Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
petrograder Kultur

Mr. Wilson fuhr nunmehr persönlich nach dem Auswärtigen Amte, während
wir den Erfolg abwarteten. Gegen 3 Uhr etwa kam der amerikanische Geschäfts¬
träger wieder mit der Erklärung, daß jetzt Ordnung geschaffen sei. Der Minister
des Innern. Maklakow, war selbst nach der deutschen Botschaft gefahren.

Auf eine Mitschuld der russischen Regierung weist noch ein anderes Moment
hin. Kurz vor der Zerstörung der Botschaft hat in der Nowoje Wremja eine
Bemerkung gestanden, die aus die günstige Gelegenheit zur Entfernung der
"anstößigen" Figuren auf der Botschaft anspielte. Das vielgelesene Organ
hätte damit den Anstoß zu den späteren Ereignissen selbst gegeben.

Den Höhepunkt der Hvpokrisie aber bilden die Ausführungen der Nowoje
Wremja vom folgenden Tage (Mittwoch den 24./K. Juli/August 1914. Ur. 13 780),
die sich über die Auffindung der Leiche des vom Pöbel ermordeten Hofrats
Kattner in der Botschaft verbreiteten und unter völliger Verdrehung des Sach¬
verhaltes die schamlosesten Verdächtigungen gegen den deutschen Botschafter
äußerten. Nach dem russischen Originale wird zunächst folgender Tatbestand
gegeben:

"Nach der Zerstörung der deutschen Botschaft, kurz vor dem Erscheinen
des Ministers des Innern, fand die Polizei bei der Besichtigung der Bot¬
schaft, auf dem Boden zwischen einigen Kisten die Leiche eines alten Mannes,
dem Anschein nach von sechzig Jahren. Die Leiche lag mit dem Gesichte
nach unten und trug die Spuren eines gewaltsamen Todes. Auf der Brust
hatte er an zwei Stellen tiefe Messerwunden, von denen eine bis zum Herzen
reichte, und eine dritte auf der Seite. Alle drei Wunden waren mit dem
Kinschal -- Dolch -- beigebracht. Von der Leiche ging ein starker Geruch
aus, Blutspuren in der Nähe der Leiche waren nicht vorhanden. Man rief
sofort Beamte der Geheimpolizei und die gerichtlichen Untersuchungsbehörden
zur Stelle. Sie besichtigten den Platz, wo die Leiche lag. Die Kiste" um
die Leiche herum waren versengt und zeigten Spuren von Stearinkerzen. Es
wurde angeordnet, die Leiche in die Leichenhalle des nächsten städtischen
Krankenhauses überzuführen, wo die Öffnung und Besichtigung der Leiche
stattfindet. -- Nach den Hausbüchern wurde er als am 21. Juli nach dem
Auslande abgereist aufgeführt, das heißt vor drei Tagen, am Tage der
Abreise des deutschen Botschafters aus Petersburg." (Anmerkung: das ist
falsch; die Abreise erfolgte bereits am 20. Juli.) "Da die Leiche nur
mit Wäsche bekleidet war und einen starken Geruch verbreitete, nimmt
man an. daß sie nicht weniger als drei Tage auf dem Boden gelegen
haben kann.

Die Untersuchung über den aufgefundenen Leichnam wird auf die
energischste Weise durch die Beamten der Geheimpolizei geführt. Aufzuklären,
unter welchen Umständen der Mord ausgeführt worden ist, ist bis jetzt nicht
möglich gewesen. Es existieren zwei Versionen."

Die Nowoje Wremja fährt nach diesen Festellungen fort:


petrograder Kultur

Mr. Wilson fuhr nunmehr persönlich nach dem Auswärtigen Amte, während
wir den Erfolg abwarteten. Gegen 3 Uhr etwa kam der amerikanische Geschäfts¬
träger wieder mit der Erklärung, daß jetzt Ordnung geschaffen sei. Der Minister
des Innern. Maklakow, war selbst nach der deutschen Botschaft gefahren.

Auf eine Mitschuld der russischen Regierung weist noch ein anderes Moment
hin. Kurz vor der Zerstörung der Botschaft hat in der Nowoje Wremja eine
Bemerkung gestanden, die aus die günstige Gelegenheit zur Entfernung der
„anstößigen" Figuren auf der Botschaft anspielte. Das vielgelesene Organ
hätte damit den Anstoß zu den späteren Ereignissen selbst gegeben.

