde. Die übrigen Signatarmächte schlössen sich ohne weiteres
dem englischen Vorschlag an. Belgien, das Englands Fürsorge später als
Preußen und Frankreich erfuhr, konnte weiter nichts mehr tun, als seine Dank¬
barkeit aussprechen. Frankreich versuchte zwar, den Passus über die Geltung
des Vertrages nach einem Friedensschluß zurückzuweisen. Die englische Regierung
aber hatte Bismarcks uneingeschränkte Zusage in Händen und ging auf die


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[0145] Belgiens Neutralität 5370 Unabhängigkeit verletzt würde. Die englische Presse stellte den Vertragsentwurf als eine Beleidigung Englands, des Beschützers der belgischen Neutralität, hin. Am 1. August ergriff Disraelc zum zweiten Male das Wort im Unterhause und forderte die Regierung zur bewaffneten Neutralität auf; denn auf keinen Fall dürfe sich eine starke Militärmacht England gegenüber an der europäischen Küste zwischen Dünkirchen, Ostende und den Nordseeinseln festsetzen. Gladstone lehnte die Forderung Disraelis ab und überließ es Granville, das Oberhaus zu beruhigen durch die Versicherung, daß er in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen sei, und durch das Versprechen, sobald als möglich den Vertretern des englischen Volkes die Ergebnisse seiner diplomatischen Maßnahmen mitzuteilen. Die englische Regierung hatte sich inzwischen offiziell am 30. Juli an die französische gewandt. Sie hatte dieser ihr Bedauern ausgesprochen, daß befreundete Mächte jemals daran gedacht hätten, die Neutralität eines Staates anzutasten, dessen Verteidigung mit der Ehre und dem Interesse Englands eng verbunden sei. Ein klarer Bericht über die Verhandlungen mit Preußen sei jetzt eine Pflicht für die französische Regierung, da die kurzen Bemerkungen im Journal officiel als zu allgemein und dürftig zu beurteilen wären. Angesichts dieser Enthüllungen betrachte es nun die englische Regierung als ihre Pflicht, die Garantie der Neutralität Belgiens für den augenblicklichen Krieg und für einige Zeit danach zu kräftigen. England schlägt daher Frankreich und Preußen vor, getrennt voneinander mit ihm einen Vertrag oder ein Protokoll zu unterzeichnen, das auf dem be¬ treffenden Artikel des Vertrages von 1839 fußen und Englands bewaffnetes Eingreifen bestimmen sollte, wenn eine der beiden kriegführenden Mächte die Neutralität Belgiens verletzen würde. Die militärischen Operationen Englands sollten sich innerhalb der belgischen Grenzen vollziehen. Ferner wünschte Eng¬ land, daß dieser Vertrag noch zwölf Monate nach einem Friedensschluß in Geltung bliebe, damit eine ruhige Ausführung der einzelnen Friedensartikel gesichert wäre. Dann sollte die Garantie der Neutralität Belgiens wieder allein auf dem Artikel des Vertrages von 1839 beruhen. Granville fügte diesem Vor¬ schlag einige Tage später noch Erläuterungen hinzu, die besagten, daß vor allen Dingen keine der durch den Vertrag verpflichteten Parteien eine belgische Festung ohne vorherige Vereinbarung mit der anderen besetzen dürfe, um mit dieser Bestimmung den Moment für ein Eingreifen Englands etwas zu fixieren. Ehe Bismarck den Wortlaut des englischen Projektes kannte, erteilte er telegraphisch seine Zustimmung zu jeglicher Maßnahme, die die Neutralität Belgiens stärken würde. Die übrigen Signatarmächte schlössen sich ohne weiteres dem englischen Vorschlag an. Belgien, das Englands Fürsorge später als Preußen und Frankreich erfuhr, konnte weiter nichts mehr tun, als seine Dank¬ barkeit aussprechen. Frankreich versuchte zwar, den Passus über die Geltung des Vertrages nach einem Friedensschluß zurückzuweisen. Die englische Regierung aber hatte Bismarcks uneingeschränkte Zusage in Händen und ging auf die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/145>, abgerufen am 27.09.2024.