Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Petrograder Kultur

mit dem Bericht eines Beamten der Botschaft, der sich mit seiner Frau unter
dem Bett eines Zimmers versteckt hatte, die Grundlagen für den nachfolgenden
Bericht geben.

Als der Haufe vom Newski-Prospekt über die Morskaja auf den Platz
kam. war dieser bereits eingenommen von einer nach vielen Tausenden zählenden
Menge mit Fahnen, die teils johlend, teils singend auf dem Platze herumstand
und auf die Botschaft wies, teils vor dem Denkmal Nikolaus des Ersten kniete
und Verwünschungen betete. Bald nach 11 Uhr hörte man die ersten Fenster¬
scheiben klirren, die ersten wuchtigen Stöße von Äxten und Pfählen gegen die
Portale der Botschaft. Einige Dutzend Polizisten hielten die Passage bei der
Morskaja frei, andere wieder verhinderten die Menge, Feuer anzulegen, im
übrigen sah man die Schutzleute untätig die Menge gewähren lassen.

Ein deutscher Beobachter machte von diesen Vorgängen sofort bei ihrem
Beginnen den amerikanischen Geschäftsträger darauf aufmerksam, daß die ihm
anvertraute deutsche Botschaft durch den Pöbel gefährdet sei und dieser meldete
die Vorgänge sofort an das Auswärtige Amt und den Stadthauptmann von
Petersburg. Bemerkt muß werden, daß die Stadthauptmannschaft sich von der
deutschen Botschaft etwa nur 500 Meter entfernt befindet, während der
Weg von der Botschaft bis zum Auswärtigen Amt zu Fuß in längstens
einer Viertelstunde zurückzulegen ist; mit einem der den Ministern und
höheren Polizeiorganen zur Verfügung stehenden Traber aber in drei
bis vier Minuten. Eine Hilfe von irgendeiner Regierungsbehörde kam in¬
dessen nicht. "Zu dieser Zeit," schreibt eiuer meiner Gewährsmänner:
"waren auf dem Dache der Botschaft bereits mehrereMenschen erschienen, die vorder
Morskaja aus eingedrungen sein mußten, eine russische Fahne mit sich führten
und sich unter anderem daran machten, die auf dem Dache der Botschaft
befindliche Bronzegruppe mit Werkzeugen losmwuchten. um sie herabzustürzen.
Alle diese Vorgänge begleitete der Mob unten mit dumpfem Geheule. Die
Menge auf dem Dache wuchs rasch auf hundert Mann an und bald zeigte
sich in den: ersten rechten Eckfenster der obersten Zimmerflucht auf der Haupt¬
fassade Licht. Ich habe diese Vorgänge mit vier anderen Herren, darunter
auch einem Mitgliede der Petersburger englischen Kolonie, Mr. Hartley. ganz
genau von dem Balkon der ersten Etage des Hotel Astoria beobachtet. Kurz
nachdem das Licht in dem Eckfenster eingeschaltet worden war, wurde das
Fenster geöffnet und daraus lange Wäschestücke, anscheinend Bettwäsche und
Tischtücher unter dem Gejohle der Menge auf die Straße geworfen. Von
dem Eckzimmer aus gingen die Leute bald auch in die anderen Zimmer bis etwa
zur Hälfte der oberen Zimmerreihe, dann in die Empfangsräume des ersten
Stocks und das Parterre. Die Fenster wurden aufgerissen und Inventar. --
erinnerlich sind mir vor allem Wäschestücke -- hinausgeworfen. Bald war es
auch gelungen, die eine männliche Figur auf dem Dache abzureißen, die nun
unter dem Hallo der Menschenmenge auf die Straße hinunterstürzte. Nach


Petrograder Kultur

mit dem Bericht eines Beamten der Botschaft, der sich mit seiner Frau unter
dem Bett eines Zimmers versteckt hatte, die Grundlagen für den nachfolgenden
Bericht geben.

Als der Haufe vom Newski-Prospekt über die Morskaja auf den Platz
kam. war dieser bereits eingenommen von einer nach vielen Tausenden zählenden
Menge mit Fahnen, die teils johlend, teils singend auf dem Platze herumstand
und auf die Botschaft wies, teils vor dem Denkmal Nikolaus des Ersten kniete
und Verwünschungen betete. Bald nach 11 Uhr hörte man die ersten Fenster¬
scheiben klirren, die ersten wuchtigen Stöße von Äxten und Pfählen gegen die
Portale der Botschaft. Einige Dutzend Polizisten hielten die Passage bei der
Morskaja frei, andere wieder verhinderten die Menge, Feuer anzulegen, im
übrigen sah man die Schutzleute untätig die Menge gewähren lassen.

