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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die kindliche Lüge

1900 und "I^'annLL psyLkoloZique" 1899. V. Bd.), dieses Problem
experimentell zu ergründen sich bemüht hat, machte folgenden interessanten
Versuch: er zeigte den Kindern seiner Klasse aus der Nähe ein Stück Papier,
das in der Mitte einen kleinen schwarzen Punkt hatte. Dann hieß er sie zurück¬
treten und langsam wieder soweit vorwärtskommen, wie sie brauchten, um den
Punkt zu erkennen. Beim vierten Male hatte K. unbemerkt seinen Zettel mit
einem ganz leeren vertauscht und doch sahen 65 Prozent Kinder einen Punkt!
Nicht minder interessant ist der Versuch von I. Duck (Zeitschrift für pädagogische
Psychologie und experimentelle Pädagogik. 1912). Er gab seinen achtundvierzig
Schülern (vierzehn- bis siebzehnjährig) einen Gulden in die Hand mit der Auf¬
forderung, ihn sich recht genau anzusehen. Am Schluß der Unterrichtsstunde
teilte er mit, daß er doch mal feststellen wolle, wie es mit der Beobachtungsgabe
jedes einzelnen stände; sie hätten ja alle zweifellos bemerkt, daß der Gulden
ein Loch gehabt habe; nun möchten sie rasch jeder einen Kreis aufzeichnen mit
den ganz flüchtigen Umrissen eines Kopfes und dann mit einem Kreuzchen an¬
merken, wo das Loch gewesen sei. Vierundvierzig von achtundvierzig Schülern
hatten ein Loch "gesehen"! Von den vier übrigen gab nur einer bestimmt an,,
es sei keins dagewesen. Einige Schüler beharrten so fest in ihrer falschen An¬
sicht, daß sie sich bei Aufklärung des Tatbestandes erst durch den Augenschein
überzeugen ließen, einem Irrtum unterlegen zu sein. -- Diese Erkenntnis, daß
die Art der Fragestellung Kinderaussagen erheblich beeinflußt, ja modifiziert, ist
für den Pädagogen wie für den Richter von gleich hoher Bedeutung. Der erstere
wird sich hüten müssen, in solchen Fällen von Lüge zu reden; der letztere wird
nicht vorsichtig genug sein können bei seinem Verhör. Es ist für die Technik des¬
selben unbedingt nötig, alles, was nur irgend suggestiv wirken kann, zu ver¬
meiden (vgl. Marbe, Grundzüge der forensischen Psychologie, S. 36). Nicht genug
verurteilt werden kann der Übereifer Unberufener, für die Aufklärung irgend¬
eines Kriminalfalles durch Ausfragen von Kindern zu wirken, die vielleicht
darin verwickelt sind. Lehrer und Geistliche sind gewöhnlich in solchen Fällen
recht eifrig bei der Hand und pflegen durch ihr, in bestimmter Verdachts-
richtung eingestelltes Fragen, die Kinder auf Dinge zu bringen, an die sie gar
nicht gedacht hätten, die ihnen nun interessant vorkommen und von denen sie
nun aus Gefälligkeit und anderen Gründen sagen, sie seien geschehen. Es
klingt vielleicht absurd: "aus Gefälligkeit", ist aber Tatsache. Meumann (Vor¬
lesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, Bd. I, 1907, S. 248)
weiß davon zu berichten: "Das Kind spricht ganz naiv, so wie es den
Erwachsenen zu gefallen oder seinen Absichten zu entsprechen oder sich einer
Situation anzupassen glaubt^)." Als Illustration diene folgende Beobachtung
der Scupins ("Bubis erste Kindheit". S. 156): Buhl liebte es. die Schlüssel
aus den Türen zu ziehen. Eines Tages fehlte ein solcher. Man fragte deu



*) Siehe mich Pchkönig, "Kinderseele nus Kmdesmund", ISIS, S. 13.'
Die kindliche Lüge

