Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russisch-Polen als Kriegsschauplatz

fast nach Smolensk und von der Ostsee bis an den unteren Dnjestr. Das jetzige
Gebiet ist das sogenannte "Kongreßpolen", das auf dem Wiener Kongreß 1815
dem russischen Reiche angegliedert wurde. Anfangs besaß es eine eigene Ver¬
fassung, aber infolge wiederholter erfolgloser Aufstände hat es seine Sonder¬
rechte verloren, wurde 1831 in Gouvernements eingeteilt und 1868 vollständig
mit dem russischen Reiche verschmolzen. Polen zählt nach den neuesten Angaben
auf 127300 Quadratkilometer etwa 12,1 Millionen Einwohner, ist also bei
einer Volksdichte von 99 auf ein Quadratkilometer die bei weitem am dichtesten
bevölkerte Provinz Rußlands. Diese Verdichtung ist teils dem guten Stande
der Landwirtschaft, teils der hochentwickelten Industrie, namentlich Textil-, aber
auch Bergwerksindustrie im Südwesten zuzuschreiben, die sich ihrerseits wieder
auf die deutsche Anregung und die dem Russen überlegene Tüchtigkeit des Polen
stützt. An Nationalitäten werden angegeben 72 Prozent Polen, 14 Prozent
Juden. 7 Prozent Russen, 4 Prozent Deutsche, 3 Prozent andere (z. B. Litauer
in Suwalki). Beachtenswert ist auch die Bevölkerungsverteilung in den einzelnen
Gouvernements. Links der Weichsel wohnen 128 Menschen pro Quadratkilo¬
meter (Handel und Industrie), rechts derselben nur 75 pro Quadratkilometer
(Landwirtschaft). Demgemäß wohnen 77 Prozent der Arbeiter auf dem linken
Ufer, 23 Prozent auf dem rechten. Die Zentren der revolutionären Partei
sind also, wie wir noch sehen werden, von dem militärischen Zentrum Russisch-
Polens weit entfernt und überdies durch das operative Hindernis des Weichsel¬
stromes getrennt.

Wegen seiner weit nach Westen vorgeschobenen Lage war es selbstverständlich,
daß Polen als Schauplatz der ersten Kämpfe gelten mußte in einem Kriege
gegen das verbündete Deutschland und Österreich-Ungarn. Überblicken wir die
zahlreiche militärische Literatur, so finden wir fast immer nur die Frage
behandelt: wie wird sich Rußland in Polen verteidigen? Welche Linien sind
als Verteidigungslinien ausgewählt und ausgebaut? Wie weit wird sich die
russische Armee vor den angreifenden Gegnern zurückziehen? Die Ereignisse der
letzten Wochen haben gezeigt, daß die Russen, vielen unerwartet, offensiv vor¬
gegangen sind. Wir werden darauf zurückkommen.

Die Meinungen über den Wert der verschiedenen Verteidigungslinien haben
hin und hergeschwankt. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß nur an der ost¬
preußischen Grenze eine natürliche Verteidigungslinie in dem Bohr - Narewlauf
nahe an die politische Grenze heranrückt. Im Westen und Süden mußte sie
sich weit in das Innere Polens zurückziehen, da eine Landesverteidigung sich
ans möglichst starke natürliche Abschnitte stützen muß. Da war einerseits die
breite Weichsel nach Westen die gegebene Schranke, nach Süden aber die oben
erwähnten Abschnitte des Wjeprsh und der Tysmeniza bis zum Bug mit ihrem
Sumpfgelände. Nach Nordosten schließt sich an den Bohr der Njemen als
natürliche Verteidigungslinie parallel der ostpreußischen Grenze an. Alle diese
Abschnitte und die Straßenübergänge sind durch Festungen geschützt.


