Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die kindliche Lüge

körner abschreckende Beispiele anzuführen; jeder kennt solche zudem selbst aus
der Erfahrung des Alltags. Nur, um das wichtigste nicht zu vergessen, sei ein
Satz noch zitiert, den wir Menschen der Gesellschaft recht beherzigen sollten,
damit wir nicht aus Diplomatie, Konvention, irgendwelchem Zwang des
Augenblicks, Geschäftsrücksicht oder Bequemlichkeit tagtäglich der Jugend ein so
trauriges Beispiel böten, nämlich: "Laß kein falsch' Wort aus deinem Munde
gehen I" --

Die Schule, so behauptet P. Ephrussi*), macht die Kinder erst zu Lügnern,
unter der Voraussetzung natürlich, daß die Familie zuvor ihre Pflicht nie ver¬
säumt hat. Eine solche Schuldteilung zwischen Haus und Schule muß entschieden
abgelehnt werden. Es ist schlechthin unmöglich, daß ein Kind, ohne je zur
Lüge angeregt worden zu sein, zur Schule kommt. Richtig freilich ist, daß mit
dem Übergang der Kleinen von der Mutterhand in die Hand des Lehrers neue
Steine des Anstoßes zur Unwahrhaftigkeit sich dem Kinde in den Weg rollen.
Schon die Notwendigkeit, das harmlose "Sichgehenlassen" in Stillsitzen und
Aufpassen, das so unsagbar schwer ist, umzuwandeln, zeitigt oft Täuschungs¬
versuche. Dazu kommen Ehrgeiz, Sichaufspielenwollen, Unfleiß (der zum Hilfs¬
mittel des Ablesens greift), Solidaritätsgefühl und Ja8t not least die schon
erwähnte Furcht vor Strafe. Hierzu bemerkt Ephrussi sehr treffend: "Es
blüht Lüge besonders an den Schulen, wo der Schüler nur immer Angst haben
muß, eines der vielen Verbote zu übertreten und dafür hart bestraft zu werden,
wo die Lehrer ihre Macht über die Kinder mißbrauchen, wo die Lehrer sich nur
an ihre buchstäblichen Vorschriften halten." Der wahre Pädagoge aber wird
es rasch verstehen, das Vertrauen seiner Zöglinge zu gewinnen und sie tiefer,
nachhaltiger noch zum Guten beeinflussen können, als das Haus, dafür ist
Paßkönigs Buch ein trefflicher Beleg. Freilich, trotzdem werden Haß, Neid,
Selbstsucht und Trotz immer wieder ihre Triumphe feiern über die Menschheit;
und so ist der Kampf gegen die Lüge im Grunde als Kampf für die Moral
in ihrer Gesamtheit zu führen.




Zum Schluß noch ein kurzer Hinweis auf die entschuldbaren Lügen!
Wenn ein Kind aus Scham oder Verlegenheit etwas behauptet, was mit der
Wahrheit nicht ganz übereinstimmt, so werden wir es selten hart anlassen, aber
doch energisch darauf hinwirken müssen, daß das Kind lernt, unter allen Um¬
ständen aufrichtig zu sein. Einem Vertrauen erweckenden Frager gegenüber gibt sich



*) In ihrem Vortrag (liegt im Separatdruck vor) über die kindliche Lüge, gehalten
am 31. Dezember 1912 auf dem Allgemeinen russischen Kongreß für Familienerziehung zu
Se. Petersburg. Das Schriftchen wurde mir zugänglich durch die Opferwilligkeit meines
russischen Freundes Dr. M. Schönermann, zurzeit Bonn, der sich der Mühe der Übersetzung
unterzog.
Die kindliche Lüge

körner abschreckende Beispiele anzuführen; jeder kennt solche zudem selbst aus
der Erfahrung des Alltags. Nur, um das wichtigste nicht zu vergessen, sei ein
Satz noch zitiert, den wir Menschen der Gesellschaft recht beherzigen sollten,
damit wir nicht aus Diplomatie, Konvention, irgendwelchem Zwang des
Augenblicks, Geschäftsrücksicht oder Bequemlichkeit tagtäglich der Jugend ein so
trauriges Beispiel böten, nämlich: „Laß kein falsch' Wort aus deinem Munde
gehen I" —