Ein deutscher Beobachter machte von diesen Vorgängen sofort bei ihrem
Beginnen den amerikanischen Geschäftsträger darauf aufmerksam, daß die ihm
anvertraute deutsche Botschaft durch den Pöbel gefährdet sei und dieser meldete
die Vorgänge sofort an das Auswärtige Amt und den Stadthauptmann von
Petersburg. Bemerkt muß werden, daß die Stadthauptmannschaft sich von der
deutschen Botschaft etwa nur 500 Meter entfernt befindet, während der
Weg von der Botschaft bis zum Auswärtigen Amt zu Fuß in längstens
einer Viertelstunde zurückzulegen ist; mit einem der den Ministern und
höheren Polizeiorganen zur Verfügung stehenden Traber aber in drei
bis vier Minuten. Eine Hilfe von irgendeiner Regierungsbehörde kam in¬
dessen nicht. „Zu dieser Zeit," schreibt eiuer meiner Gewährsmänner:
„waren auf dem Dache der Botschaft bereits mehrereMenschen erschienen, die vorder
Morskaja aus eingedrungen sein mußten, eine russische Fahne mit sich führten
und sich unter anderem daran machten, die auf dem Dache der Botschaft
befindliche Bronzegruppe mit Werkzeugen losmwuchten. um sie herabzustürzen.
Alle diese Vorgänge begleitete der Mob unten mit dumpfem Geheule. Die
Menge auf dem Dache wuchs rasch auf hundert Mann an und bald zeigte
sich in den: ersten rechten Eckfenster der obersten Zimmerflucht auf der Haupt¬
fassade Licht. Ich habe diese Vorgänge mit vier anderen Herren, darunter
auch einem Mitgliede der Petersburger englischen Kolonie, Mr. Hartley. ganz
genau von dem Balkon der ersten Etage des Hotel Astoria beobachtet. Kurz
nachdem das Licht in dem Eckfenster eingeschaltet worden war, wurde das
Fenster geöffnet und daraus lange Wäschestücke, anscheinend Bettwäsche und
Tischtücher unter dem Gejohle der Menge auf die Straße geworfen. Von
dem Eckzimmer aus gingen die Leute bald auch in die anderen Zimmer bis etwa
zur Hälfte der oberen Zimmerreihe, dann in die Empfangsräume des ersten
Stocks und das Parterre. Die Fenster wurden aufgerissen und Inventar. —
erinnerlich sind mir vor allem Wäschestücke — hinausgeworfen. Bald war es
auch gelungen, die eine männliche Figur auf dem Dache abzureißen, die nun
unter dem Hallo der Menschenmenge auf die Straße hinunterstürzte. Nach


