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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr.

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Lthik und Politik

ernstes, religiöses Gefühl der Verantwortung waren, die den Kaiser leiteten?
Ist das kein Aktivposten zum Kapitel Ethik und Politik?

Dagegen unsere Feinde. Rußland und England treibt nur Machtkitzel
ohne Frage; aber Frankreich sind viele selbst bei uns geneigt, mildernde Um¬
stände zuzubilligen wegen des angeblich sittlichen Gedankens der "Revanche".
Das kann nun kein ernster Ethiker zugeben; Rache ist nirgend und niemals
etwas Moralisches; und wenn man sie logisch zu Ende denkt, so kommt man
zu ewigen, endlosen Kämpfen analog der korsischen Blutrache, weil jeder Krieg
eine Revanche fordern müßte. Aber was hätten die Deutschen alles zu rächen,
nur seit dem Dreißigjährigen Krieg; wir müßten noch an Schweden den Schaden
der Heere Gustav Adolfs rächen. Österreich könnte nicht unser Freund sein, da
1866 ungerächt ist, und wenn Frankreich die Rechnung seines ersten Napoleon
wirklich bezahlen müßte, so hätte ganz Europa noch heute damit zu tun. Besäße
eine französische Regierung einen Funken von der ethischen Denkweise unseres
Kaisers, so hätte eine wenigstens die seit zwanzig Jahren von uns dargebotene
Freundeshand ergriffen, statt sich zur Stillung der Rache mit Rußland zu ver¬
bünden. Und wer büßt nun am meisten, daß diese unmoralische Unvernunft
in Frankreich siegte? Kein Land leidet so schwer unter dem Krieg, als eben
dieses, das unsere offenen Arme höhnisch zurückstieß, nicht einmal, nein ein
dutzendmal. Das weichliche Mitleid mit den Franzosen ist ganz verkehrt; kein
Krieg hätte auf Jahrhunderte hinaus mehr ihre Fluren verheert, hätten sie den
unethischen Rachegedanken, der sich an Elsaß-Lothringen nur einen Vorwand
suchte, zurückgedrängt.

Italien endlich, unser seltsamer Bundesgenosse? Es ist unpolitisch, von
ihm zu reden, ich weiß' aber eine italienische Stimme darf man doch wohl
erwähnen, die ihren Landsleuten vorhielt, kein Mensch in der Welt würde mehr
den Italienern trauen, wenn sie jetzt sich gegen ihre langjährigen Bundesgenossen
und Dreibundsfreunde wendeten. Deren Treue danken sie den ungestörten Er-
werb von Tripolis; wer möchte ähnliches tun, wie Deutschland in jener Zeit,
das die ihm gleichfalls wichtigen Türken kränkte um Italiens willen, wenn
dieses sich jetzt zu seinen Feinden schlüge? In solchen Erwägungen liegt ein
wichtiges Anerkenntnis des ethischen Rechts in der Politik; man kann Verträge
brechen, aber dem allzu Ungetreuen fehlen schließlich Freunde, die ihm trauen;
und Freunde bedarf auch der mächtigste Staat.

Vom Äußeren ins Innere. Auch hier wird gern dem Ethiker der Mund
verboten, wenn auch nicht so energisch wie bei der Weltpolitik. So wie die
höchste Diplomatenkunst die Schlauheit und die Lüge sein soll, so die tiefste
Weisheit einer Regierung, daß sie nie mit offenen Karten spielt, keine Partei
und niemals das "Volk" in ihr Räderwerk gucken, ihre Pläne belauschen läßt.
Diesen weitverbreiteten Ansichten stehen auf unserer Seite zwei Tatsachen gegen¬
über, deren segensreiche Folgen mir klar einzuleuchten scheinen. Unser Volk
stand auf wie ein Mann und ein Wille und daran hatte entscheidenden Anteil


Lthik und Politik

ernstes, religiöses Gefühl der Verantwortung waren, die den Kaiser leiteten?
Ist das kein Aktivposten zum Kapitel Ethik und Politik?

Dagegen unsere Feinde. Rußland und England treibt nur Machtkitzel
ohne Frage; aber Frankreich sind viele selbst bei uns geneigt, mildernde Um¬
stände zuzubilligen wegen des angeblich sittlichen Gedankens der „Revanche".
Das kann nun kein ernster Ethiker zugeben; Rache ist nirgend und niemals
etwas Moralisches; und wenn man sie logisch zu Ende denkt, so kommt man
zu ewigen, endlosen Kämpfen analog der korsischen Blutrache, weil jeder Krieg
eine Revanche fordern müßte. Aber was hätten die Deutschen alles zu rächen,
nur seit dem Dreißigjährigen Krieg; wir müßten noch an Schweden den Schaden
der Heere Gustav Adolfs rächen. Österreich könnte nicht unser Freund sein, da
1866 ungerächt ist, und wenn Frankreich die Rechnung seines ersten Napoleon
wirklich bezahlen müßte, so hätte ganz Europa noch heute damit zu tun. Besäße
eine französische Regierung einen Funken von der ethischen Denkweise unseres
Kaisers, so hätte eine wenigstens die seit zwanzig Jahren von uns dargebotene
Freundeshand ergriffen, statt sich zur Stillung der Rache mit Rußland zu ver¬
bünden. Und wer büßt nun am meisten, daß diese unmoralische Unvernunft
in Frankreich siegte? Kein Land leidet so schwer unter dem Krieg, als eben
dieses, das unsere offenen Arme höhnisch zurückstieß, nicht einmal, nein ein
dutzendmal. Das weichliche Mitleid mit den Franzosen ist ganz verkehrt; kein
Krieg hätte auf Jahrhunderte hinaus mehr ihre Fluren verheert, hätten sie den
unethischen Rachegedanken, der sich an Elsaß-Lothringen nur einen Vorwand
suchte, zurückgedrängt.

