Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das slawische Aulturproblem

Die Losungsworte sind rationalistisch, die Phrasen positivistisch, die Methode
des Kampfes ökonomisch, aber der Geist, der alle bewegt, ist nichts anderes
als jene ethische Erbitterung gegen Gewalt und materielle Kräfte, die wir aus
den Traktaten von Hus, Chelcicki und Komenski herauslesen. Der Kampf um
die tschechische Sprache ist aber nicht allein ein Kampf um tschechische Festungen,
tschechische Fabriken, Kassen, Gemeinden, Schulen, sondern um etwas Höheres.
Hier geht es um den tieferen Sinn des tschechischen Wortes, um den tschechischen
Geist. Dieser Geist ist der Urheber der tschechischen Sprache und der Kampf
um die Sprache nur ein Mittel des geistigen Ringens. Gilt aber der Kampf
dem Geiste, so darf er sich auch der Waffe des Teufels, des Mammons nicht
bedienen. Gewalt ist Sünde gegen den Geist. Nicht in der Gewalt, sondern
in der Gerechtigkeit ist Gott. Faßt man Masaryks Charakteristik der Tschechen
so, dann bedarf sie keiner historischen Begründung.

Zehn Jahre und mehr, von 1894 bis 1908, machte sich keine wissen¬
schaftliche Kritik gegen Masaryks Lehre geltend und Masaryk übte einen
bedeutenden Einfluß auf die tschechische Journalistik, Politik, Religion und
Kunst aus. Es reiften viele entschlossene Kämpfer für jenes höhere Moment
im Leben heran. Philosophie, Psychologie, Pädagogik erhielten neue An¬
regungen. Die tschechische Kultur fand Verbindungspunkte mit der tschechischen
Vergangenheit und begann sich über den Weg zu orientieren, den sie in Zukunft
zu gehen haben wird. Und da legte man an diese Wurzel die wissenschaftliche
Säge und durchschnitt den neuen Stamm der tschechischen Kultur. Es geschah
dies gelegentlich der Diskussion über Masaryks Verdienste aus Anlaß seines
sechzigsten Geburtstags (1910).

Den Kampf gegen Masaryk führen Nationalisten, Historiker, politische
Politiker und Gelehrte, Fachleute, die jenes "höhere Moment" nicht suchen,
aber "wissenschaftliche" Wahrheit lieben. Diese wissenschaftliche Wahrheit be¬
hauptet: erstens, daß die Wiedergeburt im neunzehnten Jahrhundert nicht an
die tschechische Reformation im fünfzehnten und sechzehnten anknüpfte und mit
ihr nichts gemein hat; zweitens, daß die Erneuerer der tschechischen Nation an
die Idee der Humanität anknüpfen, wie sie das aufgeklärte achtzehnte Jahr¬
hundert, besonders Herder entwickelte; drittens, daß die Idee der Humanität
demnach nicht tschechischen, sondern fremden Ursprungs ist. In der Polemik, Jour¬
nalistik und Politik lautet diese Erkenntnis, praktisch ausgedrückt so: wir Tschechen
sind nicht stark genug, uns Wien, Rom, den Deutschen mit derlei Ansprüchen
auf etwas "Höheres" zu widersetzen, diesen Luxus können sich stärkere erlauben.

Auf welcher Seite ist nun die Wahrheit?

Wenn sich mit dem Verstand, durch Logik nicht nachweisen läßt, daß
Humanität ein tschechisches Charaktermerkmal ist, so läßt es sich durch Wille
und Arbeit feststellen.

