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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die kindliche Lüge

zitiert): ,,L.*) lutscht," sagt der Onkel, und ärgerlich versteckt das Kind den
Zipfel zwischen Bett und Wand. Also bloß Abwehr der unangenehmen Vor¬
stellung, Verstecken ohne Täuschung. Wenige Tage später heißt es wieder:
"L. hat gelutscht." Da stopft sie den Zipfel zwischen Gesäß und Nachtgeschirr:
"L. kalt."

Lowinsky folgert richtig: "Die Tat selbst wird demnach nicht geleugnet,
aber entschieden ignoriert, verdrängt, indem das Verstecken des corpus äölicti
harmlos erklärt wird" (S. 442). Diese Scheinlügen -- um mit Stern zu reden
(Erinnerung, Aussage und Lüge S. 34) -- werden von den Erwachsenen
provoziert; wir bringen das Kind durch unser meist recht überflüssiges Fragen
gar leicht zum "Lügen". Selbst ein außergewöhnlich gut geartetes Kind wie
Sterns Töchterchen Hilde kann durch Fragen zum Lügenversuch kommen (Stern,
Erinnerung. Aussage usw. S. 39): H. hat mehrere Scheiben von einem Apfel
erhalten und schmaust vergnüglich. Die Mutter fragt, ob H. dem Vater nichts
abgeben wolle. H. gibt dem Vater ein halbes Stückchen. Mutter (vorwurfs¬
voll): "Du willst nur ein halbes Stückchen geben?" -- H. redet sich aus:
"Ich wollte es bloß durchbrechen." -- Die Mutter: "Aber Hildel" -- H. ver¬
sucht sich weiter auszureden: "Ich wollte dem Vater erst das eine geben, dann
das andere!" -- Der Lügenversuch ist da! Das Beispiel möge zugleich davor
warnen, Kinder unnötig zu beschämen. Hier wäre eine Ermahnung am Platze
gewesen: "Du hast doch Papa lieb, da mußt du ihm viel geben!" Keine
Frage!

Dabei handelt es sich in den Fällen frühkindlichen Leugnens zwar stets mehr
um Abwehr als um wirkliches Täuschen wollen, doch ist der Schritt zur echten Lüge
von hier aus schnell gemacht. Darum wäre zu wünschen, daß die Sternsche Mahnung
(a. a. O. S. 113) recht beherzigt würde, den Kindern das Hinwegkommen über
die Abwehr zu erleichtern, da sie die dazu nötige Selbstüberwindung von sich
aus allein noch nicht aufzubringen imstande sind. Ein sehr lehrreiches Beispiel
bieten hierzu E. und G. Scupin (in: Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch.
1907, S. 285): Buhl hat auf dem Balkon ein Stückchen Mörtel abgestoßen;
er geht und erzählt das "halb schelmisch, halb verlegen" den Eltern. Diese
schauen sofort streng drein, und der Junge (dreijährig) ruft schleunigst: "Nein,
nein; das Vögerle hat es ja abgebrochen." -- Die Eltern änderten nun ihre
Miene und fragten freundlich: "Wie heißt denn das unnütze Vögelchen, das
den Schaden angerichtet hat?" Der Knabe antwortete: "Nu, der Buhl war
es doch." Er hatte bei der ihm nun entgegengebrachten Güte keine Angst
und somit keine Notwendigkeit mehr, drohende Strafe abzuwehren. Wie leicht
hätte durch weniger bedachtes Verhalten der Eltern dieses Ereignis zum Keim
der Lügenhaftigkeit werden können. Hätte man das Kind hart angelassen, gar
wohl gezüchtigt wegen seines "Lügens", so würde es nie mehr harmlos seine



*) L. ist 2 Jahre 1 Monat alt.
Die kindliche Lüge

zitiert): ,,L.*) lutscht," sagt der Onkel, und ärgerlich versteckt das Kind den
Zipfel zwischen Bett und Wand. Also bloß Abwehr der unangenehmen Vor¬
stellung, Verstecken ohne Täuschung. Wenige Tage später heißt es wieder:
„L. hat gelutscht." Da stopft sie den Zipfel zwischen Gesäß und Nachtgeschirr:
„L. kalt."

Lowinsky folgert richtig: „Die Tat selbst wird demnach nicht geleugnet,
aber entschieden ignoriert, verdrängt, indem das Verstecken des corpus äölicti
harmlos erklärt wird" (S. 442). Diese Scheinlügen — um mit Stern zu reden
(Erinnerung, Aussage und Lüge S. 34) — werden von den Erwachsenen
provoziert; wir bringen das Kind durch unser meist recht überflüssiges Fragen
gar leicht zum „Lügen". Selbst ein außergewöhnlich gut geartetes Kind wie
Sterns Töchterchen Hilde kann durch Fragen zum Lügenversuch kommen (Stern,
Erinnerung. Aussage usw. S. 39): H. hat mehrere Scheiben von einem Apfel
erhalten und schmaust vergnüglich. Die Mutter fragt, ob H. dem Vater nichts
abgeben wolle. H. gibt dem Vater ein halbes Stückchen. Mutter (vorwurfs¬
voll): „Du willst nur ein halbes Stückchen geben?" — H. redet sich aus:
„Ich wollte es bloß durchbrechen." — Die Mutter: „Aber Hildel" — H. ver¬
sucht sich weiter auszureden: „Ich wollte dem Vater erst das eine geben, dann
das andere!" — Der Lügenversuch ist da! Das Beispiel möge zugleich davor
warnen, Kinder unnötig zu beschämen. Hier wäre eine Ermahnung am Platze
gewesen: „Du hast doch Papa lieb, da mußt du ihm viel geben!" Keine
Frage!