Die Schule, so behauptet P. Ephrussi*), macht die Kinder erst zu Lügnern,
unter der Voraussetzung natürlich, daß die Familie zuvor ihre Pflicht nie ver¬
säumt hat. Eine solche Schuldteilung zwischen Haus und Schule muß entschieden
abgelehnt werden. Es ist schlechthin unmöglich, daß ein Kind, ohne je zur
Lüge angeregt worden zu sein, zur Schule kommt. Richtig freilich ist, daß mit
dem Übergang der Kleinen von der Mutterhand in die Hand des Lehrers neue
Steine des Anstoßes zur Unwahrhaftigkeit sich dem Kinde in den Weg rollen.
Schon die Notwendigkeit, das harmlose „Sichgehenlassen" in Stillsitzen und
Aufpassen, das so unsagbar schwer ist, umzuwandeln, zeitigt oft Täuschungs¬
versuche. Dazu kommen Ehrgeiz, Sichaufspielenwollen, Unfleiß (der zum Hilfs¬
mittel des Ablesens greift), Solidaritätsgefühl und Ja8t not least die schon
erwähnte Furcht vor Strafe. Hierzu bemerkt Ephrussi sehr treffend: „Es
blüht Lüge besonders an den Schulen, wo der Schüler nur immer Angst haben
muß, eines der vielen Verbote zu übertreten und dafür hart bestraft zu werden,
wo die Lehrer ihre Macht über die Kinder mißbrauchen, wo die Lehrer sich nur
an ihre buchstäblichen Vorschriften halten." Der wahre Pädagoge aber wird
es rasch verstehen, das Vertrauen seiner Zöglinge zu gewinnen und sie tiefer,
nachhaltiger noch zum Guten beeinflussen können, als das Haus, dafür ist
Paßkönigs Buch ein trefflicher Beleg. Freilich, trotzdem werden Haß, Neid,
Selbstsucht und Trotz immer wieder ihre Triumphe feiern über die Menschheit;
und so ist der Kampf gegen die Lüge im Grunde als Kampf für die Moral
in ihrer Gesamtheit zu führen.




Zum Schluß noch ein kurzer Hinweis auf die entschuldbaren Lügen!
Wenn ein Kind aus Scham oder Verlegenheit etwas behauptet, was mit der
Wahrheit nicht ganz übereinstimmt, so werden wir es selten hart anlassen, aber
doch energisch darauf hinwirken müssen, daß das Kind lernt, unter allen Um¬
ständen aufrichtig zu sein. Einem Vertrauen erweckenden Frager gegenüber gibt sich



