Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das slawische Kulturxroblem

gemeine Masse stark und gesund; sie lebt, mehrt sich, aristokratischer Schmerzen
bar, ist taub und blind durch den Kampf ums Brot, der es in die Fabriken
und in die Arme der Sozialdemokratie treibt, nur mit den kleinen Freuden
des häuslichen und persönlichen Lebens beschäftigt -- und erwartet alles übrige
von der Fürbitte der Muttergottes. ... Ich sehe das Volk im dritten Akt der
"Hochzeit" von Wyspianski symbolisiert. Da tanzt die liebliche Braut ihre
Polonäse und Mazurka in den Armen des riesigen Burschen. Da bricht Jasiek
sich durch die Paare Bahn und will sie trennen: "Zu den Waffen, zu Pferd!
Für PolenI Zum Aufstand I" Aber wie verzaubert tanzen die Paare weiter im
Takt. -- Jasiels Kraft bricht zusammen. Verzweiflung würgt ihn. Entsetzen und
Grauen schlagen ihn mit tätlicher Erstarrung, er fällt zur Erde, niedergetreten
von den dichten Reihen der Tänzer, die er vergebens zu trennen und zu den
Waffen zu rufen versucht hat.

Das ganze Problem der modernen polnischen Kultur liegt in diesem Bilde:
die Verzweiflung der Inhaber von Wappen, Landgütern und Kapitalien darüber,
daß sie kein Volk hinter sich haben, denn das Volk hat sich von ihnen ab¬
gewendet, da es ohne Rechte ist, ohne Ländereien und ohne Tradition. Das einzige,
was sie. die Jegomösci, mit ihm gemein haben, ist die Idee des polnischen Katholizis¬
mus, die Muttergottes von Czenstochau mit der Krone der polnischen Königin.

Die jüngste Generation fühlt, daß dies ein sehr lockeres Band ist und daß
ein innigeres und realeres geschaffen werden muß.

Zwischen Volk und Aristokratie hat sich eine neue Schicht herangebildet, die
proletarische Intelligenz, die mehr oder weniger niederer Herkunft ist. Einen
hervorragenden Platz nehmen in ihr heute schon die Söhne polnischer Juden
ein. die sich besonders in der Publizistik betätigen. Dieses Junge Pole" fand
sich der großen verflossenen Epoche der polnischen Romantik gegenüber, Dichtern
mit ausgeprägt aristokratischem, katholischem Empfinden. Der ganze geistige
Kampf der neuen demokratischen Geschlechter geht darauf aus, einen Anschluß
an diese Vergangenheit zu finden. Die Theorie strebt danach, den zeitgenössischen
Geist mit dem der vorausgegangenen Epoche auszusöhnen, um auf dieser
Grundlage eine neue individuelle polnische Kultur vorzubereiten. Diese Absicht
tritt am deutlichsten in den historischen Studien des Gelehrten I. K. Kochanowski
hervor. Wenn er in Warschau Vorträge hält, lauschen Tausende seiner Rede.
Eine seiner bevorzugtesten antithetischen Ideen ist die deutsch - polnische: "Über
dem Rhein und der Weichsel -- eine historische Antithese." Der Gegensatz
Zwischen der deutschen und der polnischen Rasse prägt sich im Gegensatz zwischen
Judividual- und Massenkultur aus. Das Hauptmerkmal der Gesellschaftsordnung
bei den Deutschen des Mittelalters ist der Feudalismus: zwei Personen lösen
sich aus der Menge und einigen sich über ein Rechtsverhältnis, das feudale
Verhältnis; in Polen entwickelte sich ein ganz anderer Verfassungstypus -- der
Verwandtschaftsverband. Hier trennt sich der einzelne nicht, um sich von der Masse
Zu lösen, er bleibt vielmehr in einer starken kommunistischen Verbindung, vor