Dabei handelt es sich in den Fällen frühkindlichen Leugnens zwar stets mehr
um Abwehr als um wirkliches Täuschen wollen, doch ist der Schritt zur echten Lüge
von hier aus schnell gemacht. Darum wäre zu wünschen, daß die Sternsche Mahnung
(a. a. O. S. 113) recht beherzigt würde, den Kindern das Hinwegkommen über
die Abwehr zu erleichtern, da sie die dazu nötige Selbstüberwindung von sich
aus allein noch nicht aufzubringen imstande sind. Ein sehr lehrreiches Beispiel
bieten hierzu E. und G. Scupin (in: Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch.
1907, S. 285): Buhl hat auf dem Balkon ein Stückchen Mörtel abgestoßen;
er geht und erzählt das „halb schelmisch, halb verlegen" den Eltern. Diese
schauen sofort streng drein, und der Junge (dreijährig) ruft schleunigst: „Nein,
nein; das Vögerle hat es ja abgebrochen." — Die Eltern änderten nun ihre
Miene und fragten freundlich: „Wie heißt denn das unnütze Vögelchen, das
den Schaden angerichtet hat?" Der Knabe antwortete: „Nu, der Buhl war
es doch." Er hatte bei der ihm nun entgegengebrachten Güte keine Angst
und somit keine Notwendigkeit mehr, drohende Strafe abzuwehren. Wie leicht
hätte durch weniger bedachtes Verhalten der Eltern dieses Ereignis zum Keim
der Lügenhaftigkeit werden können. Hätte man das Kind hart angelassen, gar
wohl gezüchtigt wegen seines „Lügens", so würde es nie mehr harmlos seine



*) L. ist 2 Jahre 1 Monat alt.
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[0078] Die kindliche Lüge zitiert): ,,L.*) lutscht," sagt der Onkel, und ärgerlich versteckt das Kind den Zipfel zwischen Bett und Wand. Also bloß Abwehr der unangenehmen Vor¬ stellung, Verstecken ohne Täuschung. Wenige Tage später heißt es wieder: „L. hat gelutscht." Da stopft sie den Zipfel zwischen Gesäß und Nachtgeschirr: „L. kalt." Lowinsky folgert richtig: „Die Tat selbst wird demnach nicht geleugnet, aber entschieden ignoriert, verdrängt, indem das Verstecken des corpus äölicti harmlos erklärt wird" (S. 442). Diese Scheinlügen — um mit Stern zu reden (Erinnerung, Aussage und Lüge S. 34) — werden von den Erwachsenen provoziert; wir bringen das Kind durch unser meist recht überflüssiges Fragen gar leicht zum „Lügen". Selbst ein außergewöhnlich gut geartetes Kind wie Sterns Töchterchen Hilde kann durch Fragen zum Lügenversuch kommen (Stern, Erinnerung. Aussage usw. S. 39): H. hat mehrere Scheiben von einem Apfel erhalten und schmaust vergnüglich. Die Mutter fragt, ob H. dem Vater nichts abgeben wolle. H. gibt dem Vater ein halbes Stückchen. Mutter (vorwurfs¬ voll): „Du willst nur ein halbes Stückchen geben?" — H. redet sich aus: „Ich wollte es bloß durchbrechen." — Die Mutter: „Aber Hildel" — H. ver¬ sucht sich weiter auszureden: „Ich wollte dem Vater erst das eine geben, dann das andere!" — Der Lügenversuch ist da! Das Beispiel möge zugleich davor warnen, Kinder unnötig zu beschämen. Hier wäre eine Ermahnung am Platze gewesen: „Du hast doch Papa lieb, da mußt du ihm viel geben!" Keine Frage! Dabei handelt es sich in den Fällen frühkindlichen Leugnens zwar stets mehr um Abwehr als um wirkliches Täuschen wollen, doch ist der Schritt zur echten Lüge von hier aus schnell gemacht. Darum wäre zu wünschen, daß die Sternsche Mahnung (a. a. O. S. 113) recht beherzigt würde, den Kindern das Hinwegkommen über die Abwehr zu erleichtern, da sie die dazu nötige Selbstüberwindung von sich aus allein noch nicht aufzubringen imstande sind. Ein sehr lehrreiches Beispiel bieten hierzu E. und G. Scupin (in: Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch. 1907, S. 285): Buhl hat auf dem Balkon ein Stückchen Mörtel abgestoßen; er geht und erzählt das „halb schelmisch, halb verlegen" den Eltern. Diese schauen sofort streng drein, und der Junge (dreijährig) ruft schleunigst: „Nein, nein; das Vögerle hat es ja abgebrochen." — Die Eltern änderten nun ihre Miene und fragten freundlich: „Wie heißt denn das unnütze Vögelchen, das den Schaden angerichtet hat?" Der Knabe antwortete: „Nu, der Buhl war es doch." Er hatte bei der ihm nun entgegengebrachten Güte keine Angst und somit keine Notwendigkeit mehr, drohende Strafe abzuwehren. Wie leicht hätte durch weniger bedachtes Verhalten der Eltern dieses Ereignis zum Keim der Lügenhaftigkeit werden können. Hätte man das Kind hart angelassen, gar wohl gezüchtigt wegen seines „Lügens", so würde es nie mehr harmlos seine *) L. ist 2 Jahre 1 Monat alt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/78>, abgerufen am 01.09.2024.