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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die kindliche Lüae

das Kind rückhaltlos, darum ist die vornehmste Aufgabe aller Eltern. Erzieher und
Juristen, sich das Vertrauen der Jugend zu erwerben. Gegen die Spielformen der
Lüge: Scherz, Übertreibung. Irreführung, Hänselei wird man nur einzuschreiten
haben, wenn sie aus unedlen Motiven (Eitelkeit, Hinterlist, Selbstsucht) entspringen;
in ihrer harmlosen Form stellen sie (nach Lowinsky. Zur Psychologie der wissentlichen
Täuschung, 1914. S. 431 und 432) Kampfspiele dar, mit der Tendenz der
Machtsphärenerweiterung eines bestimmten Ichs auf Kosten von anderen, woraus
ein Vergnügen entsteht. Die damit verbundene Freude ist vollkommen, wenn
der Angeführte sich wirklich "reingefallen" fühlt, und er sich unter Spottlachen
den wahren Sachverhalt zu Gemüte führen lassen muß. Der Erwachsene wird
mit gutem Humor auf derartige Spiele eingehen; doch soll er nicht außer acht
lassen, daß hier im heimlichen Grunde die Gefahr lauert, seinen Liebling zu
einem hinterhältigen Enten werden zu lassen. Ein Umdrehen des Spießes
dürfte ab und zu (aber nur selten!) zweckdienlich sein. --

Ich stehe am Ende meiner Ausführungen. Der Leser wird wahrscheinlich
die Empfindung haben, daß das Problem noch nicht ganz erschöpft sei. Das
ist natürlich auf so engem Raum völlig unmöglich. Ziel und Aufgabe meines
Essays waren auch von vornherein nicht so weit gesteckt. Vielmehr sollte unter
größtmöglichster Berücksichtigung aller, die Entstehung der Lüge aufhellenden
Faktoren nur ein kurzer orientierender Überblick gegeben werden über die
umfassenderen Fragen der Verhütung der Lüge, als, der Aufgabe der Päda¬
gogik in Haus und Schule, der Abwehr ihrer Folgen, als der Aufgabe der
Rechtsprechung und endlich der krankhaften Arten ihres Auftretens, als der
Aufgabe der psychiatrischen Medizin. Die Gesamtheit des Gesagten aber sollte
die Empfindung wachrufen, daß hier ein Problem von allergrößter Wichtigkeit
vorliegt, über das sich eingehend zu informieren Pflicht eines jeden Erwachsenen
ist. Ich hoffe nichts sehnlicher, als daß mir diese Absicht geglückt sein möchte!




Die kindliche Lüae

das Kind rückhaltlos, darum ist die vornehmste Aufgabe aller Eltern. Erzieher und
Juristen, sich das Vertrauen der Jugend zu erwerben. Gegen die Spielformen der
Lüge: Scherz, Übertreibung. Irreführung, Hänselei wird man nur einzuschreiten
haben, wenn sie aus unedlen Motiven (Eitelkeit, Hinterlist, Selbstsucht) entspringen;
in ihrer harmlosen Form stellen sie (nach Lowinsky. Zur Psychologie der wissentlichen
Täuschung, 1914. S. 431 und 432) Kampfspiele dar, mit der Tendenz der
Machtsphärenerweiterung eines bestimmten Ichs auf Kosten von anderen, woraus
ein Vergnügen entsteht. Die damit verbundene Freude ist vollkommen, wenn
der Angeführte sich wirklich „reingefallen" fühlt, und er sich unter Spottlachen
den wahren Sachverhalt zu Gemüte führen lassen muß. Der Erwachsene wird
mit gutem Humor auf derartige Spiele eingehen; doch soll er nicht außer acht
lassen, daß hier im heimlichen Grunde die Gefahr lauert, seinen Liebling zu
einem hinterhältigen Enten werden zu lassen. Ein Umdrehen des Spießes
dürfte ab und zu (aber nur selten!) zweckdienlich sein. —

Ich stehe am Ende meiner Ausführungen. Der Leser wird wahrscheinlich
die Empfindung haben, daß das Problem noch nicht ganz erschöpft sei. Das
ist natürlich auf so engem Raum völlig unmöglich. Ziel und Aufgabe meines
Essays waren auch von vornherein nicht so weit gesteckt. Vielmehr sollte unter
größtmöglichster Berücksichtigung aller, die Entstehung der Lüge aufhellenden
Faktoren nur ein kurzer orientierender Überblick gegeben werden über die
umfassenderen Fragen der Verhütung der Lüge, als, der Aufgabe der Päda¬
gogik in Haus und Schule, der Abwehr ihrer Folgen, als der Aufgabe der
Rechtsprechung und endlich der krankhaften Arten ihres Auftretens, als der
Aufgabe der psychiatrischen Medizin. Die Gesamtheit des Gesagten aber sollte
die Empfindung wachrufen, daß hier ein Problem von allergrößter Wichtigkeit
vorliegt, über das sich eingehend zu informieren Pflicht eines jeden Erwachsenen
ist. Ich hoffe nichts sehnlicher, als daß mir diese Absicht geglückt sein möchte!




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[0088] Die kindliche Lüae das Kind rückhaltlos, darum ist die vornehmste Aufgabe aller Eltern. Erzieher und Juristen, sich das Vertrauen der Jugend zu erwerben. Gegen die Spielformen der Lüge: Scherz, Übertreibung. Irreführung, Hänselei wird man nur einzuschreiten haben, wenn sie aus unedlen Motiven (Eitelkeit, Hinterlist, Selbstsucht) entspringen; in ihrer harmlosen Form stellen sie (nach Lowinsky. Zur Psychologie der wissentlichen Täuschung, 1914. S. 431 und 432) Kampfspiele dar, mit der Tendenz der Machtsphärenerweiterung eines bestimmten Ichs auf Kosten von anderen, woraus ein Vergnügen entsteht. Die damit verbundene Freude ist vollkommen, wenn der Angeführte sich wirklich „reingefallen" fühlt, und er sich unter Spottlachen den wahren Sachverhalt zu Gemüte führen lassen muß. Der Erwachsene wird mit gutem Humor auf derartige Spiele eingehen; doch soll er nicht außer acht lassen, daß hier im heimlichen Grunde die Gefahr lauert, seinen Liebling zu einem hinterhältigen Enten werden zu lassen. Ein Umdrehen des Spießes dürfte ab und zu (aber nur selten!) zweckdienlich sein. — Ich stehe am Ende meiner Ausführungen. Der Leser wird wahrscheinlich die Empfindung haben, daß das Problem noch nicht ganz erschöpft sei. Das ist natürlich auf so engem Raum völlig unmöglich. Ziel und Aufgabe meines Essays waren auch von vornherein nicht so weit gesteckt. Vielmehr sollte unter größtmöglichster Berücksichtigung aller, die Entstehung der Lüge aufhellenden Faktoren nur ein kurzer orientierender Überblick gegeben werden über die umfassenderen Fragen der Verhütung der Lüge, als, der Aufgabe der Päda¬ gogik in Haus und Schule, der Abwehr ihrer Folgen, als der Aufgabe der Rechtsprechung und endlich der krankhaften Arten ihres Auftretens, als der Aufgabe der psychiatrischen Medizin. Die Gesamtheit des Gesagten aber sollte die Empfindung wachrufen, daß hier ein Problem von allergrößter Wichtigkeit vorliegt, über das sich eingehend zu informieren Pflicht eines jeden Erwachsenen ist. Ich hoffe nichts sehnlicher, als daß mir diese Absicht geglückt sein möchte!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/88>, abgerufen am 27.07.2024.