Russisch-Polen als Kriegsschauplatz

fast nach Smolensk und von der Ostsee bis an den unteren Dnjestr. Das jetzige
Gebiet ist das sogenannte „Kongreßpolen", das auf dem Wiener Kongreß 1815
dem russischen Reiche angegliedert wurde. Anfangs besaß es eine eigene Ver¬
fassung, aber infolge wiederholter erfolgloser Aufstände hat es seine Sonder¬
rechte verloren, wurde 1831 in Gouvernements eingeteilt und 1868 vollständig
mit dem russischen Reiche verschmolzen. Polen zählt nach den neuesten Angaben
auf 127300 Quadratkilometer etwa 12,1 Millionen Einwohner, ist also bei
einer Volksdichte von 99 auf ein Quadratkilometer die bei weitem am dichtesten
bevölkerte Provinz Rußlands. Diese Verdichtung ist teils dem guten Stande
der Landwirtschaft, teils der hochentwickelten Industrie, namentlich Textil-, aber
auch Bergwerksindustrie im Südwesten zuzuschreiben, die sich ihrerseits wieder
auf die deutsche Anregung und die dem Russen überlegene Tüchtigkeit des Polen
stützt. An Nationalitäten werden angegeben 72 Prozent Polen, 14 Prozent
Juden. 7 Prozent Russen, 4 Prozent Deutsche, 3 Prozent andere (z. B. Litauer
in Suwalki). Beachtenswert ist auch die Bevölkerungsverteilung in den einzelnen
Gouvernements. Links der Weichsel wohnen 128 Menschen pro Quadratkilo¬
meter (Handel und Industrie), rechts derselben nur 75 pro Quadratkilometer
(Landwirtschaft). Demgemäß wohnen 77 Prozent der Arbeiter auf dem linken
Ufer, 23 Prozent auf dem rechten. Die Zentren der revolutionären Partei
sind also, wie wir noch sehen werden, von dem militärischen Zentrum Russisch-
Polens weit entfernt und überdies durch das operative Hindernis des Weichsel¬
stromes getrennt.

Wegen seiner weit nach Westen vorgeschobenen Lage war es selbstverständlich,
daß Polen als Schauplatz der ersten Kämpfe gelten mußte in einem Kriege
gegen das verbündete Deutschland und Österreich-Ungarn. Überblicken wir die
zahlreiche militärische Literatur, so finden wir fast immer nur die Frage
behandelt: wie wird sich Rußland in Polen verteidigen? Welche Linien sind
als Verteidigungslinien ausgewählt und ausgebaut? Wie weit wird sich die
russische Armee vor den angreifenden Gegnern zurückziehen? Die Ereignisse der
letzten Wochen haben gezeigt, daß die Russen, vielen unerwartet, offensiv vor¬
gegangen sind. Wir werden darauf zurückkommen.

