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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

Mischen Kultur wie im Bereich des klassischen Altertums aus ihrer Vorgängerin
allmählich entwickelt. Der patriarchalische Charakter ist h:er vor allem durch
den Einfluß des Staates und bei den heutigen westeuropäischen Völkern
durch den des Christentums abgeschwächt, aber nicht aufgehoben. Auch die
Kopfzahl hat sich vermindert, indem die verheirateten und oft auch die erwachsenen
Kinder ausscheiden. Im übrigen aber bleiben die Grundzüge bestehen: die
Überlegenheit, die Recht und Sitte dem Manne einräumen, die gebundene und
dienende Stellung der Frau, das starke Band, das die Verwandtschaft um alle
einem Blutsverbande Angehörigen schlingt, die Abhängigkeit der gesellschaftlichen
Stellung des einzelnen von dem Ansehen der ganzen Familie und Verwandt¬
schaft und die Rückwirkung, die umgekehrt das Verhalten jedes einzelnen auf
das Ansehen der Familie ausübt, endlich die patriarchalische Stellung der Eltern,
vorab des Vaters gegenüber den Kindern. Vor allem wird auch hier, wie bei
dem vorigen Typus, die Ehe im Gegensatz zur modernen Ehe in erster Linie
durch unpersönliche Kräfte getragen: nicht aus Willen und Gesinnung der zu¬
sammengeschlossenen Menschen, sondern aus der ganzen Situation erwachsen die
Kräfte, welche die Menschen zusammenhalten. Ein anschauliches Bild dieses
Typus kann der Leser gewinnen, wenn er in Paniscus Lebenserinnerungen die
Schilderung der bäuerlichen Verhältnisse nachliest, in denen Paulsen groß geworden
ist; besonders tritt hier die wirtschaftliche Grundlage der Familie klar zutage.

Dieser Typus ist nun seit etwa einem halben Jahrhundert überall der
Auflösung verfallen. Derselbe Vorgang hat sich in der Hauptsache aus den
gleichen Ursachen auch in der Spätzeit des klassischen Altertums abgespielt;
doch berücksichtigen wir im folgenden nur die Gegenwart. Die wichtigsten
Ursachen der Auflösung sind die folgenden. Von außen her hat zunächst in
den unteren Kreisen die Industrie eingegriffen, indem sie die Frau in ihren
Arbeitskreis zog und damit aus der Familie herausnahm. Auch die Kinder
wurden durch die Industrie früh selbständig gemacht. Im Zusammenhang mit
der ganzen Wandlung des Denkens wie mit den eben angedeuteten wirtschaft¬
lichen Veränderungen vollzog sich ferner die Abkehr von dem alten patriarchalisch-
autoritativen Geist besonders bei den Frauen und den Kindern. In technischer
Hinsicht kommt die Verminderung des Arbeitskreises der häuslichen Wirtschaft
in Betracht. Vieles, was früher im Hause geschafft wurde, wird jetzt fertig
aus Fabriken und Luder bezogen oder auch zur Erledigung fremden
Arbeitskräften überwiesen. Auch die steigende Entwicklung des Schulwesens hat
in demselben Sinne gewirkt, indem sie den Schwerpunkt der Erziehung aus dem
Hause heraus in die Öffentlichkeit verlegte. Die Jugendorganisationen der Gegen¬
wart reihen sich diesen Kräften an: die Kinder geraten immer stärker unter den
Einfluß ihrer Genossen, der Lehrer tritt an die Stelle der Eltern und so mindert
sich deren Autorität. Endlich ist die Steigerung des Ortswechsels anzuführen.
Äußerlich werden die Bande der Familie und der Verwandtschaft dadurch
gelockert und der einzelne wird insofern innerlich mehr von Familie und Ver-


Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

Mischen Kultur wie im Bereich des klassischen Altertums aus ihrer Vorgängerin
allmählich entwickelt. Der patriarchalische Charakter ist h:er vor allem durch
den Einfluß des Staates und bei den heutigen westeuropäischen Völkern
durch den des Christentums abgeschwächt, aber nicht aufgehoben. Auch die
Kopfzahl hat sich vermindert, indem die verheirateten und oft auch die erwachsenen
Kinder ausscheiden. Im übrigen aber bleiben die Grundzüge bestehen: die
Überlegenheit, die Recht und Sitte dem Manne einräumen, die gebundene und
dienende Stellung der Frau, das starke Band, das die Verwandtschaft um alle
einem Blutsverbande Angehörigen schlingt, die Abhängigkeit der gesellschaftlichen
Stellung des einzelnen von dem Ansehen der ganzen Familie und Verwandt¬
schaft und die Rückwirkung, die umgekehrt das Verhalten jedes einzelnen auf
das Ansehen der Familie ausübt, endlich die patriarchalische Stellung der Eltern,
vorab des Vaters gegenüber den Kindern. Vor allem wird auch hier, wie bei
dem vorigen Typus, die Ehe im Gegensatz zur modernen Ehe in erster Linie
durch unpersönliche Kräfte getragen: nicht aus Willen und Gesinnung der zu¬
sammengeschlossenen Menschen, sondern aus der ganzen Situation erwachsen die
Kräfte, welche die Menschen zusammenhalten. Ein anschauliches Bild dieses
Typus kann der Leser gewinnen, wenn er in Paniscus Lebenserinnerungen die
Schilderung der bäuerlichen Verhältnisse nachliest, in denen Paulsen groß geworden
ist; besonders tritt hier die wirtschaftliche Grundlage der Familie klar zutage.