Den Höhepunkt der Hvpokrisie aber bilden die Ausführungen der Nowoje
Wremja vom folgenden Tage (Mittwoch den 24./K. Juli/August 1914. Ur. 13 780),
die sich über die Auffindung der Leiche des vom Pöbel ermordeten Hofrats
Kattner in der Botschaft verbreiteten und unter völliger Verdrehung des Sach¬
verhaltes die schamlosesten Verdächtigungen gegen den deutschen Botschafter
äußerten. Nach dem russischen Originale wird zunächst folgender Tatbestand
gegeben:

„Nach der Zerstörung der deutschen Botschaft, kurz vor dem Erscheinen
des Ministers des Innern, fand die Polizei bei der Besichtigung der Bot¬
schaft, auf dem Boden zwischen einigen Kisten die Leiche eines alten Mannes,
dem Anschein nach von sechzig Jahren. Die Leiche lag mit dem Gesichte
nach unten und trug die Spuren eines gewaltsamen Todes. Auf der Brust
hatte er an zwei Stellen tiefe Messerwunden, von denen eine bis zum Herzen
reichte, und eine dritte auf der Seite. Alle drei Wunden waren mit dem
Kinschal — Dolch — beigebracht. Von der Leiche ging ein starker Geruch
aus, Blutspuren in der Nähe der Leiche waren nicht vorhanden. Man rief
sofort Beamte der Geheimpolizei und die gerichtlichen Untersuchungsbehörden
zur Stelle. Sie besichtigten den Platz, wo die Leiche lag. Die Kiste» um
die Leiche herum waren versengt und zeigten Spuren von Stearinkerzen. Es
wurde angeordnet, die Leiche in die Leichenhalle des nächsten städtischen
Krankenhauses überzuführen, wo die Öffnung und Besichtigung der Leiche
stattfindet. — Nach den Hausbüchern wurde er als am 21. Juli nach dem
Auslande abgereist aufgeführt, das heißt vor drei Tagen, am Tage der
Abreise des deutschen Botschafters aus Petersburg." (Anmerkung: das ist
falsch; die Abreise erfolgte bereits am 20. Juli.) „Da die Leiche nur
mit Wäsche bekleidet war und einen starken Geruch verbreitete, nimmt
man an. daß sie nicht weniger als drei Tage auf dem Boden gelegen
haben kann.

Die Untersuchung über den aufgefundenen Leichnam wird auf die
energischste Weise durch die Beamten der Geheimpolizei geführt. Aufzuklären,
unter welchen Umständen der Mord ausgeführt worden ist, ist bis jetzt nicht
möglich gewesen. Es existieren zwei Versionen."

