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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Russisch-Polen als Kriegsschauplatz

Ablagerungen, die nach Südwesten geologisch immer älter werden und teilweise
Landstufen bilden. So wird der nach Südwesten abfallende Steilrand der
oberen Jurakalke bei Tschenstochow von der oberen Warthe durchbrochen. Davor
folgt dann das industriell wichtige Karbongebiet, das aus Oberschlesien bei dem
Städtchen Bendzin hereinreicht.

Die Physiogeographie der dritten Landschaft, ganz Nordpolens, ist ähnlich
der Norddeutschlands. Abgesehen von einem Landstreifen, der sich zwischen Ost¬
preußens Grenze und dem Njemen nach Norden auf die baltische Seenplatte
hinaufzieht (Gouvernement Suwalki), ist es ein weites niedriges Gebiet meist
fruchtbaren Geschiebelehms der Eiszeit, in das breite sumpfige oder sandige
Täter eingeschnitten sind. Diese gehören teilweise zum System unserer "Urstrom¬
täler", das heißt jener breiten Talzüge, die die Gletscherschmelzwasser schufen,
die an dem jeweiligen Stillstandsrande der zurückweichenden nordischen Ver¬
eisung von Osten nach Westen entlangflossen. Die heutigen Flüsse folgen diesen
alten Tälern nur streckenweise, sonst haben sie sich eigene Furchen gegraben.
So fließt die Warthe nach Norden, bis sie bei Koko sich im "Warschau--
Berliner Urstromtal" scharf nach Westen wendet und in dieser Richtung in die
Provinz Posen eintritt. Die Weichsel, die auf den Karpathen entspringt, bildet
bald hinter Krakau auf eine Strecke von 165 Kilometer die österreichisch-russische
Grenze in einer schmalen Niederung, durchschneidet dann in engem Tal die
südpolnische Kreidetafel nach Norden, tritt dann in das Flachland hinaus und
wendet sich hinter Warschau im "Thorn--Eberswalder Urstromtal" nach Nord¬
westen zur deutschen Grenze bei Thorn. An der Umbiegungsstelle bei Nowo-
georgiewsk empfängt sie den Bug, der aus der Kreidetafel Südostpolens kommt
und eine lange Strecke die Ostgrenze Polens bildet. Kurz vor seiner Ein¬
mündung strömt ihm von Nordosten her der Narew zu, der mit seinem rechten
Nebenfluß Bohr ungefähr der ostpreußischen Grenze parallel läuft und daher,
wie wir noch sehen werden, eine wichtige strategische Bedeutung besitzt. Da sich
nach Einmündung des Bug die Weichsel zu einem breiten, sumpfigen, Über¬
schwemmungen leicht ausgesetzten Laufe entwickelt, so hat die Lage Warschaus
auf dem linken Hochufer des hier 1000 Meter breiten Stromes nicht nur als
Mittelpunkt wichtiger Schiffahrtswege, sondern auch als natürliche Übergangs¬
stelle bedeutsamer Verkehrslinien hohen Wert. Daher konnte sich Warschau hier
als Hauptstadt mit 855000 Einwohnern (mit Vororten) kräftig entwickeln, als
polnische Großstadt, an der Pforte des westeuropäischen Vollkultutkreises gegen
Osteuropa und mit bedeutendem Handel und wichtigen Industrien (Wollen- und
Seidenweberei. Leder- und Zuckermdustrie). Auf der Diluvialplatte zwischen
Weichsel und Warthe ist noch Lodz nennenswert an der Bahnlinie Sagan---
Kalisch--Warschau mit 350000 Einwohnern wegen seiner riesigen, von Deutschen
begründeten Baumwollindustrie.

