Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Gouvernement Ssuwalki

wo eine evangelische Kirche ist, gegen 900); ebensoviel Russen; diese bilden, ab¬
gesehen von den Beamten, ziemlich abgeschlossene Kolonien ganz im Süden in
den Kreisen Augustow, Ssuwalki und Seyny. Schließlich wohnen seit dem
fünfzehnten Jahrhundert in den Kreisen Kalvaria und Wilkowiski noch ein
halbes Tausend Tataren, die die polnische Sprache und Lebensweise angenommen
haben.

Litauer und Polen sind römisch-katholisch, die Russen jedoch in Sekten
gespalten. Gegen 20000 von ihnen gehören zu den sogenannten Alt¬
gläubigen (Sto.ro-obrjadce), ein sehr konservatives Element, das streng an den
alten russischen Gebräuchen festhält und am Zarentum hängt und somit dem
deutschen Regiment Schwierigkeiten bereiten dürfte. Neben ihnen stehen gegen
10000 Sektierer, die seit Jahrhunderten in offener Auflehnung gegen die Staats¬
kirche leben, teils sogenannte Bespopowcy, die keine vom Staat bestellten
Priester anerkennen, teils Gleichgläubige (Jedinowjern), die im Jahre 1800 der
russischen Staatskirche verbunden (uniert) wurden. Die übrigen Russen sind
als Offiziere und Beamte wohl ohne weiteres der Staatskirche zuzurechnen.

Das Vorhandensein der verschiedenen Arien von Altgläubigen in Ssulwalki stellt
den Verwaltungschef dieses Gebiets vor Aufgaben der Kulturpolitik, die in den übrigen
Gouvernements des Weichselgebiets nicht vorhanden sind. Die Altgläubigen, deren
es im inneren Rußland an die fünfzehn Millionen gibt, haben sich auf dem Konzil
von Moskau am 13. Mai 1667 von der Staatskirche getrennt; "scheinbar,"
schreibt Völker, "ging man wegen Nebensächlichkeiten auseinander." Es handelte
sich tatsächlich um Äußerlichkeiten des Gottesdienstes, um "eine Überspannung
des kultischen Momentes". Die Altgläubigen erwarten das Heil von der pein¬
lichsten Beobachtung der rituellen Vorschriften. "Der Jesusname wird Issus und
nicht, wie die revidierten Texte vorschlugen. Jissus ausgesprochen; nach dem
Gloria wird nach wie vor ein zweifaches, nicht ein dreifaches Hallelujah an¬
gestimmt." Man erkennt den Altgläubigen ohne weiteres daran, daß er beim
Gebet oder Schwur das Kreuz nicht mit drei Fingern schlägt, sondern mit
Zweien, mit dem Zeigefinger und Mittelfinger! -- Im Jahre 1905 hat die
russische Regierung die Altgläubigen dadurch versöhnt, daß sie die bis dahin
verschlossenen Kirchen öffnen ließ und das Kirchenvermögen wieder herausgab.
-- Unerbittlich zeigte sie sich bis in die jüngste Zeit nur gegen eine Absplitterung
der Altgläubigen, gegen die Bespopowcy. Bei der Spaltung der russischen
Kirche im Jahre 1667 war nur ein Bischof. Paul von Kolomna. mit zu den
Altgläubigen übergetreten, aber bald im Gefängnis gestorben. Die Bespspowcy
lehnten nun alle nicht von ihrem Bischof geweihten, sonst zu ihnen übergetretenen
Priester ab. Das hat das Aufhören der Sakramente zur Folge gehabt. "Das
Abendmahl wurde, solange der Vorrat reichte, mit .vornikonianischen' Hostien.
die zerrieben und neuem Teig beigemischt wurden, gefeiert---- Aus demselben
Grunde erfolgte die Preisgabe des sakramentalen Charakters der Ehe; die Folge
war eine heillose Verwirrung der Anschauungen ans diesem Gebiet, die zwischen


Das Gouvernement Ssuwalki

wo eine evangelische Kirche ist, gegen 900); ebensoviel Russen; diese bilden, ab¬
gesehen von den Beamten, ziemlich abgeschlossene Kolonien ganz im Süden in
den Kreisen Augustow, Ssuwalki und Seyny. Schließlich wohnen seit dem
fünfzehnten Jahrhundert in den Kreisen Kalvaria und Wilkowiski noch ein
halbes Tausend Tataren, die die polnische Sprache und Lebensweise angenommen
haben.

