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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die Engländer

Ruder zu erhalten sucht, indem sie die schlechtesten nationalen Instinkte eines
an sich nicht unedlen Volkes, Eitelkeit und Rachsucht, künstlich nährt und wach
erhält. England aber hat uns ohne Ursache und Anlaß unter einem künstlichen
Vorwand, der niemanden täuscht, angefallen. Ein eigentliches Streitobjekt, wie
etwa Elsaß-Lothringen, ist gar nicht vorhanden. Wo ein solches vorliegt, kann
man kämpfen und zu einem ehrlichen Frieden kommen, wo jedoch der Gegner
nur aus Neid und allgemeiner Gewinnsucht kämpft, ist ein Ende der Gegnerschaft
unabsehbar. Die entscheidende Rede Greys im englischen Parlament im Juli war
ein Gemisch von zynisch offener Berechnung von Gewinnchancen und phrasenhafter
Heuchelei, die jeder, auch jeder Engländer durchschauen mußte. Und gleichwohl hat
ihm das englische Parlament in weit überwiegender Mehrzahl "begeistert" zugestimmt.

Aber selbst dieses Verhalten würde an sich noch nicht genügen, die deutsche
Empörung in ihrer ganzen Stärke zu erklären. Die letzte Wurzel derselben
liegt vielmehr in der tiefen Enttäuschung, die wir erlitten haben. Weder Rußland
noch Frankreich gegenüber haben wir eine ähnliche Empfindung oder Grund, sie zu
hegen. Enttäuschungen dieser Art können nur aus Überschätzung hervorgehen,
und einer solchen haben wir uns -- das ist offenbar geworden -- dem Eng-
ländertum gegenüber schuldig gemacht, die höchstgebildetsten und welterfahrensten
von uns vielleicht am meisten. Nicht als ob wir uns über das Wohlwollen
Illusionen gemacht hätten, mit dem das englische Volk und seine Regierung auf
das Erblühen und Erstarken des Deutschen Reiches sähen -- es war dafür
gesorgt, daß das nicht geschehen konnte. Auch daß die Blutsverwandtschaft mit
dem deutschen Volke irgendwelche Rolle in der englischen Politik spielte und die
Entschlüsse leitender Staatsmänner in einem entscheidenden Momente beeinflussen
könnte, haben wohl nur optimistische Verehrer der Rassentheorie angenommen.
Niemand kann den Engländern einen Vorwurf daraus machen, daß sie sich nach
ihrem historischen Werdegang, nach ihrer inneren und äußeren Entwicklung nur
als Nation und allen anderen Nationen gleichmäßig fremd fühlen. "V/e are
neitlier Qsi'mans nor l?U88lau8" schrieb zu Beginn der kriegerischen Wirren
ein großes englisches Blatt, eines von den wenigen, die für Neutralität ein¬
traten. Allein was wir glaubten und allem Anschein nach glauben durften,
war, daß die englische Kultur in intellektueller und moralischer Hinsicht zu hoch
und zu allgemein sei, als daß diese Nation sich ohne Not und Zwang in einen
ungerechten Krieg stürzen oder stürzen lassen würde. Wir glaubten das um so
fester, als die parlamentarische Verfassung des Landes nach der bei uns all¬
gemein verbreiteten Anschauung eine Gewähr dafür gab, daß keine Regierung
ein solches Unternehmen durchführen könnte, wenn es nicht von dem Willen
einer überwältigenden Majorität getragen würde. Beide Anschauungen sind,
wie sich jetzt erweist, falsch, und es ist lehrreich, ja nötig, uns klar zu machen,
woraus unser Irrtum hervorging und wie die Wahrheit tatsächlich aussieht.

Zunächst das Vorurteil bezüglich des Parlamentarismus. Kenner der englischen
Verhältnisse wissen es freilich seit lange, daß das etc>u8e ok Lommon8 (vom


Die Engländer

Ruder zu erhalten sucht, indem sie die schlechtesten nationalen Instinkte eines
an sich nicht unedlen Volkes, Eitelkeit und Rachsucht, künstlich nährt und wach
erhält. England aber hat uns ohne Ursache und Anlaß unter einem künstlichen
Vorwand, der niemanden täuscht, angefallen. Ein eigentliches Streitobjekt, wie
etwa Elsaß-Lothringen, ist gar nicht vorhanden. Wo ein solches vorliegt, kann
man kämpfen und zu einem ehrlichen Frieden kommen, wo jedoch der Gegner
nur aus Neid und allgemeiner Gewinnsucht kämpft, ist ein Ende der Gegnerschaft
unabsehbar. Die entscheidende Rede Greys im englischen Parlament im Juli war
ein Gemisch von zynisch offener Berechnung von Gewinnchancen und phrasenhafter
Heuchelei, die jeder, auch jeder Engländer durchschauen mußte. Und gleichwohl hat
ihm das englische Parlament in weit überwiegender Mehrzahl „begeistert" zugestimmt.

