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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Petrograder Kultur

"Es gelang uns mit einer Persönlichkeit, die mit dem verstorbenen
Kattner nahe bekannt war, zu sprechen. Sie erzählt uns folgendes: Er
genoß volles Vertrauen, und die früheren Botschafter betrachteten ihn als
ihren Mann, vor dem man nichts zu verbergen brauchte. Graf Pourtalös
behandelte den Verstorbenen von oben herab und Kattner beklagte sich mehr
als einmal in der Unterhaltung mit mir über ihn. Obwohl Kattner deutscher
Reichsangehöriger und Angestellter an der Botschaft war, lebte er mit Russen
zusammen und hatte unter ihnen viele Freunde, mit denen er Beziehungen unter¬
hielt. Alle liebten ihn wegen seiner Ehrlichkeit und erstaunlichen Korrektheit.
Kattner lebte auf der zwölften Linie von Wassilij Ostrow, wo er ein möbliertes
Zimmer inne hatte. Am Tage der Kriegserklärung verließ er das Haus
und kam nicht mehr zurück. Alle Sachen waren im Zimmer geblieben
und er hatte niemanden davon verständigt, daß er nicht wieder in die
Wohnung zurückkehren werde. Während der Zeit seiner Anwesenheit auf der
Botschaft erfuhr Kattner sehr viel und unwillkürlich entsteht der Verdacht
(pociosrjenje), daß seine Anwesenheit in Petersburg den deutschen Behörden
unerwünscht sein konnte.

Es ist mindestens seltsam, daß Graf Pourtalös, als er Petersburg mit
allen Beamten und Angestellten, sowohl der Botschaft wie der Kanzlei, verließ,
den Übersetzer Kattner in der Batschaft ließ, außerdem verständigte der letztere
seine Ouartierwirtm nicht davon und überführte nicht seine Sachen.

Seit dem Tage der Kriegserklärung hat niemand mehr Kattner gesehen,
und er hat keinem seiner Freunde telephonisch mitgeteilt, daß er in Peters¬
burg geblieben sei."

So das erste Blatt Petersburgs, das Organ der Petersburger hohen
Beamtenschaft!

Nur zur Vervollständigung des Sachverhalts sei diesen Ausführungen
gegenüber festgestellt, daß unser Gewährsmann selbst und verschiedene andere
Personen noch am Tage vor dem Sturm auf die Botschaft, und am Morgen
des fraglichen Dienstag, den Ermordeten gesehen und gesprochen haben. Ein
anderer Gewährsmann hat ferner eine Empfangsbescheinigung über einige
Gegenstände des Konsulats in Kowno, die am Dienstag ausgestellt und von
Kattner unterschrieben war, gesehen. Konsul Freiherr von Lerchenfeld, Konfulats-
sekretär Göring und Frau, Kanzlist Limbertz, Kanzlerdragoman Woronowicz,
der zuständige Polizeipristaw selbst wissen dasselbe. Um so auffälliger ist auch
diesen Tatsachen gegenüber das Gerücht, das sich über diese Ermordung sofort
gebildet zu haben scheint. Wenigstens sagte einer von den herumlungernden
Leuten nachts gegen 2 Uhr, man habe in der Botschaft einen Toten gefunden.
Auf die Frage, was für einen, erwiderte er: einen Russen. "Er war schon
verfault I"

Die Regierung stellt sich auf den Standpunkt, daß die Menge erbittert
gewesen sei wegen der angeblich schlechten Behandlung Swerbejews in Berlin, und


Petrograder Kultur

„Es gelang uns mit einer Persönlichkeit, die mit dem verstorbenen
Kattner nahe bekannt war, zu sprechen. Sie erzählt uns folgendes: Er
genoß volles Vertrauen, und die früheren Botschafter betrachteten ihn als
ihren Mann, vor dem man nichts zu verbergen brauchte. Graf Pourtalös
behandelte den Verstorbenen von oben herab und Kattner beklagte sich mehr
als einmal in der Unterhaltung mit mir über ihn. Obwohl Kattner deutscher
Reichsangehöriger und Angestellter an der Botschaft war, lebte er mit Russen
zusammen und hatte unter ihnen viele Freunde, mit denen er Beziehungen unter¬
hielt. Alle liebten ihn wegen seiner Ehrlichkeit und erstaunlichen Korrektheit.
Kattner lebte auf der zwölften Linie von Wassilij Ostrow, wo er ein möbliertes
Zimmer inne hatte. Am Tage der Kriegserklärung verließ er das Haus
und kam nicht mehr zurück. Alle Sachen waren im Zimmer geblieben
und er hatte niemanden davon verständigt, daß er nicht wieder in die
Wohnung zurückkehren werde. Während der Zeit seiner Anwesenheit auf der
Botschaft erfuhr Kattner sehr viel und unwillkürlich entsteht der Verdacht
(pociosrjenje), daß seine Anwesenheit in Petersburg den deutschen Behörden
unerwünscht sein konnte.

Es ist mindestens seltsam, daß Graf Pourtalös, als er Petersburg mit
allen Beamten und Angestellten, sowohl der Botschaft wie der Kanzlei, verließ,
den Übersetzer Kattner in der Batschaft ließ, außerdem verständigte der letztere
seine Ouartierwirtm nicht davon und überführte nicht seine Sachen.