Überblicken wir noch die Bevölkerungsverhältnisse des Landes. Das ehe¬
malige Königreich Polen erstreckte sich noch 1772 von der Nähe der Oder bis


Grenzboten III 1914 27
Russisch-Polen als Kriegsschauplatz

Ablagerungen, die nach Südwesten geologisch immer älter werden und teilweise
Landstufen bilden. So wird der nach Südwesten abfallende Steilrand der
oberen Jurakalke bei Tschenstochow von der oberen Warthe durchbrochen. Davor
folgt dann das industriell wichtige Karbongebiet, das aus Oberschlesien bei dem
Städtchen Bendzin hereinreicht.

Die Physiogeographie der dritten Landschaft, ganz Nordpolens, ist ähnlich
der Norddeutschlands. Abgesehen von einem Landstreifen, der sich zwischen Ost¬
preußens Grenze und dem Njemen nach Norden auf die baltische Seenplatte
hinaufzieht (Gouvernement Suwalki), ist es ein weites niedriges Gebiet meist
fruchtbaren Geschiebelehms der Eiszeit, in das breite sumpfige oder sandige
Täter eingeschnitten sind. Diese gehören teilweise zum System unserer „Urstrom¬
täler", das heißt jener breiten Talzüge, die die Gletscherschmelzwasser schufen,
die an dem jeweiligen Stillstandsrande der zurückweichenden nordischen Ver¬
eisung von Osten nach Westen entlangflossen. Die heutigen Flüsse folgen diesen
alten Tälern nur streckenweise, sonst haben sie sich eigene Furchen gegraben.
So fließt die Warthe nach Norden, bis sie bei Koko sich im „Warschau—
Berliner Urstromtal" scharf nach Westen wendet und in dieser Richtung in die
Provinz Posen eintritt. Die Weichsel, die auf den Karpathen entspringt, bildet
bald hinter Krakau auf eine Strecke von 165 Kilometer die österreichisch-russische
Grenze in einer schmalen Niederung, durchschneidet dann in engem Tal die
südpolnische Kreidetafel nach Norden, tritt dann in das Flachland hinaus und
wendet sich hinter Warschau im „Thorn—Eberswalder Urstromtal" nach Nord¬
westen zur deutschen Grenze bei Thorn. An der Umbiegungsstelle bei Nowo-
georgiewsk empfängt sie den Bug, der aus der Kreidetafel Südostpolens kommt
und eine lange Strecke die Ostgrenze Polens bildet. Kurz vor seiner Ein¬
mündung strömt ihm von Nordosten her der Narew zu, der mit seinem rechten
Nebenfluß Bohr ungefähr der ostpreußischen Grenze parallel läuft und daher,
wie wir noch sehen werden, eine wichtige strategische Bedeutung besitzt. Da sich
nach Einmündung des Bug die Weichsel zu einem breiten, sumpfigen, Über¬
schwemmungen leicht ausgesetzten Laufe entwickelt, so hat die Lage Warschaus
auf dem linken Hochufer des hier 1000 Meter breiten Stromes nicht nur als
Mittelpunkt wichtiger Schiffahrtswege, sondern auch als natürliche Übergangs¬
stelle bedeutsamer Verkehrslinien hohen Wert. Daher konnte sich Warschau hier
als Hauptstadt mit 855000 Einwohnern (mit Vororten) kräftig entwickeln, als
polnische Großstadt, an der Pforte des westeuropäischen Vollkultutkreises gegen
Osteuropa und mit bedeutendem Handel und wichtigen Industrien (Wollen- und
Seidenweberei. Leder- und Zuckermdustrie). Auf der Diluvialplatte zwischen
Weichsel und Warthe ist noch Lodz nennenswert an der Bahnlinie Sagan—-
Kalisch—Warschau mit 350000 Einwohnern wegen seiner riesigen, von Deutschen
begründeten Baumwollindustrie.