Den wichtigsten Charakterzug des tschechischen Volkes sieht E. Chalupny,
ein ehemaliger Anhänger und späterer Gegner Masaryks im Unternehmungsgeist:


Das slawische Aulturproblem

Die Losungsworte sind rationalistisch, die Phrasen positivistisch, die Methode
des Kampfes ökonomisch, aber der Geist, der alle bewegt, ist nichts anderes
als jene ethische Erbitterung gegen Gewalt und materielle Kräfte, die wir aus
den Traktaten von Hus, Chelcicki und Komenski herauslesen. Der Kampf um
die tschechische Sprache ist aber nicht allein ein Kampf um tschechische Festungen,
tschechische Fabriken, Kassen, Gemeinden, Schulen, sondern um etwas Höheres.
Hier geht es um den tieferen Sinn des tschechischen Wortes, um den tschechischen
Geist. Dieser Geist ist der Urheber der tschechischen Sprache und der Kampf
um die Sprache nur ein Mittel des geistigen Ringens. Gilt aber der Kampf
dem Geiste, so darf er sich auch der Waffe des Teufels, des Mammons nicht
bedienen. Gewalt ist Sünde gegen den Geist. Nicht in der Gewalt, sondern
in der Gerechtigkeit ist Gott. Faßt man Masaryks Charakteristik der Tschechen
so, dann bedarf sie keiner historischen Begründung.

Zehn Jahre und mehr, von 1894 bis 1908, machte sich keine wissen¬
schaftliche Kritik gegen Masaryks Lehre geltend und Masaryk übte einen
bedeutenden Einfluß auf die tschechische Journalistik, Politik, Religion und
Kunst aus. Es reiften viele entschlossene Kämpfer für jenes höhere Moment
im Leben heran. Philosophie, Psychologie, Pädagogik erhielten neue An¬
regungen. Die tschechische Kultur fand Verbindungspunkte mit der tschechischen
Vergangenheit und begann sich über den Weg zu orientieren, den sie in Zukunft
zu gehen haben wird. Und da legte man an diese Wurzel die wissenschaftliche
Säge und durchschnitt den neuen Stamm der tschechischen Kultur. Es geschah
dies gelegentlich der Diskussion über Masaryks Verdienste aus Anlaß seines
sechzigsten Geburtstags (1910).

Den Kampf gegen Masaryk führen Nationalisten, Historiker, politische
Politiker und Gelehrte, Fachleute, die jenes „höhere Moment" nicht suchen,
aber „wissenschaftliche" Wahrheit lieben. Diese wissenschaftliche Wahrheit be¬
hauptet: erstens, daß die Wiedergeburt im neunzehnten Jahrhundert nicht an
die tschechische Reformation im fünfzehnten und sechzehnten anknüpfte und mit
ihr nichts gemein hat; zweitens, daß die Erneuerer der tschechischen Nation an
die Idee der Humanität anknüpfen, wie sie das aufgeklärte achtzehnte Jahr¬
hundert, besonders Herder entwickelte; drittens, daß die Idee der Humanität
demnach nicht tschechischen, sondern fremden Ursprungs ist. In der Polemik, Jour¬
nalistik und Politik lautet diese Erkenntnis, praktisch ausgedrückt so: wir Tschechen
sind nicht stark genug, uns Wien, Rom, den Deutschen mit derlei Ansprüchen
auf etwas „Höheres" zu widersetzen, diesen Luxus können sich stärkere erlauben.

Auf welcher Seite ist nun die Wahrheit?

Wenn sich mit dem Verstand, durch Logik nicht nachweisen läßt, daß
Humanität ein tschechisches Charaktermerkmal ist, so läßt es sich durch Wille
und Arbeit feststellen.