Das slawische Kulturxroblem

gemeine Masse stark und gesund; sie lebt, mehrt sich, aristokratischer Schmerzen
bar, ist taub und blind durch den Kampf ums Brot, der es in die Fabriken
und in die Arme der Sozialdemokratie treibt, nur mit den kleinen Freuden
des häuslichen und persönlichen Lebens beschäftigt — und erwartet alles übrige
von der Fürbitte der Muttergottes. ... Ich sehe das Volk im dritten Akt der
„Hochzeit" von Wyspianski symbolisiert. Da tanzt die liebliche Braut ihre
Polonäse und Mazurka in den Armen des riesigen Burschen. Da bricht Jasiek
sich durch die Paare Bahn und will sie trennen: „Zu den Waffen, zu Pferd!
Für PolenI Zum Aufstand I" Aber wie verzaubert tanzen die Paare weiter im
Takt. — Jasiels Kraft bricht zusammen. Verzweiflung würgt ihn. Entsetzen und
Grauen schlagen ihn mit tätlicher Erstarrung, er fällt zur Erde, niedergetreten
von den dichten Reihen der Tänzer, die er vergebens zu trennen und zu den
Waffen zu rufen versucht hat.

Das ganze Problem der modernen polnischen Kultur liegt in diesem Bilde:
die Verzweiflung der Inhaber von Wappen, Landgütern und Kapitalien darüber,
daß sie kein Volk hinter sich haben, denn das Volk hat sich von ihnen ab¬
gewendet, da es ohne Rechte ist, ohne Ländereien und ohne Tradition. Das einzige,
was sie. die Jegomösci, mit ihm gemein haben, ist die Idee des polnischen Katholizis¬
mus, die Muttergottes von Czenstochau mit der Krone der polnischen Königin.

Die jüngste Generation fühlt, daß dies ein sehr lockeres Band ist und daß
ein innigeres und realeres geschaffen werden muß.

Zwischen Volk und Aristokratie hat sich eine neue Schicht herangebildet, die
proletarische Intelligenz, die mehr oder weniger niederer Herkunft ist. Einen
hervorragenden Platz nehmen in ihr heute schon die Söhne polnischer Juden
ein. die sich besonders in der Publizistik betätigen. Dieses Junge Pole» fand
sich der großen verflossenen Epoche der polnischen Romantik gegenüber, Dichtern
mit ausgeprägt aristokratischem, katholischem Empfinden. Der ganze geistige
Kampf der neuen demokratischen Geschlechter geht darauf aus, einen Anschluß
an diese Vergangenheit zu finden. Die Theorie strebt danach, den zeitgenössischen
Geist mit dem der vorausgegangenen Epoche auszusöhnen, um auf dieser
Grundlage eine neue individuelle polnische Kultur vorzubereiten. Diese Absicht
tritt am deutlichsten in den historischen Studien des Gelehrten I. K. Kochanowski
hervor. Wenn er in Warschau Vorträge hält, lauschen Tausende seiner Rede.
Eine seiner bevorzugtesten antithetischen Ideen ist die deutsch - polnische: „Über
dem Rhein und der Weichsel — eine historische Antithese." Der Gegensatz
Zwischen der deutschen und der polnischen Rasse prägt sich im Gegensatz zwischen
Judividual- und Massenkultur aus. Das Hauptmerkmal der Gesellschaftsordnung
bei den Deutschen des Mittelalters ist der Feudalismus: zwei Personen lösen
sich aus der Menge und einigen sich über ein Rechtsverhältnis, das feudale
Verhältnis; in Polen entwickelte sich ein ganz anderer Verfassungstypus — der
Verwandtschaftsverband. Hier trennt sich der einzelne nicht, um sich von der Masse
Zu lösen, er bleibt vielmehr in einer starken kommunistischen Verbindung, vor