Seit dem Tage der Kriegserklärung hat niemand mehr Kattner gesehen,
und er hat keinem seiner Freunde telephonisch mitgeteilt, daß er in Peters¬
burg geblieben sei."

So das erste Blatt Petersburgs, das Organ der Petersburger hohen
Beamtenschaft!

Nur zur Vervollständigung des Sachverhalts sei diesen Ausführungen
gegenüber festgestellt, daß unser Gewährsmann selbst und verschiedene andere
Personen noch am Tage vor dem Sturm auf die Botschaft, und am Morgen
des fraglichen Dienstag, den Ermordeten gesehen und gesprochen haben. Ein
anderer Gewährsmann hat ferner eine Empfangsbescheinigung über einige
Gegenstände des Konsulats in Kowno, die am Dienstag ausgestellt und von
Kattner unterschrieben war, gesehen. Konsul Freiherr von Lerchenfeld, Konfulats-
sekretär Göring und Frau, Kanzlist Limbertz, Kanzlerdragoman Woronowicz,
der zuständige Polizeipristaw selbst wissen dasselbe. Um so auffälliger ist auch
diesen Tatsachen gegenüber das Gerücht, das sich über diese Ermordung sofort
gebildet zu haben scheint. Wenigstens sagte einer von den herumlungernden
Leuten nachts gegen 2 Uhr, man habe in der Botschaft einen Toten gefunden.
Auf die Frage, was für einen, erwiderte er: einen Russen. „Er war schon
verfault I"

Die Regierung stellt sich auf den Standpunkt, daß die Menge erbittert
gewesen sei wegen der angeblich schlechten Behandlung Swerbejews in Berlin, und


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[0418] Petrograder Kultur „Es gelang uns mit einer Persönlichkeit, die mit dem verstorbenen Kattner nahe bekannt war, zu sprechen. Sie erzählt uns folgendes: Er genoß volles Vertrauen, und die früheren Botschafter betrachteten ihn als ihren Mann, vor dem man nichts zu verbergen brauchte. Graf Pourtalös behandelte den Verstorbenen von oben herab und Kattner beklagte sich mehr als einmal in der Unterhaltung mit mir über ihn. Obwohl Kattner deutscher Reichsangehöriger und Angestellter an der Botschaft war, lebte er mit Russen zusammen und hatte unter ihnen viele Freunde, mit denen er Beziehungen unter¬ hielt. Alle liebten ihn wegen seiner Ehrlichkeit und erstaunlichen Korrektheit. Kattner lebte auf der zwölften Linie von Wassilij Ostrow, wo er ein möbliertes Zimmer inne hatte. Am Tage der Kriegserklärung verließ er das Haus und kam nicht mehr zurück. Alle Sachen waren im Zimmer geblieben und er hatte niemanden davon verständigt, daß er nicht wieder in die Wohnung zurückkehren werde. Während der Zeit seiner Anwesenheit auf der Botschaft erfuhr Kattner sehr viel und unwillkürlich entsteht der Verdacht (pociosrjenje), daß seine Anwesenheit in Petersburg den deutschen Behörden unerwünscht sein konnte. Es ist mindestens seltsam, daß Graf Pourtalös, als er Petersburg mit allen Beamten und Angestellten, sowohl der Botschaft wie der Kanzlei, verließ, den Übersetzer Kattner in der Batschaft ließ, außerdem verständigte der letztere seine Ouartierwirtm nicht davon und überführte nicht seine Sachen. Seit dem Tage der Kriegserklärung hat niemand mehr Kattner gesehen, und er hat keinem seiner Freunde telephonisch mitgeteilt, daß er in Peters¬ burg geblieben sei." So das erste Blatt Petersburgs, das Organ der Petersburger hohen Beamtenschaft! Nur zur Vervollständigung des Sachverhalts sei diesen Ausführungen gegenüber festgestellt, daß unser Gewährsmann selbst und verschiedene andere Personen noch am Tage vor dem Sturm auf die Botschaft, und am Morgen des fraglichen Dienstag, den Ermordeten gesehen und gesprochen haben. Ein anderer Gewährsmann hat ferner eine Empfangsbescheinigung über einige Gegenstände des Konsulats in Kowno, die am Dienstag ausgestellt und von Kattner unterschrieben war, gesehen. Konsul Freiherr von Lerchenfeld, Konfulats- sekretär Göring und Frau, Kanzlist Limbertz, Kanzlerdragoman Woronowicz, der zuständige Polizeipristaw selbst wissen dasselbe. Um so auffälliger ist auch diesen Tatsachen gegenüber das Gerücht, das sich über diese Ermordung sofort gebildet zu haben scheint. Wenigstens sagte einer von den herumlungernden Leuten nachts gegen 2 Uhr, man habe in der Botschaft einen Toten gefunden. Auf die Frage, was für einen, erwiderte er: einen Russen. „Er war schon verfault I" Die Regierung stellt sich auf den Standpunkt, daß die Menge erbittert gewesen sei wegen der angeblich schlechten Behandlung Swerbejews in Berlin, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/418>, abgerufen am 28.07.2024.