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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

gelegentlich (Phasen der Liebe, Seite 210) mit dieser Lehre auseinandergesetzt
und unterscheidet mit Recht in Übereinstimmung mit anderen Autoren zwischen
der ursprünglichen radikalen und einer gemäßigten Form der Theorie, von denen
die eine eine unbedingte, die andere eine stark eingeschränkte Abhängigkeit der
übrigen Kultur von der Wirtschaft behauptet. Die erstere Behauptung ist
ebenso verfehlt wie die Richtigkeit der letzteren unbestreitbar ist. Freilich,
möchten wir hinzufügen, darf man die Tragweite dieser Lehre auch in der
gemäßigten Form nicht überschätzen und ihren Sinn nicht mißverstehen. Es ist
namentlich zu beachten, daß in dem Begriff der Wirtschaft zwei ganz verschiedene
Reihen von Tatsachen zusammengefaßt sind. Wenn eine nomadische Eroberer¬
schar z. B. eine ackerbautreibende Bevölkerung sich dienstbar macht und sich von
ihr ernähren läßt, ohne daß die Produktion von Nahrungsmitteln durch diese
selbst erheblich geändert wird, so kann man diesen Vorgang ebensogut als einen
gesellschaftlichen wie als einen wirtschaftlichen auffassen. Das Wesentliche dabei
ist die Veränderung in der Verteilung der Nahrung; dagegen ist die Technik der
Ernährung, das heißt die Art, wie die seßhafte Schicht mit der Natur verkehrt
und ihr die Nahrung abgewinnt, im wesentlichen unverändert geblieben.
Man hat mit anderen Worten zwischen einer technischen und einer sozialen Seite
der Wirtschaft zu unterscheiden. Und alles, was in das letztere Gebiet fällt,
kann man ebensogut der gesellschaftlichen Seite der Kultur zurechnen. Namentlich
darf man die Lehre nicht so verstehen, als ob wirtschaftliche Motive die einzigen
treibenden Kräfte des geschichtlichen Lebens wären. Schon die Entstehung der
Erobererstaaten darf man nicht, wie es öfter geschieht, lediglich auf das Ver¬
langen nach wirtschaftlichen Gütern, nach Reichtum, bequemer und angenehmer
Ernährung usw. zurückführen. Selbst in unserem heutigen Leben sehen wir
von einer gewissen Höhe des Besitzes an aufwärts das Trachten nach größeren:
Reichtum weniger der Schätzung der Luxusgüter an sich als dem Bestreben
entspringen, durch die Schaustellung großen Besitzes sich eine bessere gesellschaft¬
liche Stellung zu erwerben. So muß auch die Eroberertätigkeit zum großen
Teil auf das Machtverlangen, das heißt auf einen gesellschaftlichen an Stelle eines
wirtschaftlichen Beweggrundes zurückgeführt werden. Wir sehen hieraus, wie die
gesellschaftlichen Zustände und Kräfte ihrerseits die Wirtschaft im stärksten Maße
beeinflussen können. Und dazu kommt noch ein wesentlicher Punkt: mit der
Ableitung neuer geschichtlicher Tatsachen aus Veränderungen der wirtschaftlichen
Verhältnisse kann eine Erklärung in der Regel schon deswegen nicht abgeschlossen
sein, weil die Wirtschaft eines Volkes kein in sich selbst ruhendes Gebilde ist,
sondern ihrerseits wieder von vielen anderen Ursachen, insbesondere den wirt¬
schaftenden Menschen und ihrer seelischen Verfassung abhängt.

Doch nehmen wir jetzt den Faden unserer Betrachtung wieder auf. Von
der patriarchalischen Großfamilie, die wir eben kennen gelernt haben, schreiten
wir weiter zu der nächst jüngeren Form. Wir können sie als patriarchalische
Kleinfamilie bezeichnen. Sie hat sich auf dem Boden der heutigen westeuro-


Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

gelegentlich (Phasen der Liebe, Seite 210) mit dieser Lehre auseinandergesetzt
und unterscheidet mit Recht in Übereinstimmung mit anderen Autoren zwischen
der ursprünglichen radikalen und einer gemäßigten Form der Theorie, von denen
die eine eine unbedingte, die andere eine stark eingeschränkte Abhängigkeit der
übrigen Kultur von der Wirtschaft behauptet. Die erstere Behauptung ist
ebenso verfehlt wie die Richtigkeit der letzteren unbestreitbar ist. Freilich,
möchten wir hinzufügen, darf man die Tragweite dieser Lehre auch in der
gemäßigten Form nicht überschätzen und ihren Sinn nicht mißverstehen. Es ist
namentlich zu beachten, daß in dem Begriff der Wirtschaft zwei ganz verschiedene
Reihen von Tatsachen zusammengefaßt sind. Wenn eine nomadische Eroberer¬
schar z. B. eine ackerbautreibende Bevölkerung sich dienstbar macht und sich von
ihr ernähren läßt, ohne daß die Produktion von Nahrungsmitteln durch diese
selbst erheblich geändert wird, so kann man diesen Vorgang ebensogut als einen
gesellschaftlichen wie als einen wirtschaftlichen auffassen. Das Wesentliche dabei
ist die Veränderung in der Verteilung der Nahrung; dagegen ist die Technik der
Ernährung, das heißt die Art, wie die seßhafte Schicht mit der Natur verkehrt
und ihr die Nahrung abgewinnt, im wesentlichen unverändert geblieben.
Man hat mit anderen Worten zwischen einer technischen und einer sozialen Seite
der Wirtschaft zu unterscheiden. Und alles, was in das letztere Gebiet fällt,
kann man ebensogut der gesellschaftlichen Seite der Kultur zurechnen. Namentlich
darf man die Lehre nicht so verstehen, als ob wirtschaftliche Motive die einzigen
treibenden Kräfte des geschichtlichen Lebens wären. Schon die Entstehung der
Erobererstaaten darf man nicht, wie es öfter geschieht, lediglich auf das Ver¬
langen nach wirtschaftlichen Gütern, nach Reichtum, bequemer und angenehmer
Ernährung usw. zurückführen. Selbst in unserem heutigen Leben sehen wir
von einer gewissen Höhe des Besitzes an aufwärts das Trachten nach größeren:
Reichtum weniger der Schätzung der Luxusgüter an sich als dem Bestreben
entspringen, durch die Schaustellung großen Besitzes sich eine bessere gesellschaft¬
liche Stellung zu erwerben. So muß auch die Eroberertätigkeit zum großen
Teil auf das Machtverlangen, das heißt auf einen gesellschaftlichen an Stelle eines
wirtschaftlichen Beweggrundes zurückgeführt werden. Wir sehen hieraus, wie die
gesellschaftlichen Zustände und Kräfte ihrerseits die Wirtschaft im stärksten Maße
beeinflussen können. Und dazu kommt noch ein wesentlicher Punkt: mit der
Ableitung neuer geschichtlicher Tatsachen aus Veränderungen der wirtschaftlichen
Verhältnisse kann eine Erklärung in der Regel schon deswegen nicht abgeschlossen
sein, weil die Wirtschaft eines Volkes kein in sich selbst ruhendes Gebilde ist,
sondern ihrerseits wieder von vielen anderen Ursachen, insbesondere den wirt¬
schaftenden Menschen und ihrer seelischen Verfassung abhängt.