Litauer und Polen sind römisch-katholisch, die Russen jedoch in Sekten
gespalten. Gegen 20000 von ihnen gehören zu den sogenannten Alt¬
gläubigen (Sto.ro-obrjadce), ein sehr konservatives Element, das streng an den
alten russischen Gebräuchen festhält und am Zarentum hängt und somit dem
deutschen Regiment Schwierigkeiten bereiten dürfte. Neben ihnen stehen gegen
10000 Sektierer, die seit Jahrhunderten in offener Auflehnung gegen die Staats¬
kirche leben, teils sogenannte Bespopowcy, die keine vom Staat bestellten
Priester anerkennen, teils Gleichgläubige (Jedinowjern), die im Jahre 1800 der
russischen Staatskirche verbunden (uniert) wurden. Die übrigen Russen sind
als Offiziere und Beamte wohl ohne weiteres der Staatskirche zuzurechnen.

Das Vorhandensein der verschiedenen Arien von Altgläubigen in Ssulwalki stellt
den Verwaltungschef dieses Gebiets vor Aufgaben der Kulturpolitik, die in den übrigen
Gouvernements des Weichselgebiets nicht vorhanden sind. Die Altgläubigen, deren
es im inneren Rußland an die fünfzehn Millionen gibt, haben sich auf dem Konzil
von Moskau am 13. Mai 1667 von der Staatskirche getrennt; „scheinbar,"
schreibt Völker, „ging man wegen Nebensächlichkeiten auseinander." Es handelte
sich tatsächlich um Äußerlichkeiten des Gottesdienstes, um „eine Überspannung
des kultischen Momentes". Die Altgläubigen erwarten das Heil von der pein¬
lichsten Beobachtung der rituellen Vorschriften. „Der Jesusname wird Issus und
nicht, wie die revidierten Texte vorschlugen. Jissus ausgesprochen; nach dem
Gloria wird nach wie vor ein zweifaches, nicht ein dreifaches Hallelujah an¬
gestimmt." Man erkennt den Altgläubigen ohne weiteres daran, daß er beim
Gebet oder Schwur das Kreuz nicht mit drei Fingern schlägt, sondern mit
Zweien, mit dem Zeigefinger und Mittelfinger! — Im Jahre 1905 hat die
russische Regierung die Altgläubigen dadurch versöhnt, daß sie die bis dahin
verschlossenen Kirchen öffnen ließ und das Kirchenvermögen wieder herausgab.
— Unerbittlich zeigte sie sich bis in die jüngste Zeit nur gegen eine Absplitterung
der Altgläubigen, gegen die Bespopowcy. Bei der Spaltung der russischen
Kirche im Jahre 1667 war nur ein Bischof. Paul von Kolomna. mit zu den
Altgläubigen übergetreten, aber bald im Gefängnis gestorben. Die Bespspowcy
lehnten nun alle nicht von ihrem Bischof geweihten, sonst zu ihnen übergetretenen
Priester ab. Das hat das Aufhören der Sakramente zur Folge gehabt. „Das
Abendmahl wurde, solange der Vorrat reichte, mit .vornikonianischen' Hostien.
die zerrieben und neuem Teig beigemischt wurden, gefeiert---- Aus demselben
Grunde erfolgte die Preisgabe des sakramentalen Charakters der Ehe; die Folge
war eine heillose Verwirrung der Anschauungen ans diesem Gebiet, die zwischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0461" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329195"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Gouvernement Ssuwalki</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1544" prev="#ID_1543"> wo eine evangelische Kirche ist, gegen 900); ebensoviel Russen; diese bilden, ab¬<lb/>
gesehen von den Beamten, ziemlich abgeschlossene Kolonien ganz im Süden in<lb/>
den Kreisen Augustow, Ssuwalki und Seyny. Schließlich wohnen seit dem<lb/>
