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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Das Gouvernement Ssuwalki

waltung zu rechnen haben wird, das ist, glaube ich, geschehen. Unter der
russischen Herrschaft vor 1905, das ist vor dem Manifest vom 18. Oktober, war
Ssuwalki dasjenige von den zehn Gouvernements des Weichsslgebiets, in dem die
meisten Vergehen gegen den Staat vorkamen. Jetzt ist es an die zweite Stelle
gerückt. Es darf daraus geschlossen werden, daß in den letzten Jahren die aufsässigen
Bespopowcy weniger streng behandelt worden sind als vor 1905. Die Zukunft des
Gouvernements in sozialer und wirtschaftlicher Beziehung wird aber wohl im
wesentlichen davon abhängen, ob es gelingt, die Agrarfrage, die heute Litauer
und Polen, das sind Bauern und Großgrundbesitzer, scharf voneinander trennt,
glücklich zu lösen. Gegenwärtig gibt es gegen 200000 Seelen Landloser
außerhalb der Städte, und Ssuwalki stellt einen ungeheuren Prozentsatz für die
Sachsengängerei und sonstige Wanderarbeit im Westen. Einer Regierung, die
sich hier mit der indigenen litauischen Bevölkerung durch ihre in Kowno lebenden
Führer verständigt, und die auch die Juden geschickt in ihren wirtschaftlichen
Interessen befriedigt, dürste es dennoch nicht schwer fallen, das Gebiet in Ruhe einem
gesunden Fortschritt entgegenzufahren. Eine große Erleichterung für eine humane
Negierung ist für den Anfang die außerordentliche Anspruchslosigkeit der litauischen
Bevölkerung. Freilich hat sie mit um so größeren Ansprüchen bei den Juden
zu rechnen, die dabei kaum geneigt sein werden, Heeresdienst zu leisten, es
sei denn, daß es gelänge, sie mit Hilfe der nationalistischen Führer ganz allgemein
von der Notwendigkeit und der großen kulturellen Bedeutung des stehenden
Volksheeres für sie selbst zu überzeugen.

Literatur: JüsefKonczynski, Lehm moraln^ Spoken^erst^s polsIcieZo. Warszawa
1911, bei Gebethner K Wolff (Polnisch).
Herr'yk Radziszewski, Lot^stikÄS^KoInictvÄpc>c?!>tKoveA0>vI<rü!estvviepolsKiem
(1903/4). Warszawa 1908, bei E. Wende i S-ka (polnisch).
Wladnslaw Zukowski, Knauf Hanälov^ Zudernij Krülestwa volsKisZo. Warszawa
1904, Verlag des "Slvvo" (Polnisch).
Bohban Wasintynski, l^uänüso /^clovslca v lcrülestvvie polslciem, Warszawa
1911. Akt, Geh. Orgelbrand Söhne (polnisch).
Jahrbuch des Finanzministeriums, Ausgabe 1909 (russisch) amtlich.
M. Enwald und W. Lebedew, Die Verteidigungsmöglichkeiten der westlichen Grenz¬
gebiete Rußlands, eine militärgeographische Skizze. Se. Petersburg 1903 (russisch).
Jahrbuch der Landwirtschaftlichen Genossenschaften im Zartum Polen. Warschau
19 t2 (russisch).
Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees.



Das Gouvernement Ssuwalki

waltung zu rechnen haben wird, das ist, glaube ich, geschehen. Unter der
russischen Herrschaft vor 1905, das ist vor dem Manifest vom 18. Oktober, war
Ssuwalki dasjenige von den zehn Gouvernements des Weichsslgebiets, in dem die
meisten Vergehen gegen den Staat vorkamen. Jetzt ist es an die zweite Stelle
gerückt. Es darf daraus geschlossen werden, daß in den letzten Jahren die aufsässigen
Bespopowcy weniger streng behandelt worden sind als vor 1905. Die Zukunft des
Gouvernements in sozialer und wirtschaftlicher Beziehung wird aber wohl im
wesentlichen davon abhängen, ob es gelingt, die Agrarfrage, die heute Litauer
und Polen, das sind Bauern und Großgrundbesitzer, scharf voneinander trennt,
glücklich zu lösen. Gegenwärtig gibt es gegen 200000 Seelen Landloser
außerhalb der Städte, und Ssuwalki stellt einen ungeheuren Prozentsatz für die
Sachsengängerei und sonstige Wanderarbeit im Westen. Einer Regierung, die
sich hier mit der indigenen litauischen Bevölkerung durch ihre in Kowno lebenden
Führer verständigt, und die auch die Juden geschickt in ihren wirtschaftlichen
Interessen befriedigt, dürste es dennoch nicht schwer fallen, das Gebiet in Ruhe einem
gesunden Fortschritt entgegenzufahren. Eine große Erleichterung für eine humane
Negierung ist für den Anfang die außerordentliche Anspruchslosigkeit der litauischen
Bevölkerung. Freilich hat sie mit um so größeren Ansprüchen bei den Juden
zu rechnen, die dabei kaum geneigt sein werden, Heeresdienst zu leisten, es
sei denn, daß es gelänge, sie mit Hilfe der nationalistischen Führer ganz allgemein
von der Notwendigkeit und der großen kulturellen Bedeutung des stehenden
Volksheeres für sie selbst zu überzeugen.

