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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

dieser Struktur. Sie liegt in den staatlichen Verhältnissen. Wir haben das
demokratische Gemeinschaftswesen der Naturvölker hinter uns gelassen und sind
in diejenigen Zustände eingetreten, auf die vielfach der Sprachgebrauch den
Begriff des Staates überhaupt beschränkt. Schon bei manchen ostafrikanischen
und bei fast allen polynesischen Stämmen finden wir mehr oder weniger des¬
potische Zustände und einen Gegensatz von Adel und Volk. Erst jetzt aber,
auf der Stufe der sogenannten Halbkulturvölker, hat sich der Erobererstaat
mit seinem Gegensatz einer eingeivandertcn herrschenden Aristokratie und einer
ursprünglich seßhaften unterworfenen Bevölkerung völlig entfaltet. Und diese
Form des menschlichen Zusammenlebens erweist sich in der Geschichte als un¬
entbehrliche Vorstufe und unvermeidliches Durchgangsstadium für alle höhere
staatliche Ordnung und alle höhere Kultur überhaupt; von ihr haben alle
höheren Formen der menschlichen Gesittung aber auch den Klassencharakter
erhalten, der in größerem oder geringerem Grade ihnen überall bis auf den
heutigen Tag eigen ist. Vom Klassencharakter des Staates und der Gesellschaft
zu hören sind wir leider in erster Linie im Zusammenhang der Politik und
des Parteilebens gewohnt. "Leider" müssen wir sagen, weil uns durch den
Zusammenhang mit der Politik die Erforschung der Wahrheit und ihre
Würdigung erschwert wird. Die Wissenschaft, soweit sie "bürgerlich" ist, hat
sich mit wenigen Ausnahmen bislang viel zu wenig um den Klassencharakter
unserer Zustände bekümmert. Es ist eine Aufgabe der Zukunft festzustellen,
bis zu welchem Umfange und in welchen Formen er zu verschiedenen Zeiten
vorhanden gewesen ist und noch heute besteht, welchen Einfluß er auf Moral.
Religion, Kunst und Weltanschauung ausgeübt hat und welche fördernden und
hemmenden Wirkungen überhaupt mit ihm verbunden waren und sind.

Dieser Klassencharakter des Erobererstaates greift nun auch auf die übrigen
Seiten des Lebens über. Die Menschen haben gleichsam die Wonne der Macht
erst kennen gelernt und suchen nun, soweit sie die stärkeren sind, ihren Macht¬
trieb überall zu befriedigen. So kommt es, daß der Staat auch im Familien¬
leben den herrschaftlichen Charakter erst recht zur Geltung bringt, wenn er auch
anderseits die Bethätigung dieses Charakters im Interesse seiner eigenen Macht
immer mehr einschränkt.

Wir lernen hier an einem besonderen Fall eine wichtige allgemeine Frage
kennen, der wir hier einige Worte widmen müssen. Es ist die Frage nach dem
Zusammenhang der verschiedenen Kulturgüter untereinander. Wir sahen eben,
wie die Form der Familie von der Art der politischen Verhältnisse abhängig
ist. Gibt es für derartige Abhängigkeiten allgemeine Gesetze? Bekannt ist hier
die Theorie des sogenannten Marxismus oder der materialistischen Geschichts¬
philosophie. Für sie hängen alle übrigen Kulturgüter von den wirtschaftlichen
Zuständen ab. Diese bestimmen mit zwingender Gewalt die gesamte Kultur
eines Volkes; nur wenn sie sich ändern und jedesmal, wenn sie sich ändern,
ändern sich auch die übrigen kulturellen Zustände. Müller-Lyer hat sich


Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens

dieser Struktur. Sie liegt in den staatlichen Verhältnissen. Wir haben das
demokratische Gemeinschaftswesen der Naturvölker hinter uns gelassen und sind
in diejenigen Zustände eingetreten, auf die vielfach der Sprachgebrauch den
Begriff des Staates überhaupt beschränkt. Schon bei manchen ostafrikanischen
und bei fast allen polynesischen Stämmen finden wir mehr oder weniger des¬
potische Zustände und einen Gegensatz von Adel und Volk. Erst jetzt aber,
auf der Stufe der sogenannten Halbkulturvölker, hat sich der Erobererstaat
mit seinem Gegensatz einer eingeivandertcn herrschenden Aristokratie und einer
ursprünglich seßhaften unterworfenen Bevölkerung völlig entfaltet. Und diese
Form des menschlichen Zusammenlebens erweist sich in der Geschichte als un¬
entbehrliche Vorstufe und unvermeidliches Durchgangsstadium für alle höhere
staatliche Ordnung und alle höhere Kultur überhaupt; von ihr haben alle
höheren Formen der menschlichen Gesittung aber auch den Klassencharakter
erhalten, der in größerem oder geringerem Grade ihnen überall bis auf den
heutigen Tag eigen ist. Vom Klassencharakter des Staates und der Gesellschaft
zu hören sind wir leider in erster Linie im Zusammenhang der Politik und
des Parteilebens gewohnt. „Leider" müssen wir sagen, weil uns durch den
Zusammenhang mit der Politik die Erforschung der Wahrheit und ihre
Würdigung erschwert wird. Die Wissenschaft, soweit sie „bürgerlich" ist, hat
sich mit wenigen Ausnahmen bislang viel zu wenig um den Klassencharakter
unserer Zustände bekümmert. Es ist eine Aufgabe der Zukunft festzustellen,
bis zu welchem Umfange und in welchen Formen er zu verschiedenen Zeiten
vorhanden gewesen ist und noch heute besteht, welchen Einfluß er auf Moral.
Religion, Kunst und Weltanschauung ausgeübt hat und welche fördernden und
hemmenden Wirkungen überhaupt mit ihm verbunden waren und sind.