1900 und „I^'annLL psyLkoloZique" 1899. V. Bd.), dieses Problem
experimentell zu ergründen sich bemüht hat, machte folgenden interessanten
Versuch: er zeigte den Kindern seiner Klasse aus der Nähe ein Stück Papier,
das in der Mitte einen kleinen schwarzen Punkt hatte. Dann hieß er sie zurück¬
treten und langsam wieder soweit vorwärtskommen, wie sie brauchten, um den
Punkt zu erkennen. Beim vierten Male hatte K. unbemerkt seinen Zettel mit
einem ganz leeren vertauscht und doch sahen 65 Prozent Kinder einen Punkt!
Nicht minder interessant ist der Versuch von I. Duck (Zeitschrift für pädagogische
Psychologie und experimentelle Pädagogik. 1912). Er gab seinen achtundvierzig
Schülern (vierzehn- bis siebzehnjährig) einen Gulden in die Hand mit der Auf¬
forderung, ihn sich recht genau anzusehen. Am Schluß der Unterrichtsstunde
teilte er mit, daß er doch mal feststellen wolle, wie es mit der Beobachtungsgabe
jedes einzelnen stände; sie hätten ja alle zweifellos bemerkt, daß der Gulden
ein Loch gehabt habe; nun möchten sie rasch jeder einen Kreis aufzeichnen mit
den ganz flüchtigen Umrissen eines Kopfes und dann mit einem Kreuzchen an¬
merken, wo das Loch gewesen sei. Vierundvierzig von achtundvierzig Schülern
hatten ein Loch „gesehen"! Von den vier übrigen gab nur einer bestimmt an,,
es sei keins dagewesen. Einige Schüler beharrten so fest in ihrer falschen An¬
sicht, daß sie sich bei Aufklärung des Tatbestandes erst durch den Augenschein
überzeugen ließen, einem Irrtum unterlegen zu sein. — Diese Erkenntnis, daß
die Art der Fragestellung Kinderaussagen erheblich beeinflußt, ja modifiziert, ist
für den Pädagogen wie für den Richter von gleich hoher Bedeutung. Der erstere
wird sich hüten müssen, in solchen Fällen von Lüge zu reden; der letztere wird
nicht vorsichtig genug sein können bei seinem Verhör. Es ist für die Technik des¬
selben unbedingt nötig, alles, was nur irgend suggestiv wirken kann, zu ver¬
meiden (vgl. Marbe, Grundzüge der forensischen Psychologie, S. 36). Nicht genug
verurteilt werden kann der Übereifer Unberufener, für die Aufklärung irgend¬
eines Kriminalfalles durch Ausfragen von Kindern zu wirken, die vielleicht
darin verwickelt sind. Lehrer und Geistliche sind gewöhnlich in solchen Fällen
recht eifrig bei der Hand und pflegen durch ihr, in bestimmter Verdachts-
richtung eingestelltes Fragen, die Kinder auf Dinge zu bringen, an die sie gar
nicht gedacht hätten, die ihnen nun interessant vorkommen und von denen sie
nun aus Gefälligkeit und anderen Gründen sagen, sie seien geschehen. Es
klingt vielleicht absurd: „aus Gefälligkeit", ist aber Tatsache. Meumann (Vor¬
lesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik, Bd. I, 1907, S. 248)
weiß davon zu berichten: „Das Kind spricht ganz naiv, so wie es den
Erwachsenen zu gefallen oder seinen Absichten zu entsprechen oder sich einer
Situation anzupassen glaubt^)." Als Illustration diene folgende Beobachtung
der Scupins („Bubis erste Kindheit". S. 156): Buhl liebte es. die Schlüssel
aus den Türen zu ziehen. Eines Tages fehlte ein solcher. Man fragte deu



*) Siehe mich Pchkönig, „Kinderseele nus Kmdesmund", ISIS, S. 13.'
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/80>, abgerufen am 01.09.2024.