Literatur: JüsefKonczynski, Lehm moraln^ Spoken^erst^s polsIcieZo. Warszawa
1911, bei Gebethner K Wolff (Polnisch).
Herr'yk Radziszewski, Lot^stikÄS^KoInictvÄpc>c?!>tKoveA0>vI<rü!estvviepolsKiem
(1903/4). Warszawa 1908, bei E. Wende i S-ka (polnisch).
Wladnslaw Zukowski, Knauf Hanälov^ Zudernij Krülestwa volsKisZo. Warszawa
1904, Verlag des »Slvvo« (Polnisch).
Bohban Wasintynski, l^uänüso /^clovslca v lcrülestvvie polslciem, Warszawa
1911. Akt, Geh. Orgelbrand Söhne (polnisch).
Jahrbuch des Finanzministeriums, Ausgabe 1909 (russisch) amtlich.
M. Enwald und W. Lebedew, Die Verteidigungsmöglichkeiten der westlichen Grenz¬
gebiete Rußlands, eine militärgeographische Skizze. Se. Petersburg 1903 (russisch).
Jahrbuch der Landwirtschaftlichen Genossenschaften im Zartum Polen. Warschau
19 t2 (russisch).
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[0464] Das Gouvernement Ssuwalki waltung zu rechnen haben wird, das ist, glaube ich, geschehen. Unter der russischen Herrschaft vor 1905, das ist vor dem Manifest vom 18. Oktober, war Ssuwalki dasjenige von den zehn Gouvernements des Weichsslgebiets, in dem die meisten Vergehen gegen den Staat vorkamen. Jetzt ist es an die zweite Stelle gerückt. Es darf daraus geschlossen werden, daß in den letzten Jahren die aufsässigen Bespopowcy weniger streng behandelt worden sind als vor 1905. Die Zukunft des Gouvernements in sozialer und wirtschaftlicher Beziehung wird aber wohl im wesentlichen davon abhängen, ob es gelingt, die Agrarfrage, die heute Litauer und Polen, das sind Bauern und Großgrundbesitzer, scharf voneinander trennt, glücklich zu lösen. Gegenwärtig gibt es gegen 200000 Seelen Landloser außerhalb der Städte, und Ssuwalki stellt einen ungeheuren Prozentsatz für die Sachsengängerei und sonstige Wanderarbeit im Westen. Einer Regierung, die sich hier mit der indigenen litauischen Bevölkerung durch ihre in Kowno lebenden Führer verständigt, und die auch die Juden geschickt in ihren wirtschaftlichen Interessen befriedigt, dürste es dennoch nicht schwer fallen, das Gebiet in Ruhe einem gesunden Fortschritt entgegenzufahren. Eine große Erleichterung für eine humane Negierung ist für den Anfang die außerordentliche Anspruchslosigkeit der litauischen Bevölkerung. Freilich hat sie mit um so größeren Ansprüchen bei den Juden zu rechnen, die dabei kaum geneigt sein werden, Heeresdienst zu leisten, es sei denn, daß es gelänge, sie mit Hilfe der nationalistischen Führer ganz allgemein von der Notwendigkeit und der großen kulturellen Bedeutung des stehenden Volksheeres für sie selbst zu überzeugen. Literatur: JüsefKonczynski, Lehm moraln^ Spoken^erst^s polsIcieZo. Warszawa 1911, bei Gebethner K Wolff (Polnisch). Herr'yk Radziszewski, Lot^stikÄS^KoInictvÄpc>c?!>tKoveA0>vI<rü!estvviepolsKiem (1903/4). Warszawa 1908, bei E. Wende i S-ka (polnisch). Wladnslaw Zukowski, Knauf Hanälov^ Zudernij Krülestwa volsKisZo. Warszawa 1904, Verlag des »Slvvo« (Polnisch). Bohban Wasintynski, l^uänüso /^clovslca v lcrülestvvie polslciem, Warszawa 1911. Akt, Geh. Orgelbrand Söhne (polnisch). Jahrbuch des Finanzministeriums, Ausgabe 1909 (russisch) amtlich. M. Enwald und W. Lebedew, Die Verteidigungsmöglichkeiten der westlichen Grenz¬ gebiete Rußlands, eine militärgeographische Skizze. Se. Petersburg 1903 (russisch). Jahrbuch der Landwirtschaftlichen Genossenschaften im Zartum Polen. Warschau 19 t2 (russisch). Arbeiten des Warschauer Statistischen Komitees.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/464>, abgerufen am 28.07.2024.