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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Reste germanischen volkstums in Nordfrankreich

Hochschiffes waren erst vor einigen Jahrzehnten vollständig erneuert worden,
die alten prächtigen Glasgemälde der Fenster waren verschwunden, zum großen
Teil im 18. Jahrhundert entfernt, "um die Belichtung des Raumes zu verbessern",
zahllose Kostbarkeiten des Kirchenschatzes und der Inneneinrichtung zerstört oder
verschleudert, und noch in den letzten Jahren mußten Sachverständige immer
wieder klagen, daß die köstlichsten Bildwerke der Westfassade ohne genügenden
Schutz und ohne Pflege in Wind und Wetter zerfielen.

Die zahlreichen schönen Landkirchen des Mittelalters in der Gegend an
der Oise und Aisne haben in neuerer Zeit der baugeschichtlicher Forschung
manche wichtige Aufgabe geboten, auch deutsche Forscher haben sich öfter mit
ihnen beschäftigt. Sie zeigen uns die ältesten noch nachweisbaren Spuren jener
Wölbweise, die die Grundlage der ganzen mittelalterlichchänkischen Baukonstruktion
bildet. Das Kreuzrippengewölbe wurde in dieser Gegend zuerst bei einer
größeren Zahl kleinerer und mittlerer Kirchen angewandt, und die Bauweise
läßt sich auf allen Stufen ihrer Weiterentwicklung bis tzü den großartigen
Gewölben der Kathedralen in dieser Gegend verfolgen. Diese Zerlegung der
Gewölbe in tragende starke Rippen und getragene leichte Füllungsflächen hat
ja erst die Möglichkeit der Überspannung so großer Kirchenrüume vorbereitet.
Ohne die planmäßige Entwicklung dieses neuen Wölbsystems, das mit den
Traditionen der römischen Wölbungskunst brach, wären die leichten, freien,
lichtdurchflutenden Raumschöpfungen der fränkischen Kathedralen niemals möglich
gewesen. Der Bezirk zwischen den Städten Beauvais, Laon und Paris sah die
ersten, noch schüchternen und rohen Versuche der Anwendung dieser Bauweise.
Ob die Anregungen, die zu ihrer Anwendung führten, aus dem Orient kamen,
ob der Holzbau mit seiner Zusammenfassung der Lasten auf einzelne Streben
das Vorbild der Bauweise war, oder ob die Baumeister aus anderen Quellen
schöpften, wird sich wohl nie sicher feststellen lassen. Es bleibt nur die Tatsache,
daß die Entfaltung dieser Baugedanken aus ihren Anfängen ein Werk des
Frankenstammes ist und daß auch auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung
das "opus iranciMnum" der mittelalterlichen Urkunden nur im Gebiet
fränkischer Stämme wirklich heimisch wurde und zu reiner, voller Blüte gedieh.

So ist dieser alte Kulturboden der Täter der Oise und Aisne, der heute
ein neues Ringen des Germanentums mit dem romanisierten Galliertum sieht,
Zeuge so mancher gewaltigen Taten und erschütternden Leiden unserer Rasse
geworden, die ihn für immer dem Andenken unseres Volkes heilig machen müssen.




Reste germanischen volkstums in Nordfrankreich

Hochschiffes waren erst vor einigen Jahrzehnten vollständig erneuert worden,
die alten prächtigen Glasgemälde der Fenster waren verschwunden, zum großen
Teil im 18. Jahrhundert entfernt, „um die Belichtung des Raumes zu verbessern",
zahllose Kostbarkeiten des Kirchenschatzes und der Inneneinrichtung zerstört oder
verschleudert, und noch in den letzten Jahren mußten Sachverständige immer
wieder klagen, daß die köstlichsten Bildwerke der Westfassade ohne genügenden
Schutz und ohne Pflege in Wind und Wetter zerfielen.