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329147"/>
          <fw type="header" place="top"> Petrograder Kultur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1390" prev="#ID_1389"> mit dem Bericht eines Beamten der Botschaft, der sich mit seiner Frau unter<lb/>
dem Bett eines Zimmers versteckt hatte, die Grundlagen für den nachfolgenden<lb/>
Bericht geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1391"> Als der Haufe vom Newski-Prospekt über die Morskaja auf den Platz<lb/>
kam. war dieser bereits eingenommen von einer nach vielen Tausenden zählenden<lb/>
Menge mit Fahnen, die teils johlend, teils singend auf dem Platze herumstand<lb/>
und auf die Botschaft wies, teils vor dem Denkmal Nikolaus des Ersten kniete<lb/>
und Verwünschungen betete. Bald nach 11 Uhr hörte man die ersten Fenster¬<lb/>
scheiben klirren, die ersten wuchtigen Stöße von Äxten und Pfählen gegen die<lb/>
Portale der Botschaft. Einige Dutzend Polizisten hielten die Passage bei der<lb/>
Morskaja frei, andere wieder verhinderten die Menge, Feuer anzulegen, im<lb/>
übrigen sah man die Schutzleute untätig die Menge gewähren lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1392" next="#ID_1393"> Ein deutscher Beobachter machte von diesen Vorgängen sofort bei ihrem<lb/>
Beginnen den amerikanischen Geschäftsträger darauf aufmerksam, daß die ihm<lb/>
anvertraute deutsche Botschaft durch den Pöbel gefährdet sei und dieser meldete<lb/>
die Vorgänge sofort an das Auswärtige Amt und den Stadthauptmann von<lb/>
Petersburg. Bemerkt muß werden, daß die Stadthauptmannschaft sich von der<lb/>
deutschen Botschaft etwa nur 500 Meter entfernt befindet, während der<lb/>
Weg von der Botschaft bis zum Auswärtigen Amt zu Fuß in längstens<lb/>
einer Viertelstunde zurückzulegen ist; mit einem der den Ministern und<lb/>
höheren Polizeiorganen zur Verfügung stehenden Traber aber in drei<lb/>
bis vier Minuten. Eine Hilfe von irgendeiner Regierungsbehörde kam in¬<lb/>
dessen nicht. &#x201E;Zu dieser Zeit," schreibt eiuer meiner Gewährsmänner:<lb/>
&#x201E;waren auf dem Dache der Botschaft bereits mehrereMenschen erschienen, die vorder<lb/>
Morskaja aus eingedrungen sein mußten, eine russische Fahne mit sich führten<lb/>
und sich unter anderem daran machten, die auf dem Dache der Botschaft<lb/>
befindliche Bronzegruppe mit Werkzeugen losmwuchten. um sie herabzustürzen.<lb/>
Alle diese Vorgänge begleitete der Mob unten mit dumpfem Geheule. Die<lb/>
Menge auf dem Dache wuchs rasch auf hundert Mann an und bald zeigte<lb/>
sich in den: ersten rechten Eckfenster der obersten Zimmerflucht auf der Haupt¬<lb/>
fassade Licht. Ich habe diese Vorgänge mit vier anderen Herren, darunter<lb/>
auch einem Mitgliede der Petersburger englischen Kolonie, Mr. Hartley. ganz<lb/>
genau von dem Balkon der ersten Etage des Hotel Astoria beobachtet. Kurz<lb/>
nachdem das Licht in dem Eckfenster eingeschaltet worden war, wurde das<lb/>
Fenster geöffnet und daraus lange Wäschestücke, anscheinend Bettwäsche und<lb/>
Tischtücher unter dem Gejohle der Menge auf die Straße geworfen. Von<lb/>
dem Eckzimmer aus gingen die Leute bald auch in die anderen Zimmer bis etwa<lb/>
zur Hälfte der oberen Zimmerreihe, dann in die Empfangsräume des ersten<lb/>
Stocks und das Parterre. Die Fenster wurden aufgerissen und Inventar. &#x2014;<lb/>
erinnerlich sind mir vor allem Wäschestücke &#x2014; hinausgeworfen. Bald war es<lb/>
auch gelungen, die eine männliche Figur auf dem Dache abzureißen, die nun<lb/>
unter dem Hallo der Menschenmenge auf die Straße hinunterstürzte. Nach</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] Petrograder Kultur mit dem Bericht eines Beamten der Botschaft, der sich mit seiner Frau unter dem Bett eines Zimmers versteckt hatte, die Grundlagen für den nachfolgenden Bericht geben. Als der Haufe vom Newski-Prospekt über die Morskaja auf den Platz kam. war dieser bereits eingenommen von einer nach vielen Tausenden zählenden Menge mit Fahnen, die teils johlend, teils singend auf dem Platze herumstand und auf die Botschaft wies, teils vor dem Denkmal Nikolaus des Ersten kniete und Verwünschungen betete. Bald nach 11 Uhr hörte man die ersten Fenster¬ scheiben klirren, die ersten wuchtigen Stöße von Äxten und Pfählen gegen die Portale der Botschaft. Einige Dutzend Polizisten hielten die Passage bei der Morskaja frei, andere wieder verhinderten die Menge, Feuer anzulegen, im übrigen sah man die Schutzleute untätig die Menge gewähren lassen. Ein deutscher Beobachter machte von diesen Vorgängen sofort bei ihrem Beginnen den amerikanischen Geschäftsträger darauf aufmerksam, daß die ihm anvertraute deutsche Botschaft durch den Pöbel gefährdet sei und dieser meldete die Vorgänge sofort an das Auswärtige Amt und den Stadthauptmann von Petersburg. Bemerkt muß werden, daß die Stadthauptmannschaft sich von der deutschen Botschaft etwa nur 500 Meter entfernt befindet, während der Weg von der Botschaft bis zum Auswärtigen Amt zu Fuß in längstens einer Viertelstunde zurückzulegen ist; mit einem der den Ministern und höheren Polizeiorganen zur Verfügung stehenden Traber aber in drei bis vier Minuten. Eine Hilfe von irgendeiner Regierungsbehörde kam in¬ dessen nicht. „Zu dieser Zeit," schreibt eiuer meiner Gewährsmänner: „waren auf dem Dache der Botschaft bereits mehrereMenschen erschienen, die vorder Morskaja aus eingedrungen sein mußten, eine russische Fahne mit sich führten und sich unter anderem daran machten, die auf dem Dache der Botschaft befindliche Bronzegruppe mit Werkzeugen losmwuchten. um sie herabzustürzen. Alle diese Vorgänge begleitete der Mob unten mit dumpfem Geheule. Die Menge auf dem Dache wuchs rasch auf hundert Mann an und bald zeigte sich in den: ersten rechten Eckfenster der obersten Zimmerflucht auf der Haupt¬ fassade Licht. Ich habe diese Vorgänge mit vier anderen Herren, darunter auch einem Mitgliede der Petersburger englischen Kolonie, Mr. Hartley. ganz genau von dem Balkon der ersten Etage des Hotel Astoria beobachtet. Kurz nachdem das Licht in dem Eckfenster eingeschaltet worden war, wurde das Fenster geöffnet und daraus lange Wäschestücke, anscheinend Bettwäsche und Tischtücher unter dem Gejohle der Menge auf die Straße geworfen. Von dem Eckzimmer aus gingen die Leute bald auch in die anderen Zimmer bis etwa zur Hälfte der oberen Zimmerreihe, dann in die Empfangsräume des ersten Stocks und das Parterre. Die Fenster wurden aufgerissen und Inventar. — erinnerlich sind mir vor allem Wäschestücke — hinausgeworfen. Bald war es auch gelungen, die eine männliche Figur auf dem Dache abzureißen, die nun unter dem Hallo der Menschenmenge auf die Straße hinunterstürzte. Nach

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/413>, abgerufen am 28.07.2024.