Dieser Typus ist nun seit etwa einem halben Jahrhundert überall der
Auflösung verfallen. Derselbe Vorgang hat sich in der Hauptsache aus den
gleichen Ursachen auch in der Spätzeit des klassischen Altertums abgespielt;
doch berücksichtigen wir im folgenden nur die Gegenwart. Die wichtigsten
Ursachen der Auflösung sind die folgenden. Von außen her hat zunächst in
den unteren Kreisen die Industrie eingegriffen, indem sie die Frau in ihren
Arbeitskreis zog und damit aus der Familie herausnahm. Auch die Kinder
wurden durch die Industrie früh selbständig gemacht. Im Zusammenhang mit
der ganzen Wandlung des Denkens wie mit den eben angedeuteten wirtschaft¬
lichen Veränderungen vollzog sich ferner die Abkehr von dem alten patriarchalisch-
autoritativen Geist besonders bei den Frauen und den Kindern. In technischer
Hinsicht kommt die Verminderung des Arbeitskreises der häuslichen Wirtschaft
in Betracht. Vieles, was früher im Hause geschafft wurde, wird jetzt fertig
aus Fabriken und Luder bezogen oder auch zur Erledigung fremden
Arbeitskräften überwiesen. Auch die steigende Entwicklung des Schulwesens hat
in demselben Sinne gewirkt, indem sie den Schwerpunkt der Erziehung aus dem
Hause heraus in die Öffentlichkeit verlegte. Die Jugendorganisationen der Gegen¬
wart reihen sich diesen Kräften an: die Kinder geraten immer stärker unter den
Einfluß ihrer Genossen, der Lehrer tritt an die Stelle der Eltern und so mindert
sich deren Autorität. Endlich ist die Steigerung des Ortswechsels anzuführen.
Äußerlich werden die Bande der Familie und der Verwandtschaft dadurch
gelockert und der einzelne wird insofern innerlich mehr von Familie und Ver-


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[0479] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens Mischen Kultur wie im Bereich des klassischen Altertums aus ihrer Vorgängerin allmählich entwickelt. Der patriarchalische Charakter ist h:er vor allem durch den Einfluß des Staates und bei den heutigen westeuropäischen Völkern durch den des Christentums abgeschwächt, aber nicht aufgehoben. Auch die Kopfzahl hat sich vermindert, indem die verheirateten und oft auch die erwachsenen Kinder ausscheiden. Im übrigen aber bleiben die Grundzüge bestehen: die Überlegenheit, die Recht und Sitte dem Manne einräumen, die gebundene und dienende Stellung der Frau, das starke Band, das die Verwandtschaft um alle einem Blutsverbande Angehörigen schlingt, die Abhängigkeit der gesellschaftlichen Stellung des einzelnen von dem Ansehen der ganzen Familie und Verwandt¬ schaft und die Rückwirkung, die umgekehrt das Verhalten jedes einzelnen auf das Ansehen der Familie ausübt, endlich die patriarchalische Stellung der Eltern, vorab des Vaters gegenüber den Kindern. Vor allem wird auch hier, wie bei dem vorigen Typus, die Ehe im Gegensatz zur modernen Ehe in erster Linie durch unpersönliche Kräfte getragen: nicht aus Willen und Gesinnung der zu¬ sammengeschlossenen Menschen, sondern aus der ganzen Situation erwachsen die Kräfte, welche die Menschen zusammenhalten. Ein anschauliches Bild dieses Typus kann der Leser gewinnen, wenn er in Paniscus Lebenserinnerungen die Schilderung der bäuerlichen Verhältnisse nachliest, in denen Paulsen groß geworden ist; besonders tritt hier die wirtschaftliche Grundlage der Familie klar zutage. Dieser Typus ist nun seit etwa einem halben Jahrhundert überall der Auflösung verfallen. Derselbe Vorgang hat sich in der Hauptsache aus den gleichen Ursachen auch in der Spätzeit des klassischen Altertums abgespielt; doch berücksichtigen wir im folgenden nur die Gegenwart. Die wichtigsten Ursachen der Auflösung sind die folgenden. Von außen her hat zunächst in den unteren Kreisen die Industrie eingegriffen, indem sie die Frau in ihren Arbeitskreis zog und damit aus der Familie herausnahm. Auch die Kinder wurden durch die Industrie früh selbständig gemacht. Im Zusammenhang mit der ganzen Wandlung des Denkens wie mit den eben angedeuteten wirtschaft¬ lichen Veränderungen vollzog sich ferner die Abkehr von dem alten patriarchalisch- autoritativen Geist besonders bei den Frauen und den Kindern. In technischer Hinsicht kommt die Verminderung des Arbeitskreises der häuslichen Wirtschaft in Betracht. Vieles, was früher im Hause geschafft wurde, wird jetzt fertig aus Fabriken und Luder bezogen oder auch zur Erledigung fremden Arbeitskräften überwiesen. Auch die steigende Entwicklung des Schulwesens hat in demselben Sinne gewirkt, indem sie den Schwerpunkt der Erziehung aus dem Hause heraus in die Öffentlichkeit verlegte. Die Jugendorganisationen der Gegen¬ wart reihen sich diesen Kräften an: die Kinder geraten immer stärker unter den Einfluß ihrer Genossen, der Lehrer tritt an die Stelle der Eltern und so mindert sich deren Autorität. Endlich ist die Steigerung des Ortswechsels anzuführen. Äußerlich werden die Bande der Familie und der Verwandtschaft dadurch gelockert und der einzelne wird insofern innerlich mehr von Familie und Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/479>, abgerufen am 23.12.2024.