fünfzehnten Jahrhundert in den Kreisen Kalvaria und Wilkowiski noch ein<lb/>
halbes Tausend Tataren, die die polnische Sprache und Lebensweise angenommen<lb/>
haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1545"> Litauer und Polen sind römisch-katholisch, die Russen jedoch in Sekten<lb/>
gespalten. Gegen 20000 von ihnen gehören zu den sogenannten Alt¬<lb/>
gläubigen (Sto.ro-obrjadce), ein sehr konservatives Element, das streng an den<lb/>
alten russischen Gebräuchen festhält und am Zarentum hängt und somit dem<lb/>
deutschen Regiment Schwierigkeiten bereiten dürfte. Neben ihnen stehen gegen<lb/>
10000 Sektierer, die seit Jahrhunderten in offener Auflehnung gegen die Staats¬<lb/>
kirche leben, teils sogenannte Bespopowcy, die keine vom Staat bestellten<lb/>
Priester anerkennen, teils Gleichgläubige (Jedinowjern), die im Jahre 1800 der<lb/>
russischen Staatskirche verbunden (uniert) wurden. Die übrigen Russen sind<lb/>
als Offiziere und Beamte wohl ohne weiteres der Staatskirche zuzurechnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1546" next="#ID_1547"> Das Vorhandensein der verschiedenen Arien von Altgläubigen in Ssulwalki stellt<lb/>
den Verwaltungschef dieses Gebiets vor Aufgaben der Kulturpolitik, die in den übrigen<lb/>
Gouvernements des Weichselgebiets nicht vorhanden sind. Die Altgläubigen, deren<lb/>
es im inneren Rußland an die fünfzehn Millionen gibt, haben sich auf dem Konzil<lb/>
von Moskau am 13. Mai 1667 von der Staatskirche getrennt; &#x201E;scheinbar,"<lb/>
schreibt Völker, &#x201E;ging man wegen Nebensächlichkeiten auseinander." Es handelte<lb/>
sich tatsächlich um Äußerlichkeiten des Gottesdienstes, um &#x201E;eine Überspannung<lb/>
des kultischen Momentes". Die Altgläubigen erwarten das Heil von der pein¬<lb/>
lichsten Beobachtung der rituellen Vorschriften. &#x201E;Der Jesusname wird Issus und<lb/>
nicht, wie die revidierten Texte vorschlugen. Jissus ausgesprochen; nach dem<lb/>
Gloria wird nach wie vor ein zweifaches, nicht ein dreifaches Hallelujah an¬<lb/>
gestimmt." Man erkennt den Altgläubigen ohne weiteres daran, daß er beim<lb/>
Gebet oder Schwur das Kreuz nicht mit drei Fingern schlägt, sondern mit<lb/>
Zweien, mit dem Zeigefinger und Mittelfinger! &#x2014; Im Jahre 1905 hat die<lb/>
russische Regierung die Altgläubigen dadurch versöhnt, daß sie die bis dahin<lb/>
verschlossenen Kirchen öffnen ließ und das Kirchenvermögen wieder herausgab.<lb/>
&#x2014; Unerbittlich zeigte sie sich bis in die jüngste Zeit nur gegen eine Absplitterung<lb/>
der Altgläubigen, gegen die Bespopowcy. Bei der Spaltung der russischen<lb/>
Kirche im Jahre 1667 war nur ein Bischof. Paul von Kolomna. mit zu den<lb/>
Altgläubigen übergetreten, aber bald im Gefängnis gestorben. Die Bespspowcy<lb/>
lehnten nun alle nicht von ihrem Bischof geweihten, sonst zu ihnen übergetretenen<lb/>
Priester ab. Das hat das Aufhören der Sakramente zur Folge gehabt. &#x201E;Das<lb/>
Abendmahl wurde, solange der Vorrat reichte, mit .vornikonianischen' Hostien.<lb/>
die zerrieben und neuem Teig beigemischt wurden, gefeiert----    Aus demselben<lb/>
Grunde erfolgte die Preisgabe des sakramentalen Charakters der Ehe; die Folge<lb/>