*) In ihrem Vortrag (liegt im Separatdruck vor) über die kindliche Lüge, gehalten
am 31. Dezember 1912 auf dem Allgemeinen russischen Kongreß für Familienerziehung zu
Se. Petersburg. Das Schriftchen wurde mir zugänglich durch die Opferwilligkeit meines
russischen Freundes Dr. M. Schönermann, zurzeit Bonn, der sich der Mühe der Übersetzung
unterzog.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0087" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328821"/>
          <fw type="header" place="top"> Die kindliche Lüge</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_251" prev="#ID_250"> körner abschreckende Beispiele anzuführen; jeder kennt solche zudem selbst aus<lb/>
der Erfahrung des Alltags. Nur, um das wichtigste nicht zu vergessen, sei ein<lb/>
Satz noch zitiert, den wir Menschen der Gesellschaft recht beherzigen sollten,<lb/>
damit wir nicht aus Diplomatie, Konvention, irgendwelchem Zwang des<lb/>
Augenblicks, Geschäftsrücksicht oder Bequemlichkeit tagtäglich der Jugend ein so<lb/>
trauriges Beispiel böten, nämlich: &#x201E;Laß kein falsch' Wort aus deinem Munde<lb/>
gehen I" &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_252"> Die Schule, so behauptet P. Ephrussi*), macht die Kinder erst zu Lügnern,<lb/>
unter der Voraussetzung natürlich, daß die Familie zuvor ihre Pflicht nie ver¬<lb/>
säumt hat. Eine solche Schuldteilung zwischen Haus und Schule muß entschieden<lb/>
abgelehnt werden. Es ist schlechthin unmöglich, daß ein Kind, ohne je zur<lb/>
Lüge angeregt worden zu sein, zur Schule kommt. Richtig freilich ist, daß mit<lb/>
dem Übergang der Kleinen von der Mutterhand in die Hand des Lehrers neue<lb/>
Steine des Anstoßes zur Unwahrhaftigkeit sich dem Kinde in den Weg rollen.<lb/>
Schon die Notwendigkeit, das harmlose &#x201E;Sichgehenlassen" in Stillsitzen und<lb/>
Aufpassen, das so unsagbar schwer ist, umzuwandeln, zeitigt oft Täuschungs¬<lb/>
versuche. Dazu kommen Ehrgeiz, Sichaufspielenwollen, Unfleiß (der zum Hilfs¬<lb/>
mittel des Ablesens greift), Solidaritätsgefühl und Ja8t not least die schon<lb/>
erwähnte Furcht vor Strafe. Hierzu bemerkt Ephrussi sehr treffend: &#x201E;Es<lb/>
blüht Lüge besonders an den Schulen, wo der Schüler nur immer Angst haben<lb/>
muß, eines der vielen Verbote zu übertreten und dafür hart bestraft zu werden,<lb/>
wo die Lehrer ihre Macht über die Kinder mißbrauchen, wo die Lehrer sich nur<lb/>
an ihre buchstäblichen Vorschriften halten." Der wahre Pädagoge aber wird<lb/>
es rasch verstehen, das Vertrauen seiner Zöglinge zu gewinnen und sie tiefer,<lb/>
nachhaltiger noch zum Guten beeinflussen können, als das Haus, dafür ist<lb/>
Paßkönigs Buch ein trefflicher Beleg. Freilich, trotzdem werden Haß, Neid,<lb/>
Selbstsucht und Trotz immer wieder ihre Triumphe feiern über die Menschheit;<lb/>
und so ist der Kampf gegen die Lüge im Grunde als Kampf für die Moral<lb/>
in ihrer Gesamtheit zu führen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_253" next="#ID_254"> Zum Schluß noch ein kurzer Hinweis auf die entschuldbaren Lügen!<lb/>
Wenn ein Kind aus Scham oder Verlegenheit etwas behauptet, was mit der<lb/>
Wahrheit nicht ganz übereinstimmt, so werden wir es selten hart anlassen, aber<lb/>
doch energisch darauf hinwirken müssen, daß das Kind lernt, unter allen Um¬<lb/>
ständen aufrichtig zu sein. Einem Vertrauen erweckenden Frager gegenüber gibt sich</p><lb/>
          <note xml:id="FID_37" place="foot"> *) In ihrem Vortrag (liegt im Separatdruck vor) über die kindliche Lüge, gehalten<lb/>
am 31. Dezember 1912 auf dem Allgemeinen russischen Kongreß für Familienerziehung zu<lb/>
Se. Petersburg. Das Schriftchen wurde mir zugänglich durch die Opferwilligkeit meines<lb/>
russischen Freundes Dr. M. Schönermann, zurzeit Bonn, der sich der Mühe der Übersetzung<lb/>
unterzog.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0087] Die kindliche Lüge körner abschreckende Beispiele anzuführen; jeder kennt solche zudem selbst aus der Erfahrung des Alltags. Nur, um das wichtigste nicht zu vergessen, sei ein Satz noch zitiert, den wir Menschen der Gesellschaft recht beherzigen sollten, damit wir nicht aus Diplomatie, Konvention, irgendwelchem Zwang des Augenblicks, Geschäftsrücksicht oder Bequemlichkeit tagtäglich der Jugend ein so trauriges Beispiel böten, nämlich: „Laß kein falsch' Wort aus deinem Munde gehen I" — Die Schule, so behauptet P. Ephrussi*), macht die Kinder erst zu Lügnern, unter der Voraussetzung natürlich, daß die Familie zuvor ihre Pflicht nie ver¬ säumt hat. Eine solche Schuldteilung zwischen Haus und Schule muß entschieden abgelehnt werden. Es ist schlechthin unmöglich, daß ein Kind, ohne je zur Lüge angeregt worden zu sein, zur Schule kommt. Richtig freilich ist, daß mit dem Übergang der Kleinen von der Mutterhand in die Hand des Lehrers neue Steine des Anstoßes zur Unwahrhaftigkeit sich dem Kinde in den Weg rollen. Schon die Notwendigkeit, das harmlose „Sichgehenlassen" in Stillsitzen und Aufpassen, das so unsagbar schwer ist, umzuwandeln, zeitigt oft Täuschungs¬ versuche. Dazu kommen Ehrgeiz, Sichaufspielenwollen, Unfleiß (der zum Hilfs¬ mittel des Ablesens greift), Solidaritätsgefühl und Ja8t not least die schon erwähnte Furcht vor Strafe. Hierzu bemerkt Ephrussi sehr treffend: „Es blüht Lüge besonders an den Schulen, wo der Schüler nur immer Angst haben muß, eines der vielen Verbote zu übertreten und dafür hart bestraft zu werden, wo die Lehrer ihre Macht über die Kinder mißbrauchen, wo die Lehrer sich nur an ihre buchstäblichen Vorschriften halten." Der wahre Pädagoge aber wird es rasch verstehen, das Vertrauen seiner Zöglinge zu gewinnen und sie tiefer, nachhaltiger noch zum Guten beeinflussen können, als das Haus, dafür ist Paßkönigs Buch ein trefflicher Beleg. Freilich, trotzdem werden Haß, Neid, Selbstsucht und Trotz immer wieder ihre Triumphe feiern über die Menschheit; und so ist der Kampf gegen die Lüge im Grunde als Kampf für die Moral in ihrer Gesamtheit zu führen. Zum Schluß noch ein kurzer Hinweis auf die entschuldbaren Lügen! Wenn ein Kind aus Scham oder Verlegenheit etwas behauptet, was mit der Wahrheit nicht ganz übereinstimmt, so werden wir es selten hart anlassen, aber doch energisch darauf hinwirken müssen, daß das Kind lernt, unter allen Um¬ ständen aufrichtig zu sein. Einem Vertrauen erweckenden Frager gegenüber gibt sich *) In ihrem Vortrag (liegt im Separatdruck vor) über die kindliche Lüge, gehalten am 31. Dezember 1912 auf dem Allgemeinen russischen Kongreß für Familienerziehung zu Se. Petersburg. Das Schriftchen wurde mir zugänglich durch die Opferwilligkeit meines russischen Freundes Dr. M. Schönermann, zurzeit Bonn, der sich der Mühe der Übersetzung unterzog.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/87
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/87>, abgerufen am 23.12.2024.