Doch nehmen wir jetzt den Faden unserer Betrachtung wieder auf. Von
der patriarchalischen Großfamilie, die wir eben kennen gelernt haben, schreiten
wir weiter zu der nächst jüngeren Form. Wir können sie als patriarchalische
Kleinfamilie bezeichnen. Sie hat sich auf dem Boden der heutigen westeuro-


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[0478] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens gelegentlich (Phasen der Liebe, Seite 210) mit dieser Lehre auseinandergesetzt und unterscheidet mit Recht in Übereinstimmung mit anderen Autoren zwischen der ursprünglichen radikalen und einer gemäßigten Form der Theorie, von denen die eine eine unbedingte, die andere eine stark eingeschränkte Abhängigkeit der übrigen Kultur von der Wirtschaft behauptet. Die erstere Behauptung ist ebenso verfehlt wie die Richtigkeit der letzteren unbestreitbar ist. Freilich, möchten wir hinzufügen, darf man die Tragweite dieser Lehre auch in der gemäßigten Form nicht überschätzen und ihren Sinn nicht mißverstehen. Es ist namentlich zu beachten, daß in dem Begriff der Wirtschaft zwei ganz verschiedene Reihen von Tatsachen zusammengefaßt sind. Wenn eine nomadische Eroberer¬ schar z. B. eine ackerbautreibende Bevölkerung sich dienstbar macht und sich von ihr ernähren läßt, ohne daß die Produktion von Nahrungsmitteln durch diese selbst erheblich geändert wird, so kann man diesen Vorgang ebensogut als einen gesellschaftlichen wie als einen wirtschaftlichen auffassen. Das Wesentliche dabei ist die Veränderung in der Verteilung der Nahrung; dagegen ist die Technik der Ernährung, das heißt die Art, wie die seßhafte Schicht mit der Natur verkehrt und ihr die Nahrung abgewinnt, im wesentlichen unverändert geblieben. Man hat mit anderen Worten zwischen einer technischen und einer sozialen Seite der Wirtschaft zu unterscheiden. Und alles, was in das letztere Gebiet fällt, kann man ebensogut der gesellschaftlichen Seite der Kultur zurechnen. Namentlich darf man die Lehre nicht so verstehen, als ob wirtschaftliche Motive die einzigen treibenden Kräfte des geschichtlichen Lebens wären. Schon die Entstehung der Erobererstaaten darf man nicht, wie es öfter geschieht, lediglich auf das Ver¬ langen nach wirtschaftlichen Gütern, nach Reichtum, bequemer und angenehmer Ernährung usw. zurückführen. Selbst in unserem heutigen Leben sehen wir von einer gewissen Höhe des Besitzes an aufwärts das Trachten nach größeren: Reichtum weniger der Schätzung der Luxusgüter an sich als dem Bestreben entspringen, durch die Schaustellung großen Besitzes sich eine bessere gesellschaft¬ liche Stellung zu erwerben. So muß auch die Eroberertätigkeit zum großen Teil auf das Machtverlangen, das heißt auf einen gesellschaftlichen an Stelle eines wirtschaftlichen Beweggrundes zurückgeführt werden. Wir sehen hieraus, wie die gesellschaftlichen Zustände und Kräfte ihrerseits die Wirtschaft im stärksten Maße beeinflussen können. Und dazu kommt noch ein wesentlicher Punkt: mit der Ableitung neuer geschichtlicher Tatsachen aus Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse kann eine Erklärung in der Regel schon deswegen nicht abgeschlossen sein, weil die Wirtschaft eines Volkes kein in sich selbst ruhendes Gebilde ist, sondern ihrerseits wieder von vielen anderen Ursachen, insbesondere den wirt¬ schaftenden Menschen und ihrer seelischen Verfassung abhängt. Doch nehmen wir jetzt den Faden unserer Betrachtung wieder auf. Von der patriarchalischen Großfamilie, die wir eben kennen gelernt haben, schreiten wir weiter zu der nächst jüngeren Form. Wir können sie als patriarchalische Kleinfamilie bezeichnen. Sie hat sich auf dem Boden der heutigen westeuro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/478>, abgerufen am 28.07.2024.