Die Meinungen über den Wert der verschiedenen Verteidigungslinien haben
hin und hergeschwankt. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß nur an der ost¬
preußischen Grenze eine natürliche Verteidigungslinie in dem Bohr - Narewlauf
nahe an die politische Grenze heranrückt. Im Westen und Süden mußte sie
sich weit in das Innere Polens zurückziehen, da eine Landesverteidigung sich
ans möglichst starke natürliche Abschnitte stützen muß. Da war einerseits die
breite Weichsel nach Westen die gegebene Schranke, nach Süden aber die oben
erwähnten Abschnitte des Wjeprsh und der Tysmeniza bis zum Bug mit ihrem
Sumpfgelände. Nach Nordosten schließt sich an den Bohr der Njemen als
natürliche Verteidigungslinie parallel der ostpreußischen Grenze an. Alle diese
Abschnitte und die Straßenübergänge sind durch Festungen geschützt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0406" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329140"/>
          <fw type="header" place="top"> Russisch-Polen als Kriegsschauplatz</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1368" prev="#ID_1367"> fast nach Smolensk und von der Ostsee bis an den unteren Dnjestr. Das jetzige<lb/>
Gebiet ist das sogenannte &#x201E;Kongreßpolen", das auf dem Wiener Kongreß 1815<lb/>
dem russischen Reiche angegliedert wurde. Anfangs besaß es eine eigene Ver¬<lb/>
fassung, aber infolge wiederholter erfolgloser Aufstände hat es seine Sonder¬<lb/>
rechte verloren, wurde 1831 in Gouvernements eingeteilt und 1868 vollständig<lb/>
mit dem russischen Reiche verschmolzen. Polen zählt nach den neuesten Angaben<lb/>
auf 127300 Quadratkilometer etwa 12,1 Millionen Einwohner, ist also bei<lb/>
einer Volksdichte von 99 auf ein Quadratkilometer die bei weitem am dichtesten<lb/>
bevölkerte Provinz Rußlands. Diese Verdichtung ist teils dem guten Stande<lb/>
der Landwirtschaft, teils der hochentwickelten Industrie, namentlich Textil-, aber<lb/>
auch Bergwerksindustrie im Südwesten zuzuschreiben, die sich ihrerseits wieder<lb/>
auf die deutsche Anregung und die dem Russen überlegene Tüchtigkeit des Polen<lb/>
stützt. An Nationalitäten werden angegeben 72 Prozent Polen, 14 Prozent<lb/>
Juden. 7 Prozent Russen, 4 Prozent Deutsche, 3 Prozent andere (z. B. Litauer<lb/>
in Suwalki). Beachtenswert ist auch die Bevölkerungsverteilung in den einzelnen<lb/>
Gouvernements. Links der Weichsel wohnen 128 Menschen pro Quadratkilo¬<lb/>
meter (Handel und Industrie), rechts derselben nur 75 pro Quadratkilometer<lb/>
(Landwirtschaft). Demgemäß wohnen 77 Prozent der Arbeiter auf dem linken<lb/>
Ufer, 23 Prozent auf dem rechten. Die Zentren der revolutionären Partei<lb/>
sind also, wie wir noch sehen werden, von dem militärischen Zentrum Russisch-<lb/>
Polens weit entfernt und überdies durch das operative Hindernis des Weichsel¬<lb/>
stromes getrennt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1369"> Wegen seiner weit nach Westen vorgeschobenen Lage war es selbstverständlich,<lb/>
daß Polen als Schauplatz der ersten Kämpfe gelten mußte in einem Kriege<lb/>
gegen das verbündete Deutschland und Österreich-Ungarn. Überblicken wir die<lb/>
zahlreiche militärische Literatur, so finden wir fast immer nur die Frage<lb/>
behandelt: wie wird sich Rußland in Polen verteidigen? Welche Linien sind<lb/>
als Verteidigungslinien ausgewählt und ausgebaut? Wie weit wird sich die<lb/>
russische Armee vor den angreifenden Gegnern zurückziehen? Die Ereignisse der<lb/>
letzten Wochen haben gezeigt, daß die Russen, vielen unerwartet, offensiv vor¬<lb/>
gegangen sind. Wir werden darauf zurückkommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1370"> Die Meinungen über den Wert der verschiedenen Verteidigungslinien haben<lb/>
hin und hergeschwankt. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß nur an der ost¬<lb/>
preußischen Grenze eine natürliche Verteidigungslinie in dem Bohr - Narewlauf<lb/>
