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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Engländer

Verhältnissen eine Vorstellung davon machen. Von den großen Engländern des
vorigen Jahrhunderts haben die wenigsten mit ihrem Volke Fühlung gehabt,
nicht wenige haben wie Byron und Shelley in selbstgewählter Verbannung
gelebt, und die radikalen Denker und Forscher haben sich zu allen Zeiten nur
durch Konzessionen halten können, die sie dem überlieferten kirchlichen Standpunkt
machten. Wie weit auch jetzt noch dieser Abstand, wie gering die Fühlung
zwischen den geistig selbständigen und den regierenden Klassen ist, zeigt die Tatsache,
daß von den Mitgliedern des Ministeriums Asquith drei bei der Kriegserklärung ihre
Ämter niederlegen konnten, darunter der Unterrichtsminister und der einzige nam¬
hafte Schriftsteller, der der Regierung angehörte, ohne daß dieses auf den Gang
der Dinge und die herrschende Stimmung irgendwelchen Einfluß gehabt hätte.

Ein solches Volk ist leicht zu leiten, wenn die Führer seine Überlieferung
und seine Instinkte kennen und teilen. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß
es geeignet sei, aus sich selbst heraus frei und groß seine Geschichte zu bestimmen.
Es wird sich widersetzen, wenn jene verletzt werden, wie im Homerulestreit, aber
es wird sich wenig widerstandsfähig erweisen, wenn sie geschickt benutzt werden,
und vor allem wenn die Gewinnsucht der Geschäftswelt mit ins Spiel gezogen
wird. In solchen Fällen wird die public opinion bisweilen zu den stärksten
Irrtümern verleitet werden können, und die Regierung kann auf die Leicht¬
gläubigkeit der Nation zählen. Nur so ist es erklärlich, wenn Sir Edward
Grey dem Parlament in jener entscheidenden Sitzung vorerzählen konnte: erstens,
daß die englische Regierung sich durch ihr Bündnis mit Frankreich nicht gebunden
habe, und zweitens, daß die Teilnahme an dem europäischen Kriege geschäftlich
vorteilhafter sei als Neutralität. In der Haltung des Parlaments wie des Volks
bei dieser Gelegenheit wird man vielleicht mit mehr Recht ein Symptom in¬
tellektueller Schwäche als eines moralischen Niedergangs zu sehen haben.

England hat ^nicht nur durch den Parlamentarismus und die Schwur¬
gerichte, sondern auch durch das im weiten Umfang gewährte Asylrecht für
politisch Verfolgte den berechtigten Ruf eines Landes der Freiheit erlangt.
Aber an diesen hat sich bei uns mit beträchtlich geringerer Berechtigung die
Vorstellung von einem politischen Idealismus geknüpft, von einer Großherzig¬
keit den Freunden wie den Gegnern gegenüber. Schon Elisabeth galt als
Schützerin des Protestantismus; man schrieb ihr eine Politik der protestantischen
Überzeugung zu, die der diplomatisch klugen Renaissancefürstin fern gelegen
hat. Daß sie diesen Ruf ihren spanischen Feinden gegenüber auszunutzen ge¬
wußt hat, wird ihr freilich niemand verübeln, und wie oft hat sich eine ähn¬
liche Konstellation in der englischen Geschichte wiederholt! Ja, von den Tagen
der Puritanerherrschaft und Cromwells Regierung her ist es geradezu Über¬
lieferung geworden, alle Geschäfte wie Eroberungsgelüste mit einem Mantel von
Humanitätsgründen und religiösem oder sonstigem Idealismus zu behängen,
und alle Eroberungskriege im Namen des Rechts zu führen (wozu diesesmal
Belgien herhalten mußte). Der schärfste Kritiker, den die Engländer und ihre


Die Engländer

Verhältnissen eine Vorstellung davon machen. Von den großen Engländern des
vorigen Jahrhunderts haben die wenigsten mit ihrem Volke Fühlung gehabt,
nicht wenige haben wie Byron und Shelley in selbstgewählter Verbannung
gelebt, und die radikalen Denker und Forscher haben sich zu allen Zeiten nur
durch Konzessionen halten können, die sie dem überlieferten kirchlichen Standpunkt
machten. Wie weit auch jetzt noch dieser Abstand, wie gering die Fühlung
zwischen den geistig selbständigen und den regierenden Klassen ist, zeigt die Tatsache,
daß von den Mitgliedern des Ministeriums Asquith drei bei der Kriegserklärung ihre
Ämter niederlegen konnten, darunter der Unterrichtsminister und der einzige nam¬
hafte Schriftsteller, der der Regierung angehörte, ohne daß dieses auf den Gang
der Dinge und die herrschende Stimmung irgendwelchen Einfluß gehabt hätte.

Ein solches Volk ist leicht zu leiten, wenn die Führer seine Überlieferung
und seine Instinkte kennen und teilen. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß
es geeignet sei, aus sich selbst heraus frei und groß seine Geschichte zu bestimmen.
Es wird sich widersetzen, wenn jene verletzt werden, wie im Homerulestreit, aber
es wird sich wenig widerstandsfähig erweisen, wenn sie geschickt benutzt werden,
und vor allem wenn die Gewinnsucht der Geschäftswelt mit ins Spiel gezogen
wird. In solchen Fällen wird die public opinion bisweilen zu den stärksten
Irrtümern verleitet werden können, und die Regierung kann auf die Leicht¬
gläubigkeit der Nation zählen. Nur so ist es erklärlich, wenn Sir Edward
Grey dem Parlament in jener entscheidenden Sitzung vorerzählen konnte: erstens,
daß die englische Regierung sich durch ihr Bündnis mit Frankreich nicht gebunden
habe, und zweitens, daß die Teilnahme an dem europäischen Kriege geschäftlich
vorteilhafter sei als Neutralität. In der Haltung des Parlaments wie des Volks
bei dieser Gelegenheit wird man vielleicht mit mehr Recht ein Symptom in¬
tellektueller Schwäche als eines moralischen Niedergangs zu sehen haben.