Die Nowoje Wremja fährt nach diesen Festellungen fort:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329151"/>
          <fw type="header" place="top"> petrograder Kultur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1405"> Mr. Wilson fuhr nunmehr persönlich nach dem Auswärtigen Amte, während<lb/>
wir den Erfolg abwarteten. Gegen 3 Uhr etwa kam der amerikanische Geschäfts¬<lb/>
träger wieder mit der Erklärung, daß jetzt Ordnung geschaffen sei. Der Minister<lb/>
des Innern. Maklakow, war selbst nach der deutschen Botschaft gefahren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1406"> Auf eine Mitschuld der russischen Regierung weist noch ein anderes Moment<lb/>
hin. Kurz vor der Zerstörung der Botschaft hat in der Nowoje Wremja eine<lb/>
Bemerkung gestanden, die aus die günstige Gelegenheit zur Entfernung der<lb/>
&#x201E;anstößigen" Figuren auf der Botschaft anspielte. Das vielgelesene Organ<lb/>
hätte damit den Anstoß zu den späteren Ereignissen selbst gegeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1407"> Den Höhepunkt der Hvpokrisie aber bilden die Ausführungen der Nowoje<lb/>
Wremja vom folgenden Tage (Mittwoch den 24./K. Juli/August 1914. Ur. 13 780),<lb/>
die sich über die Auffindung der Leiche des vom Pöbel ermordeten Hofrats<lb/>
Kattner in der Botschaft verbreiteten und unter völliger Verdrehung des Sach¬<lb/>
verhaltes die schamlosesten Verdächtigungen gegen den deutschen Botschafter<lb/>
äußerten. Nach dem russischen Originale wird zunächst folgender Tatbestand<lb/>
gegeben:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1408"> &#x201E;Nach der Zerstörung der deutschen Botschaft, kurz vor dem Erscheinen<lb/>
des Ministers des Innern, fand die Polizei bei der Besichtigung der Bot¬<lb/>
schaft, auf dem Boden zwischen einigen Kisten die Leiche eines alten Mannes,<lb/>
dem Anschein nach von sechzig Jahren. Die Leiche lag mit dem Gesichte<lb/>
nach unten und trug die Spuren eines gewaltsamen Todes. Auf der Brust<lb/>
hatte er an zwei Stellen tiefe Messerwunden, von denen eine bis zum Herzen<lb/>
reichte, und eine dritte auf der Seite. Alle drei Wunden waren mit dem<lb/>
Kinschal &#x2014; Dolch &#x2014; beigebracht. Von der Leiche ging ein starker Geruch<lb/>
aus, Blutspuren in der Nähe der Leiche waren nicht vorhanden. Man rief<lb/>
sofort Beamte der Geheimpolizei und die gerichtlichen Untersuchungsbehörden<lb/>
zur Stelle. Sie besichtigten den Platz, wo die Leiche lag. Die Kiste» um<lb/>
die Leiche herum waren versengt und zeigten Spuren von Stearinkerzen. Es<lb/>
wurde angeordnet, die Leiche in die Leichenhalle des nächsten städtischen<lb/>
Krankenhauses überzuführen, wo die Öffnung und Besichtigung der Leiche<lb/>
stattfindet. &#x2014; Nach den Hausbüchern wurde er als am 21. Juli nach dem<lb/>
Auslande abgereist aufgeführt, das heißt vor drei Tagen, am Tage der<lb/>
Abreise des deutschen Botschafters aus Petersburg." (Anmerkung: das ist<lb/>
falsch; die Abreise erfolgte bereits am 20. Juli.) &#x201E;Da die Leiche nur<lb/>
mit Wäsche bekleidet war und einen starken Geruch verbreitete, nimmt<lb/>
man an. daß sie nicht weniger als drei Tage auf dem Boden gelegen<lb/>
haben kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1409"> Die Untersuchung über den aufgefundenen Leichnam wird auf die<lb/>
energischste Weise durch die Beamten der Geheimpolizei geführt. Aufzuklären,<lb/>
unter welchen Umständen der Mord ausgeführt worden ist, ist bis jetzt nicht<lb/>
möglich gewesen.  Es existieren zwei Versionen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1410"> Die Nowoje Wremja fährt nach diesen Festellungen fort:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0417] petrograder Kultur Mr. Wilson fuhr nunmehr persönlich nach dem Auswärtigen Amte, während wir den Erfolg abwarteten. Gegen 3 Uhr etwa kam der amerikanische Geschäfts¬ träger wieder mit der Erklärung, daß jetzt Ordnung geschaffen sei. Der Minister des Innern. Maklakow, war selbst nach der deutschen Botschaft gefahren. Auf eine Mitschuld der russischen Regierung weist noch ein anderes Moment hin. Kurz vor der Zerstörung der Botschaft hat in der Nowoje Wremja eine Bemerkung gestanden, die aus die günstige Gelegenheit zur Entfernung der „anstößigen" Figuren auf der Botschaft anspielte. Das vielgelesene Organ hätte damit den Anstoß zu den späteren Ereignissen selbst gegeben. Den Höhepunkt der Hvpokrisie aber bilden die Ausführungen der Nowoje Wremja vom folgenden Tage (Mittwoch den 24./K. Juli/August 1914. Ur. 13 780), die sich über die Auffindung der Leiche des vom Pöbel ermordeten Hofrats Kattner in der Botschaft verbreiteten und unter völliger Verdrehung des Sach¬ verhaltes die schamlosesten Verdächtigungen gegen den deutschen Botschafter äußerten. Nach dem russischen Originale wird zunächst folgender Tatbestand gegeben: „Nach der Zerstörung der deutschen Botschaft, kurz vor dem Erscheinen des Ministers des Innern, fand die Polizei bei der Besichtigung der Bot¬ schaft, auf dem Boden zwischen einigen Kisten die Leiche eines alten Mannes, dem Anschein nach von sechzig Jahren. Die Leiche lag mit dem Gesichte nach unten und trug die Spuren eines gewaltsamen Todes. Auf der Brust hatte er an zwei Stellen tiefe Messerwunden, von denen eine bis zum Herzen reichte, und eine dritte auf der Seite. Alle drei Wunden waren mit dem Kinschal — Dolch — beigebracht. Von der Leiche ging ein starker Geruch aus, Blutspuren in der Nähe der Leiche waren nicht vorhanden. Man rief sofort Beamte der Geheimpolizei und die gerichtlichen Untersuchungsbehörden zur Stelle. Sie besichtigten den Platz, wo die Leiche lag. Die Kiste» um die Leiche herum waren versengt und zeigten Spuren von Stearinkerzen. Es wurde angeordnet, die Leiche in die Leichenhalle des nächsten städtischen Krankenhauses überzuführen, wo die Öffnung und Besichtigung der Leiche stattfindet. — Nach den Hausbüchern wurde er als am 21. Juli nach dem Auslande abgereist aufgeführt, das heißt vor drei Tagen, am Tage der Abreise des deutschen Botschafters aus Petersburg." (Anmerkung: das ist falsch; die Abreise erfolgte bereits am 20. Juli.) „Da die Leiche nur mit Wäsche bekleidet war und einen starken Geruch verbreitete, nimmt man an. daß sie nicht weniger als drei Tage auf dem Boden gelegen haben kann. Die Untersuchung über den aufgefundenen Leichnam wird auf die energischste Weise durch die Beamten der Geheimpolizei geführt. Aufzuklären, unter welchen Umständen der Mord ausgeführt worden ist, ist bis jetzt nicht möglich gewesen. Es existieren zwei Versionen." Die Nowoje Wremja fährt nach diesen Festellungen fort:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/417
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/417>, abgerufen am 23.12.2024.