Überblicken wir noch die Bevölkerungsverhältnisse des Landes. Das ehe¬
malige Königreich Polen erstreckte sich noch 1772 von der Nähe der Oder bis


Grenzboten III 1914 27
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[0405] Russisch-Polen als Kriegsschauplatz Ablagerungen, die nach Südwesten geologisch immer älter werden und teilweise Landstufen bilden. So wird der nach Südwesten abfallende Steilrand der oberen Jurakalke bei Tschenstochow von der oberen Warthe durchbrochen. Davor folgt dann das industriell wichtige Karbongebiet, das aus Oberschlesien bei dem Städtchen Bendzin hereinreicht. Die Physiogeographie der dritten Landschaft, ganz Nordpolens, ist ähnlich der Norddeutschlands. Abgesehen von einem Landstreifen, der sich zwischen Ost¬ preußens Grenze und dem Njemen nach Norden auf die baltische Seenplatte hinaufzieht (Gouvernement Suwalki), ist es ein weites niedriges Gebiet meist fruchtbaren Geschiebelehms der Eiszeit, in das breite sumpfige oder sandige Täter eingeschnitten sind. Diese gehören teilweise zum System unserer „Urstrom¬ täler", das heißt jener breiten Talzüge, die die Gletscherschmelzwasser schufen, die an dem jeweiligen Stillstandsrande der zurückweichenden nordischen Ver¬ eisung von Osten nach Westen entlangflossen. Die heutigen Flüsse folgen diesen alten Tälern nur streckenweise, sonst haben sie sich eigene Furchen gegraben. So fließt die Warthe nach Norden, bis sie bei Koko sich im „Warschau— Berliner Urstromtal" scharf nach Westen wendet und in dieser Richtung in die Provinz Posen eintritt. Die Weichsel, die auf den Karpathen entspringt, bildet bald hinter Krakau auf eine Strecke von 165 Kilometer die österreichisch-russische Grenze in einer schmalen Niederung, durchschneidet dann in engem Tal die südpolnische Kreidetafel nach Norden, tritt dann in das Flachland hinaus und wendet sich hinter Warschau im „Thorn—Eberswalder Urstromtal" nach Nord¬ westen zur deutschen Grenze bei Thorn. An der Umbiegungsstelle bei Nowo- georgiewsk empfängt sie den Bug, der aus der Kreidetafel Südostpolens kommt und eine lange Strecke die Ostgrenze Polens bildet. Kurz vor seiner Ein¬ mündung strömt ihm von Nordosten her der Narew zu, der mit seinem rechten Nebenfluß Bohr ungefähr der ostpreußischen Grenze parallel läuft und daher, wie wir noch sehen werden, eine wichtige strategische Bedeutung besitzt. Da sich nach Einmündung des Bug die Weichsel zu einem breiten, sumpfigen, Über¬ schwemmungen leicht ausgesetzten Laufe entwickelt, so hat die Lage Warschaus auf dem linken Hochufer des hier 1000 Meter breiten Stromes nicht nur als Mittelpunkt wichtiger Schiffahrtswege, sondern auch als natürliche Übergangs¬ stelle bedeutsamer Verkehrslinien hohen Wert. Daher konnte sich Warschau hier als Hauptstadt mit 855000 Einwohnern (mit Vororten) kräftig entwickeln, als polnische Großstadt, an der Pforte des westeuropäischen Vollkultutkreises gegen Osteuropa und mit bedeutendem Handel und wichtigen Industrien (Wollen- und Seidenweberei. Leder- und Zuckermdustrie). Auf der Diluvialplatte zwischen Weichsel und Warthe ist noch Lodz nennenswert an der Bahnlinie Sagan—- Kalisch—Warschau mit 350000 Einwohnern wegen seiner riesigen, von Deutschen begründeten Baumwollindustrie. Überblicken wir noch die Bevölkerungsverhältnisse des Landes. Das ehe¬ malige Königreich Polen erstreckte sich noch 1772 von der Nähe der Oder bis Grenzboten III 1914 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/405>, abgerufen am 22.12.2024.