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0437" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329171"/>
            <fw type="header" place="top"> Das slawische Kulturxroblem</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1463" prev="#ID_1462"> gemeine Masse stark und gesund; sie lebt, mehrt sich, aristokratischer Schmerzen<lb/>
bar, ist taub und blind durch den Kampf ums Brot, der es in die Fabriken<lb/>
und in die Arme der Sozialdemokratie treibt, nur mit den kleinen Freuden<lb/>
des häuslichen und persönlichen Lebens beschäftigt &#x2014; und erwartet alles übrige<lb/>
von der Fürbitte der Muttergottes. ... Ich sehe das Volk im dritten Akt der<lb/>
&#x201E;Hochzeit" von Wyspianski symbolisiert. Da tanzt die liebliche Braut ihre<lb/>
Polonäse und Mazurka in den Armen des riesigen Burschen. Da bricht Jasiek<lb/>
sich durch die Paare Bahn und will sie trennen: &#x201E;Zu den Waffen, zu Pferd!<lb/>
Für PolenI Zum Aufstand I" Aber wie verzaubert tanzen die Paare weiter im<lb/>
Takt. &#x2014; Jasiels Kraft bricht zusammen. Verzweiflung würgt ihn. Entsetzen und<lb/>
Grauen schlagen ihn mit tätlicher Erstarrung, er fällt zur Erde, niedergetreten<lb/>
von den dichten Reihen der Tänzer, die er vergebens zu trennen und zu den<lb/>
Waffen zu rufen versucht hat.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1464"> Das ganze Problem der modernen polnischen Kultur liegt in diesem Bilde:<lb/>
die Verzweiflung der Inhaber von Wappen, Landgütern und Kapitalien darüber,<lb/>
daß sie kein Volk hinter sich haben, denn das Volk hat sich von ihnen ab¬<lb/>
gewendet, da es ohne Rechte ist, ohne Ländereien und ohne Tradition. Das einzige,<lb/>
was sie. die Jegomösci, mit ihm gemein haben, ist die Idee des polnischen Katholizis¬<lb/>
mus, die Muttergottes von Czenstochau mit der Krone der polnischen Königin.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1465"> Die jüngste Generation fühlt, daß dies ein sehr lockeres Band ist und daß<lb/>
ein innigeres und realeres geschaffen werden muß.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1466" next="#ID_1467"> Zwischen Volk und Aristokratie hat sich eine neue Schicht herangebildet, die<lb/>
proletarische Intelligenz, die mehr oder weniger niederer Herkunft ist. Einen<lb/>
hervorragenden Platz nehmen in ihr heute schon die Söhne polnischer Juden<lb/>
ein. die sich besonders in der Publizistik betätigen. Dieses Junge Pole» fand<lb/>
sich der großen verflossenen Epoche der polnischen Romantik gegenüber, Dichtern<lb/>
mit ausgeprägt aristokratischem, katholischem Empfinden. Der ganze geistige<lb/>
Kampf der neuen demokratischen Geschlechter geht darauf aus, einen Anschluß<lb/>
an diese Vergangenheit zu finden. Die Theorie strebt danach, den zeitgenössischen<lb/>
Geist mit dem der vorausgegangenen Epoche auszusöhnen, um auf dieser<lb/>
Grundlage eine neue individuelle polnische Kultur vorzubereiten. Diese Absicht<lb/>
tritt am deutlichsten in den historischen Studien des Gelehrten I. K. Kochanowski<lb/>
hervor. Wenn er in Warschau Vorträge hält, lauschen Tausende seiner Rede.<lb/>
Eine seiner bevorzugtesten antithetischen Ideen ist die deutsch - polnische: &#x201E;Über<lb/>
dem Rhein und der Weichsel &#x2014; eine historische Antithese." Der Gegensatz<lb/>
Zwischen der deutschen und der polnischen Rasse prägt sich im Gegensatz zwischen<lb/>
Judividual- und Massenkultur aus. Das Hauptmerkmal der Gesellschaftsordnung<lb/>
bei den Deutschen des Mittelalters ist der Feudalismus: zwei Personen lösen<lb/>
sich aus der Menge und einigen sich über ein Rechtsverhältnis, das feudale<lb/>