Aber selbst dieses Verhalten würde an sich noch nicht genügen, die deutsche
Empörung in ihrer ganzen Stärke zu erklären. Die letzte Wurzel derselben
liegt vielmehr in der tiefen Enttäuschung, die wir erlitten haben. Weder Rußland
noch Frankreich gegenüber haben wir eine ähnliche Empfindung oder Grund, sie zu
hegen. Enttäuschungen dieser Art können nur aus Überschätzung hervorgehen,
und einer solchen haben wir uns — das ist offenbar geworden — dem Eng-
ländertum gegenüber schuldig gemacht, die höchstgebildetsten und welterfahrensten
von uns vielleicht am meisten. Nicht als ob wir uns über das Wohlwollen
Illusionen gemacht hätten, mit dem das englische Volk und seine Regierung auf
das Erblühen und Erstarken des Deutschen Reiches sähen — es war dafür
gesorgt, daß das nicht geschehen konnte. Auch daß die Blutsverwandtschaft mit
dem deutschen Volke irgendwelche Rolle in der englischen Politik spielte und die
Entschlüsse leitender Staatsmänner in einem entscheidenden Momente beeinflussen
könnte, haben wohl nur optimistische Verehrer der Rassentheorie angenommen.
Niemand kann den Engländern einen Vorwurf daraus machen, daß sie sich nach
ihrem historischen Werdegang, nach ihrer inneren und äußeren Entwicklung nur
als Nation und allen anderen Nationen gleichmäßig fremd fühlen. „V/e are
neitlier Qsi'mans nor l?U88lau8" schrieb zu Beginn der kriegerischen Wirren
ein großes englisches Blatt, eines von den wenigen, die für Neutralität ein¬
traten. Allein was wir glaubten und allem Anschein nach glauben durften,
war, daß die englische Kultur in intellektueller und moralischer Hinsicht zu hoch
und zu allgemein sei, als daß diese Nation sich ohne Not und Zwang in einen
ungerechten Krieg stürzen oder stürzen lassen würde. Wir glaubten das um so
fester, als die parlamentarische Verfassung des Landes nach der bei uns all¬
gemein verbreiteten Anschauung eine Gewähr dafür gab, daß keine Regierung
ein solches Unternehmen durchführen könnte, wenn es nicht von dem Willen
einer überwältigenden Majorität getragen würde. Beide Anschauungen sind,
wie sich jetzt erweist, falsch, und es ist lehrreich, ja nötig, uns klar zu machen,
woraus unser Irrtum hervorging und wie die Wahrheit tatsächlich aussieht.

Zunächst das Vorurteil bezüglich des Parlamentarismus. Kenner der englischen
Verhältnisse wissen es freilich seit lange, daß das etc>u8e ok Lommon8 (vom


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[0466] Die Engländer Ruder zu erhalten sucht, indem sie die schlechtesten nationalen Instinkte eines an sich nicht unedlen Volkes, Eitelkeit und Rachsucht, künstlich nährt und wach erhält. England aber hat uns ohne Ursache und Anlaß unter einem künstlichen Vorwand, der niemanden täuscht, angefallen. Ein eigentliches Streitobjekt, wie etwa Elsaß-Lothringen, ist gar nicht vorhanden. Wo ein solches vorliegt, kann man kämpfen und zu einem ehrlichen Frieden kommen, wo jedoch der Gegner nur aus Neid und allgemeiner Gewinnsucht kämpft, ist ein Ende der Gegnerschaft unabsehbar. Die entscheidende Rede Greys im englischen Parlament im Juli war ein Gemisch von zynisch offener Berechnung von Gewinnchancen und phrasenhafter Heuchelei, die jeder, auch jeder Engländer durchschauen mußte. Und gleichwohl hat ihm das englische Parlament in weit überwiegender Mehrzahl „begeistert" zugestimmt. Aber selbst dieses Verhalten würde an sich noch nicht genügen, die deutsche Empörung in ihrer ganzen Stärke zu erklären. Die letzte Wurzel derselben liegt vielmehr in der tiefen Enttäuschung, die wir erlitten haben. Weder Rußland noch Frankreich gegenüber haben wir eine ähnliche Empfindung oder Grund, sie zu hegen. Enttäuschungen dieser Art können nur aus Überschätzung hervorgehen, und einer solchen haben wir uns — das ist offenbar geworden — dem Eng- ländertum gegenüber schuldig gemacht, die höchstgebildetsten und welterfahrensten von uns vielleicht am meisten. Nicht als ob wir uns über das Wohlwollen Illusionen gemacht hätten, mit dem das englische Volk und seine Regierung auf das Erblühen und Erstarken des Deutschen Reiches sähen — es war dafür gesorgt, daß das nicht geschehen konnte. Auch daß die Blutsverwandtschaft mit dem deutschen Volke irgendwelche Rolle in der englischen Politik spielte und die Entschlüsse leitender Staatsmänner in einem entscheidenden Momente beeinflussen könnte, haben wohl nur optimistische Verehrer der Rassentheorie angenommen. Niemand kann den Engländern einen Vorwurf daraus machen, daß sie sich nach ihrem historischen Werdegang, nach ihrer inneren und äußeren Entwicklung nur als Nation und allen anderen Nationen gleichmäßig fremd fühlen. „V/e are neitlier Qsi'mans nor l?U88lau8" schrieb zu Beginn der kriegerischen Wirren ein großes englisches Blatt, eines von den wenigen, die für Neutralität ein¬ traten. Allein was wir glaubten und allem Anschein nach glauben durften, war, daß die englische Kultur in intellektueller und moralischer Hinsicht zu hoch und zu allgemein sei, als daß diese Nation sich ohne Not und Zwang in einen ungerechten Krieg stürzen oder stürzen lassen würde. Wir glaubten das um so fester, als die parlamentarische Verfassung des Landes nach der bei uns all¬ gemein verbreiteten Anschauung eine Gewähr dafür gab, daß keine Regierung ein solches Unternehmen durchführen könnte, wenn es nicht von dem Willen einer überwältigenden Majorität getragen würde. Beide Anschauungen sind, wie sich jetzt erweist, falsch, und es ist lehrreich, ja nötig, uns klar zu machen, woraus unser Irrtum hervorging und wie die Wahrheit tatsächlich aussieht. Zunächst das Vorurteil bezüglich des Parlamentarismus. Kenner der englischen Verhältnisse wissen es freilich seit lange, daß das etc>u8e ok Lommon8 (vom

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/466>, abgerufen am 23.12.2024.