Die zahlreichen schönen Landkirchen des Mittelalters in der Gegend an
der Oise und Aisne haben in neuerer Zeit der baugeschichtlicher Forschung
manche wichtige Aufgabe geboten, auch deutsche Forscher haben sich öfter mit
ihnen beschäftigt. Sie zeigen uns die ältesten noch nachweisbaren Spuren jener
Wölbweise, die die Grundlage der ganzen mittelalterlichchänkischen Baukonstruktion
bildet. Das Kreuzrippengewölbe wurde in dieser Gegend zuerst bei einer
größeren Zahl kleinerer und mittlerer Kirchen angewandt, und die Bauweise
läßt sich auf allen Stufen ihrer Weiterentwicklung bis tzü den großartigen
Gewölben der Kathedralen in dieser Gegend verfolgen. Diese Zerlegung der
Gewölbe in tragende starke Rippen und getragene leichte Füllungsflächen hat
ja erst die Möglichkeit der Überspannung so großer Kirchenrüume vorbereitet.
Ohne die planmäßige Entwicklung dieses neuen Wölbsystems, das mit den
Traditionen der römischen Wölbungskunst brach, wären die leichten, freien,
lichtdurchflutenden Raumschöpfungen der fränkischen Kathedralen niemals möglich
gewesen. Der Bezirk zwischen den Städten Beauvais, Laon und Paris sah die
ersten, noch schüchternen und rohen Versuche der Anwendung dieser Bauweise.
Ob die Anregungen, die zu ihrer Anwendung führten, aus dem Orient kamen,
ob der Holzbau mit seiner Zusammenfassung der Lasten auf einzelne Streben
das Vorbild der Bauweise war, oder ob die Baumeister aus anderen Quellen
schöpften, wird sich wohl nie sicher feststellen lassen. Es bleibt nur die Tatsache,
daß die Entfaltung dieser Baugedanken aus ihren Anfängen ein Werk des
Frankenstammes ist und daß auch auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung
das „opus iranciMnum" der mittelalterlichen Urkunden nur im Gebiet
fränkischer Stämme wirklich heimisch wurde und zu reiner, voller Blüte gedieh.

So ist dieser alte Kulturboden der Täter der Oise und Aisne, der heute
ein neues Ringen des Germanentums mit dem romanisierten Galliertum sieht,
Zeuge so mancher gewaltigen Taten und erschütternden Leiden unserer Rasse
geworden, die ihn für immer dem Andenken unseres Volkes heilig machen müssen.




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[0327] Reste germanischen volkstums in Nordfrankreich Hochschiffes waren erst vor einigen Jahrzehnten vollständig erneuert worden, die alten prächtigen Glasgemälde der Fenster waren verschwunden, zum großen Teil im 18. Jahrhundert entfernt, „um die Belichtung des Raumes zu verbessern", zahllose Kostbarkeiten des Kirchenschatzes und der Inneneinrichtung zerstört oder verschleudert, und noch in den letzten Jahren mußten Sachverständige immer wieder klagen, daß die köstlichsten Bildwerke der Westfassade ohne genügenden Schutz und ohne Pflege in Wind und Wetter zerfielen. Die zahlreichen schönen Landkirchen des Mittelalters in der Gegend an der Oise und Aisne haben in neuerer Zeit der baugeschichtlicher Forschung manche wichtige Aufgabe geboten, auch deutsche Forscher haben sich öfter mit ihnen beschäftigt. Sie zeigen uns die ältesten noch nachweisbaren Spuren jener Wölbweise, die die Grundlage der ganzen mittelalterlichchänkischen Baukonstruktion bildet. Das Kreuzrippengewölbe wurde in dieser Gegend zuerst bei einer größeren Zahl kleinerer und mittlerer Kirchen angewandt, und die Bauweise läßt sich auf allen Stufen ihrer Weiterentwicklung bis tzü den großartigen Gewölben der Kathedralen in dieser Gegend verfolgen. Diese Zerlegung der Gewölbe in tragende starke Rippen und getragene leichte Füllungsflächen hat ja erst die Möglichkeit der Überspannung so großer Kirchenrüume vorbereitet. Ohne die planmäßige Entwicklung dieses neuen Wölbsystems, das mit den Traditionen der römischen Wölbungskunst brach, wären die leichten, freien, lichtdurchflutenden Raumschöpfungen der fränkischen Kathedralen niemals möglich gewesen. Der Bezirk zwischen den Städten Beauvais, Laon und Paris sah die ersten, noch schüchternen und rohen Versuche der Anwendung dieser Bauweise. Ob die Anregungen, die zu ihrer Anwendung führten, aus dem Orient kamen, ob der Holzbau mit seiner Zusammenfassung der Lasten auf einzelne Streben das Vorbild der Bauweise war, oder ob die Baumeister aus anderen Quellen schöpften, wird sich wohl nie sicher feststellen lassen. Es bleibt nur die Tatsache, daß die Entfaltung dieser Baugedanken aus ihren Anfängen ein Werk des Frankenstammes ist und daß auch auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung das „opus iranciMnum" der mittelalterlichen Urkunden nur im Gebiet fränkischer Stämme wirklich heimisch wurde und zu reiner, voller Blüte gedieh. So ist dieser alte Kulturboden der Täter der Oise und Aisne, der heute ein neues Ringen des Germanentums mit dem romanisierten Galliertum sieht, Zeuge so mancher gewaltigen Taten und erschütternden Leiden unserer Rasse geworden, die ihn für immer dem Andenken unseres Volkes heilig machen müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/327>, abgerufen am 04.07.2024.