Verhältnis; in Polen entwickelte sich ein ganz anderer Verfassungstypus &#x2014; der<lb/>
Verwandtschaftsverband. Hier trennt sich der einzelne nicht, um sich von der Masse<lb/>
Zu lösen, er bleibt vielmehr in einer starken kommunistischen Verbindung, vor</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0437] Das slawische Kulturxroblem gemeine Masse stark und gesund; sie lebt, mehrt sich, aristokratischer Schmerzen bar, ist taub und blind durch den Kampf ums Brot, der es in die Fabriken und in die Arme der Sozialdemokratie treibt, nur mit den kleinen Freuden des häuslichen und persönlichen Lebens beschäftigt — und erwartet alles übrige von der Fürbitte der Muttergottes. ... Ich sehe das Volk im dritten Akt der „Hochzeit" von Wyspianski symbolisiert. Da tanzt die liebliche Braut ihre Polonäse und Mazurka in den Armen des riesigen Burschen. Da bricht Jasiek sich durch die Paare Bahn und will sie trennen: „Zu den Waffen, zu Pferd! Für PolenI Zum Aufstand I" Aber wie verzaubert tanzen die Paare weiter im Takt. — Jasiels Kraft bricht zusammen. Verzweiflung würgt ihn. Entsetzen und Grauen schlagen ihn mit tätlicher Erstarrung, er fällt zur Erde, niedergetreten von den dichten Reihen der Tänzer, die er vergebens zu trennen und zu den Waffen zu rufen versucht hat. Das ganze Problem der modernen polnischen Kultur liegt in diesem Bilde: die Verzweiflung der Inhaber von Wappen, Landgütern und Kapitalien darüber, daß sie kein Volk hinter sich haben, denn das Volk hat sich von ihnen ab¬ gewendet, da es ohne Rechte ist, ohne Ländereien und ohne Tradition. Das einzige, was sie. die Jegomösci, mit ihm gemein haben, ist die Idee des polnischen Katholizis¬ mus, die Muttergottes von Czenstochau mit der Krone der polnischen Königin. Die jüngste Generation fühlt, daß dies ein sehr lockeres Band ist und daß ein innigeres und realeres geschaffen werden muß. Zwischen Volk und Aristokratie hat sich eine neue Schicht herangebildet, die proletarische Intelligenz, die mehr oder weniger niederer Herkunft ist. Einen hervorragenden Platz nehmen in ihr heute schon die Söhne polnischer Juden ein. die sich besonders in der Publizistik betätigen. Dieses Junge Pole» fand sich der großen verflossenen Epoche der polnischen Romantik gegenüber, Dichtern mit ausgeprägt aristokratischem, katholischem Empfinden. Der ganze geistige Kampf der neuen demokratischen Geschlechter geht darauf aus, einen Anschluß an diese Vergangenheit zu finden. Die Theorie strebt danach, den zeitgenössischen Geist mit dem der vorausgegangenen Epoche auszusöhnen, um auf dieser Grundlage eine neue individuelle polnische Kultur vorzubereiten. Diese Absicht tritt am deutlichsten in den historischen Studien des Gelehrten I. K. Kochanowski hervor. Wenn er in Warschau Vorträge hält, lauschen Tausende seiner Rede. Eine seiner bevorzugtesten antithetischen Ideen ist die deutsch - polnische: „Über dem Rhein und der Weichsel — eine historische Antithese." Der Gegensatz Zwischen der deutschen und der polnischen Rasse prägt sich im Gegensatz zwischen Judividual- und Massenkultur aus. Das Hauptmerkmal der Gesellschaftsordnung bei den Deutschen des Mittelalters ist der Feudalismus: zwei Personen lösen sich aus der Menge und einigen sich über ein Rechtsverhältnis, das feudale Verhältnis; in Polen entwickelte sich ein ganz anderer Verfassungstypus — der Verwandtschaftsverband. Hier trennt sich der einzelne nicht, um sich von der Masse Zu lösen, er bleibt vielmehr in einer starken kommunistischen Verbindung, vor

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/437
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/437>, abgerufen am 28.07.2024.