war eine heillose Verwirrung der Anschauungen ans diesem Gebiet, die zwischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0461] Das Gouvernement Ssuwalki wo eine evangelische Kirche ist, gegen 900); ebensoviel Russen; diese bilden, ab¬ gesehen von den Beamten, ziemlich abgeschlossene Kolonien ganz im Süden in den Kreisen Augustow, Ssuwalki und Seyny. Schließlich wohnen seit dem fünfzehnten Jahrhundert in den Kreisen Kalvaria und Wilkowiski noch ein halbes Tausend Tataren, die die polnische Sprache und Lebensweise angenommen haben. Litauer und Polen sind römisch-katholisch, die Russen jedoch in Sekten gespalten. Gegen 20000 von ihnen gehören zu den sogenannten Alt¬ gläubigen (Sto.ro-obrjadce), ein sehr konservatives Element, das streng an den alten russischen Gebräuchen festhält und am Zarentum hängt und somit dem deutschen Regiment Schwierigkeiten bereiten dürfte. Neben ihnen stehen gegen 10000 Sektierer, die seit Jahrhunderten in offener Auflehnung gegen die Staats¬ kirche leben, teils sogenannte Bespopowcy, die keine vom Staat bestellten Priester anerkennen, teils Gleichgläubige (Jedinowjern), die im Jahre 1800 der russischen Staatskirche verbunden (uniert) wurden. Die übrigen Russen sind als Offiziere und Beamte wohl ohne weiteres der Staatskirche zuzurechnen. Das Vorhandensein der verschiedenen Arien von Altgläubigen in Ssulwalki stellt den Verwaltungschef dieses Gebiets vor Aufgaben der Kulturpolitik, die in den übrigen Gouvernements des Weichselgebiets nicht vorhanden sind. Die Altgläubigen, deren es im inneren Rußland an die fünfzehn Millionen gibt, haben sich auf dem Konzil von Moskau am 13. Mai 1667 von der Staatskirche getrennt; „scheinbar," schreibt Völker, „ging man wegen Nebensächlichkeiten auseinander." Es handelte sich tatsächlich um Äußerlichkeiten des Gottesdienstes, um „eine Überspannung des kultischen Momentes". Die Altgläubigen erwarten das Heil von der pein¬ lichsten Beobachtung der rituellen Vorschriften. „Der Jesusname wird Issus und nicht, wie die revidierten Texte vorschlugen. Jissus ausgesprochen; nach dem Gloria wird nach wie vor ein zweifaches, nicht ein dreifaches Hallelujah an¬ gestimmt." Man erkennt den Altgläubigen ohne weiteres daran, daß er beim Gebet oder Schwur das Kreuz nicht mit drei Fingern schlägt, sondern mit Zweien, mit dem Zeigefinger und Mittelfinger! — Im Jahre 1905 hat die russische Regierung die Altgläubigen dadurch versöhnt, daß sie die bis dahin verschlossenen Kirchen öffnen ließ und das Kirchenvermögen wieder herausgab. — Unerbittlich zeigte sie sich bis in die jüngste Zeit nur gegen eine Absplitterung der Altgläubigen, gegen die Bespopowcy. Bei der Spaltung der russischen Kirche im Jahre 1667 war nur ein Bischof. Paul von Kolomna. mit zu den Altgläubigen übergetreten, aber bald im Gefängnis gestorben. Die Bespspowcy lehnten nun alle nicht von ihrem Bischof geweihten, sonst zu ihnen übergetretenen Priester ab. Das hat das Aufhören der Sakramente zur Folge gehabt. „Das Abendmahl wurde, solange der Vorrat reichte, mit .vornikonianischen' Hostien. die zerrieben und neuem Teig beigemischt wurden, gefeiert---- Aus demselben Grunde erfolgte die Preisgabe des sakramentalen Charakters der Ehe; die Folge war eine heillose Verwirrung der Anschauungen ans diesem Gebiet, die zwischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/461
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/461>, abgerufen am 28.07.2024.