England hat ^nicht nur durch den Parlamentarismus und die Schwur¬
gerichte, sondern auch durch das im weiten Umfang gewährte Asylrecht für
politisch Verfolgte den berechtigten Ruf eines Landes der Freiheit erlangt.
Aber an diesen hat sich bei uns mit beträchtlich geringerer Berechtigung die
Vorstellung von einem politischen Idealismus geknüpft, von einer Großherzig¬
keit den Freunden wie den Gegnern gegenüber. Schon Elisabeth galt als
Schützerin des Protestantismus; man schrieb ihr eine Politik der protestantischen
Überzeugung zu, die der diplomatisch klugen Renaissancefürstin fern gelegen
hat. Daß sie diesen Ruf ihren spanischen Feinden gegenüber auszunutzen ge¬
wußt hat, wird ihr freilich niemand verübeln, und wie oft hat sich eine ähn¬
liche Konstellation in der englischen Geschichte wiederholt! Ja, von den Tagen
der Puritanerherrschaft und Cromwells Regierung her ist es geradezu Über¬
lieferung geworden, alle Geschäfte wie Eroberungsgelüste mit einem Mantel von
Humanitätsgründen und religiösem oder sonstigem Idealismus zu behängen,
und alle Eroberungskriege im Namen des Rechts zu führen (wozu diesesmal
Belgien herhalten mußte). Der schärfste Kritiker, den die Engländer und ihre


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[0470] Die Engländer Verhältnissen eine Vorstellung davon machen. Von den großen Engländern des vorigen Jahrhunderts haben die wenigsten mit ihrem Volke Fühlung gehabt, nicht wenige haben wie Byron und Shelley in selbstgewählter Verbannung gelebt, und die radikalen Denker und Forscher haben sich zu allen Zeiten nur durch Konzessionen halten können, die sie dem überlieferten kirchlichen Standpunkt machten. Wie weit auch jetzt noch dieser Abstand, wie gering die Fühlung zwischen den geistig selbständigen und den regierenden Klassen ist, zeigt die Tatsache, daß von den Mitgliedern des Ministeriums Asquith drei bei der Kriegserklärung ihre Ämter niederlegen konnten, darunter der Unterrichtsminister und der einzige nam¬ hafte Schriftsteller, der der Regierung angehörte, ohne daß dieses auf den Gang der Dinge und die herrschende Stimmung irgendwelchen Einfluß gehabt hätte. Ein solches Volk ist leicht zu leiten, wenn die Führer seine Überlieferung und seine Instinkte kennen und teilen. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, daß es geeignet sei, aus sich selbst heraus frei und groß seine Geschichte zu bestimmen. Es wird sich widersetzen, wenn jene verletzt werden, wie im Homerulestreit, aber es wird sich wenig widerstandsfähig erweisen, wenn sie geschickt benutzt werden, und vor allem wenn die Gewinnsucht der Geschäftswelt mit ins Spiel gezogen wird. In solchen Fällen wird die public opinion bisweilen zu den stärksten Irrtümern verleitet werden können, und die Regierung kann auf die Leicht¬ gläubigkeit der Nation zählen. Nur so ist es erklärlich, wenn Sir Edward Grey dem Parlament in jener entscheidenden Sitzung vorerzählen konnte: erstens, daß die englische Regierung sich durch ihr Bündnis mit Frankreich nicht gebunden habe, und zweitens, daß die Teilnahme an dem europäischen Kriege geschäftlich vorteilhafter sei als Neutralität. In der Haltung des Parlaments wie des Volks bei dieser Gelegenheit wird man vielleicht mit mehr Recht ein Symptom in¬ tellektueller Schwäche als eines moralischen Niedergangs zu sehen haben. England hat ^nicht nur durch den Parlamentarismus und die Schwur¬ gerichte, sondern auch durch das im weiten Umfang gewährte Asylrecht für politisch Verfolgte den berechtigten Ruf eines Landes der Freiheit erlangt. Aber an diesen hat sich bei uns mit beträchtlich geringerer Berechtigung die Vorstellung von einem politischen Idealismus geknüpft, von einer Großherzig¬ keit den Freunden wie den Gegnern gegenüber. Schon Elisabeth galt als Schützerin des Protestantismus; man schrieb ihr eine Politik der protestantischen Überzeugung zu, die der diplomatisch klugen Renaissancefürstin fern gelegen hat. Daß sie diesen Ruf ihren spanischen Feinden gegenüber auszunutzen ge¬ wußt hat, wird ihr freilich niemand verübeln, und wie oft hat sich eine ähn¬ liche Konstellation in der englischen Geschichte wiederholt! Ja, von den Tagen der Puritanerherrschaft und Cromwells Regierung her ist es geradezu Über¬ lieferung geworden, alle Geschäfte wie Eroberungsgelüste mit einem Mantel von Humanitätsgründen und religiösem oder sonstigem Idealismus zu behängen, und alle Eroberungskriege im Namen des Rechts zu führen (wozu diesesmal Belgien herhalten mußte). Der schärfste Kritiker, den die Engländer und ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/470>, abgerufen am 28.07.2024.