Italien endlich, unser seltsamer Bundesgenosse? Es ist unpolitisch, von
ihm zu reden, ich weiß' aber eine italienische Stimme darf man doch wohl
erwähnen, die ihren Landsleuten vorhielt, kein Mensch in der Welt würde mehr
den Italienern trauen, wenn sie jetzt sich gegen ihre langjährigen Bundesgenossen
und Dreibundsfreunde wendeten. Deren Treue danken sie den ungestörten Er-
werb von Tripolis; wer möchte ähnliches tun, wie Deutschland in jener Zeit,
das die ihm gleichfalls wichtigen Türken kränkte um Italiens willen, wenn
dieses sich jetzt zu seinen Feinden schlüge? In solchen Erwägungen liegt ein
wichtiges Anerkenntnis des ethischen Rechts in der Politik; man kann Verträge
brechen, aber dem allzu Ungetreuen fehlen schließlich Freunde, die ihm trauen;
und Freunde bedarf auch der mächtigste Staat.

Vom Äußeren ins Innere. Auch hier wird gern dem Ethiker der Mund
verboten, wenn auch nicht so energisch wie bei der Weltpolitik. So wie die
höchste Diplomatenkunst die Schlauheit und die Lüge sein soll, so die tiefste
Weisheit einer Regierung, daß sie nie mit offenen Karten spielt, keine Partei
und niemals das „Volk" in ihr Räderwerk gucken, ihre Pläne belauschen läßt.
Diesen weitverbreiteten Ansichten stehen auf unserer Seite zwei Tatsachen gegen¬
über, deren segensreiche Folgen mir klar einzuleuchten scheinen. Unser Volk
stand auf wie ein Mann und ein Wille und daran hatte entscheidenden Anteil


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[0273] Lthik und Politik ernstes, religiöses Gefühl der Verantwortung waren, die den Kaiser leiteten? Ist das kein Aktivposten zum Kapitel Ethik und Politik? Dagegen unsere Feinde. Rußland und England treibt nur Machtkitzel ohne Frage; aber Frankreich sind viele selbst bei uns geneigt, mildernde Um¬ stände zuzubilligen wegen des angeblich sittlichen Gedankens der „Revanche". Das kann nun kein ernster Ethiker zugeben; Rache ist nirgend und niemals etwas Moralisches; und wenn man sie logisch zu Ende denkt, so kommt man zu ewigen, endlosen Kämpfen analog der korsischen Blutrache, weil jeder Krieg eine Revanche fordern müßte. Aber was hätten die Deutschen alles zu rächen, nur seit dem Dreißigjährigen Krieg; wir müßten noch an Schweden den Schaden der Heere Gustav Adolfs rächen. Österreich könnte nicht unser Freund sein, da 1866 ungerächt ist, und wenn Frankreich die Rechnung seines ersten Napoleon wirklich bezahlen müßte, so hätte ganz Europa noch heute damit zu tun. Besäße eine französische Regierung einen Funken von der ethischen Denkweise unseres Kaisers, so hätte eine wenigstens die seit zwanzig Jahren von uns dargebotene Freundeshand ergriffen, statt sich zur Stillung der Rache mit Rußland zu ver¬ bünden. Und wer büßt nun am meisten, daß diese unmoralische Unvernunft in Frankreich siegte? Kein Land leidet so schwer unter dem Krieg, als eben dieses, das unsere offenen Arme höhnisch zurückstieß, nicht einmal, nein ein dutzendmal. Das weichliche Mitleid mit den Franzosen ist ganz verkehrt; kein Krieg hätte auf Jahrhunderte hinaus mehr ihre Fluren verheert, hätten sie den unethischen Rachegedanken, der sich an Elsaß-Lothringen nur einen Vorwand suchte, zurückgedrängt. Italien endlich, unser seltsamer Bundesgenosse? Es ist unpolitisch, von ihm zu reden, ich weiß' aber eine italienische Stimme darf man doch wohl erwähnen, die ihren Landsleuten vorhielt, kein Mensch in der Welt würde mehr den Italienern trauen, wenn sie jetzt sich gegen ihre langjährigen Bundesgenossen und Dreibundsfreunde wendeten. Deren Treue danken sie den ungestörten Er- werb von Tripolis; wer möchte ähnliches tun, wie Deutschland in jener Zeit, das die ihm gleichfalls wichtigen Türken kränkte um Italiens willen, wenn dieses sich jetzt zu seinen Feinden schlüge? In solchen Erwägungen liegt ein wichtiges Anerkenntnis des ethischen Rechts in der Politik; man kann Verträge brechen, aber dem allzu Ungetreuen fehlen schließlich Freunde, die ihm trauen; und Freunde bedarf auch der mächtigste Staat. Vom Äußeren ins Innere. Auch hier wird gern dem Ethiker der Mund verboten, wenn auch nicht so energisch wie bei der Weltpolitik. So wie die höchste Diplomatenkunst die Schlauheit und die Lüge sein soll, so die tiefste Weisheit einer Regierung, daß sie nie mit offenen Karten spielt, keine Partei und niemals das „Volk" in ihr Räderwerk gucken, ihre Pläne belauschen läßt. Diesen weitverbreiteten Ansichten stehen auf unserer Seite zwei Tatsachen gegen¬ über, deren segensreiche Folgen mir klar einzuleuchten scheinen. Unser Volk stand auf wie ein Mann und ein Wille und daran hatte entscheidenden Anteil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_329227/273>, abgerufen am 04.07.2024.