Dieser Klassencharakter des Erobererstaates greift nun auch auf die übrigen
Seiten des Lebens über. Die Menschen haben gleichsam die Wonne der Macht
erst kennen gelernt und suchen nun, soweit sie die stärkeren sind, ihren Macht¬
trieb überall zu befriedigen. So kommt es, daß der Staat auch im Familien¬
leben den herrschaftlichen Charakter erst recht zur Geltung bringt, wenn er auch
anderseits die Bethätigung dieses Charakters im Interesse seiner eigenen Macht
immer mehr einschränkt.

Wir lernen hier an einem besonderen Fall eine wichtige allgemeine Frage
kennen, der wir hier einige Worte widmen müssen. Es ist die Frage nach dem
Zusammenhang der verschiedenen Kulturgüter untereinander. Wir sahen eben,
wie die Form der Familie von der Art der politischen Verhältnisse abhängig
ist. Gibt es für derartige Abhängigkeiten allgemeine Gesetze? Bekannt ist hier
die Theorie des sogenannten Marxismus oder der materialistischen Geschichts¬
philosophie. Für sie hängen alle übrigen Kulturgüter von den wirtschaftlichen
Zuständen ab. Diese bestimmen mit zwingender Gewalt die gesamte Kultur
eines Volkes; nur wenn sie sich ändern und jedesmal, wenn sie sich ändern,
ändern sich auch die übrigen kulturellen Zustände. Müller-Lyer hat sich


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[0477] Die Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens dieser Struktur. Sie liegt in den staatlichen Verhältnissen. Wir haben das demokratische Gemeinschaftswesen der Naturvölker hinter uns gelassen und sind in diejenigen Zustände eingetreten, auf die vielfach der Sprachgebrauch den Begriff des Staates überhaupt beschränkt. Schon bei manchen ostafrikanischen und bei fast allen polynesischen Stämmen finden wir mehr oder weniger des¬ potische Zustände und einen Gegensatz von Adel und Volk. Erst jetzt aber, auf der Stufe der sogenannten Halbkulturvölker, hat sich der Erobererstaat mit seinem Gegensatz einer eingeivandertcn herrschenden Aristokratie und einer ursprünglich seßhaften unterworfenen Bevölkerung völlig entfaltet. Und diese Form des menschlichen Zusammenlebens erweist sich in der Geschichte als un¬ entbehrliche Vorstufe und unvermeidliches Durchgangsstadium für alle höhere staatliche Ordnung und alle höhere Kultur überhaupt; von ihr haben alle höheren Formen der menschlichen Gesittung aber auch den Klassencharakter erhalten, der in größerem oder geringerem Grade ihnen überall bis auf den heutigen Tag eigen ist. Vom Klassencharakter des Staates und der Gesellschaft zu hören sind wir leider in erster Linie im Zusammenhang der Politik und des Parteilebens gewohnt. „Leider" müssen wir sagen, weil uns durch den Zusammenhang mit der Politik die Erforschung der Wahrheit und ihre Würdigung erschwert wird. Die Wissenschaft, soweit sie „bürgerlich" ist, hat sich mit wenigen Ausnahmen bislang viel zu wenig um den Klassencharakter unserer Zustände bekümmert. Es ist eine Aufgabe der Zukunft festzustellen, bis zu welchem Umfange und in welchen Formen er zu verschiedenen Zeiten vorhanden gewesen ist und noch heute besteht, welchen Einfluß er auf Moral. Religion, Kunst und Weltanschauung ausgeübt hat und welche fördernden und hemmenden Wirkungen überhaupt mit ihm verbunden waren und sind. Dieser Klassencharakter des Erobererstaates greift nun auch auf die übrigen Seiten des Lebens über. Die Menschen haben gleichsam die Wonne der Macht erst kennen gelernt und suchen nun, soweit sie die stärkeren sind, ihren Macht¬ trieb überall zu befriedigen. So kommt es, daß der Staat auch im Familien¬ leben den herrschaftlichen Charakter erst recht zur Geltung bringt, wenn er auch anderseits die Bethätigung dieses Charakters im Interesse seiner eigenen Macht immer mehr einschränkt. Wir lernen hier an einem besonderen Fall eine wichtige allgemeine Frage kennen, der wir hier einige Worte widmen müssen. Es ist die Frage nach dem Zusammenhang der verschiedenen Kulturgüter untereinander. Wir sahen eben, wie die Form der Familie von der Art der politischen Verhältnisse abhängig ist. Gibt es für derartige Abhängigkeiten allgemeine Gesetze? Bekannt ist hier die Theorie des sogenannten Marxismus oder der materialistischen Geschichts¬ philosophie. Für sie hängen alle übrigen Kulturgüter von den wirtschaftlichen Zuständen ab. Diese bestimmen mit zwingender Gewalt die gesamte Kultur eines Volkes; nur wenn sie sich ändern und jedesmal, wenn sie sich ändern, ändern sich auch die übrigen kulturellen Zustände. Müller-Lyer hat sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/477>, abgerufen am 28.07.2024.