nahe an die politische Grenze heranrückt. Im Westen und Süden mußte sie<lb/>
sich weit in das Innere Polens zurückziehen, da eine Landesverteidigung sich<lb/>
ans möglichst starke natürliche Abschnitte stützen muß. Da war einerseits die<lb/>
breite Weichsel nach Westen die gegebene Schranke, nach Süden aber die oben<lb/>
erwähnten Abschnitte des Wjeprsh und der Tysmeniza bis zum Bug mit ihrem<lb/>
Sumpfgelände. Nach Nordosten schließt sich an den Bohr der Njemen als<lb/>
natürliche Verteidigungslinie parallel der ostpreußischen Grenze an. Alle diese<lb/>
Abschnitte und die Straßenübergänge sind durch Festungen geschützt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0406] Russisch-Polen als Kriegsschauplatz fast nach Smolensk und von der Ostsee bis an den unteren Dnjestr. Das jetzige Gebiet ist das sogenannte „Kongreßpolen", das auf dem Wiener Kongreß 1815 dem russischen Reiche angegliedert wurde. Anfangs besaß es eine eigene Ver¬ fassung, aber infolge wiederholter erfolgloser Aufstände hat es seine Sonder¬ rechte verloren, wurde 1831 in Gouvernements eingeteilt und 1868 vollständig mit dem russischen Reiche verschmolzen. Polen zählt nach den neuesten Angaben auf 127300 Quadratkilometer etwa 12,1 Millionen Einwohner, ist also bei einer Volksdichte von 99 auf ein Quadratkilometer die bei weitem am dichtesten bevölkerte Provinz Rußlands. Diese Verdichtung ist teils dem guten Stande der Landwirtschaft, teils der hochentwickelten Industrie, namentlich Textil-, aber auch Bergwerksindustrie im Südwesten zuzuschreiben, die sich ihrerseits wieder auf die deutsche Anregung und die dem Russen überlegene Tüchtigkeit des Polen stützt. An Nationalitäten werden angegeben 72 Prozent Polen, 14 Prozent Juden. 7 Prozent Russen, 4 Prozent Deutsche, 3 Prozent andere (z. B. Litauer in Suwalki). Beachtenswert ist auch die Bevölkerungsverteilung in den einzelnen Gouvernements. Links der Weichsel wohnen 128 Menschen pro Quadratkilo¬ meter (Handel und Industrie), rechts derselben nur 75 pro Quadratkilometer (Landwirtschaft). Demgemäß wohnen 77 Prozent der Arbeiter auf dem linken Ufer, 23 Prozent auf dem rechten. Die Zentren der revolutionären Partei sind also, wie wir noch sehen werden, von dem militärischen Zentrum Russisch- Polens weit entfernt und überdies durch das operative Hindernis des Weichsel¬ stromes getrennt. Wegen seiner weit nach Westen vorgeschobenen Lage war es selbstverständlich, daß Polen als Schauplatz der ersten Kämpfe gelten mußte in einem Kriege gegen das verbündete Deutschland und Österreich-Ungarn. Überblicken wir die zahlreiche militärische Literatur, so finden wir fast immer nur die Frage behandelt: wie wird sich Rußland in Polen verteidigen? Welche Linien sind als Verteidigungslinien ausgewählt und ausgebaut? Wie weit wird sich die russische Armee vor den angreifenden Gegnern zurückziehen? Die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, daß die Russen, vielen unerwartet, offensiv vor¬ gegangen sind. Wir werden darauf zurückkommen. Die Meinungen über den Wert der verschiedenen Verteidigungslinien haben hin und hergeschwankt. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß nur an der ost¬ preußischen Grenze eine natürliche Verteidigungslinie in dem Bohr - Narewlauf nahe an die politische Grenze heranrückt. Im Westen und Süden mußte sie sich weit in das Innere Polens zurückziehen, da eine Landesverteidigung sich ans möglichst starke natürliche Abschnitte stützen muß. Da war einerseits die breite Weichsel nach Westen die gegebene Schranke, nach Süden aber die oben erwähnten Abschnitte des Wjeprsh und der Tysmeniza bis zum Bug mit ihrem Sumpfgelände. Nach Nordosten schließt sich an den Bohr der Njemen als natürliche Verteidigungslinie parallel der ostpreußischen Grenze an. Alle diese Abschnitte und die Straßenübergänge sind durch Festungen geschützt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/406
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/406>, abgerufen am 23.12.2024.