Den wichtigsten Charakterzug des tschechischen Volkes sieht E. Chalupny,
ein ehemaliger Anhänger und späterer Gegner Masaryks im Unternehmungsgeist:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0400" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/329134"/>
            <fw type="header" place="top"> Das slawische Aulturproblem</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1346"> Die Losungsworte sind rationalistisch, die Phrasen positivistisch, die Methode<lb/>
des Kampfes ökonomisch, aber der Geist, der alle bewegt, ist nichts anderes<lb/>
als jene ethische Erbitterung gegen Gewalt und materielle Kräfte, die wir aus<lb/>
den Traktaten von Hus, Chelcicki und Komenski herauslesen. Der Kampf um<lb/>
die tschechische Sprache ist aber nicht allein ein Kampf um tschechische Festungen,<lb/>
tschechische Fabriken, Kassen, Gemeinden, Schulen, sondern um etwas Höheres.<lb/>
Hier geht es um den tieferen Sinn des tschechischen Wortes, um den tschechischen<lb/>
Geist. Dieser Geist ist der Urheber der tschechischen Sprache und der Kampf<lb/>
um die Sprache nur ein Mittel des geistigen Ringens. Gilt aber der Kampf<lb/>
dem Geiste, so darf er sich auch der Waffe des Teufels, des Mammons nicht<lb/>
bedienen. Gewalt ist Sünde gegen den Geist. Nicht in der Gewalt, sondern<lb/>
in der Gerechtigkeit ist Gott. Faßt man Masaryks Charakteristik der Tschechen<lb/>
so, dann bedarf sie keiner historischen Begründung.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1347"> Zehn Jahre und mehr, von 1894 bis 1908, machte sich keine wissen¬<lb/>
schaftliche Kritik gegen Masaryks Lehre geltend und Masaryk übte einen<lb/>
bedeutenden Einfluß auf die tschechische Journalistik, Politik, Religion und<lb/>
Kunst aus. Es reiften viele entschlossene Kämpfer für jenes höhere Moment<lb/>
im Leben heran. Philosophie, Psychologie, Pädagogik erhielten neue An¬<lb/>
regungen. Die tschechische Kultur fand Verbindungspunkte mit der tschechischen<lb/>
Vergangenheit und begann sich über den Weg zu orientieren, den sie in Zukunft<lb/>
zu gehen haben wird. Und da legte man an diese Wurzel die wissenschaftliche<lb/>
Säge und durchschnitt den neuen Stamm der tschechischen Kultur. Es geschah<lb/>
dies gelegentlich der Diskussion über Masaryks Verdienste aus Anlaß seines<lb/>
sechzigsten Geburtstags (1910).</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1348"> Den Kampf gegen Masaryk führen Nationalisten, Historiker, politische<lb/>
Politiker und Gelehrte, Fachleute, die jenes &#x201E;höhere Moment" nicht suchen,<lb/>
aber &#x201E;wissenschaftliche" Wahrheit lieben. Diese wissenschaftliche Wahrheit be¬<lb/>
hauptet: erstens, daß die Wiedergeburt im neunzehnten Jahrhundert nicht an<lb/>
die tschechische Reformation im fünfzehnten und sechzehnten anknüpfte und mit<lb/>
ihr nichts gemein hat; zweitens, daß die Erneuerer der tschechischen Nation an<lb/>
die Idee der Humanität anknüpfen, wie sie das aufgeklärte achtzehnte Jahr¬<lb/>
hundert, besonders Herder entwickelte; drittens, daß die Idee der Humanität<lb/>
demnach nicht tschechischen, sondern fremden Ursprungs ist. In der Polemik, Jour¬<lb/>
nalistik und Politik lautet diese Erkenntnis, praktisch ausgedrückt so: wir Tschechen<lb/>
sind nicht stark genug, uns Wien, Rom, den Deutschen mit derlei Ansprüchen<lb/>
auf etwas &#x201E;Höheres" zu widersetzen, diesen Luxus können sich stärkere erlauben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1349"> Auf welcher Seite ist nun die Wahrheit?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1350"> Wenn sich mit dem Verstand, durch Logik nicht nachweisen läßt, daß<lb/>
Humanität ein tschechisches Charaktermerkmal ist, so läßt es sich durch Wille<lb/>
und Arbeit feststellen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1351" next="#ID_1352"> Den wichtigsten Charakterzug des tschechischen Volkes sieht E. Chalupny,<lb/>
ein ehemaliger Anhänger und späterer Gegner Masaryks im Unternehmungsgeist:</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0400] Das slawische Aulturproblem Die Losungsworte sind rationalistisch, die Phrasen positivistisch, die Methode des Kampfes ökonomisch, aber der Geist, der alle bewegt, ist nichts anderes als jene ethische Erbitterung gegen Gewalt und materielle Kräfte, die wir aus den Traktaten von Hus, Chelcicki und Komenski herauslesen. Der Kampf um die tschechische Sprache ist aber nicht allein ein Kampf um tschechische Festungen, tschechische Fabriken, Kassen, Gemeinden, Schulen, sondern um etwas Höheres. Hier geht es um den tieferen Sinn des tschechischen Wortes, um den tschechischen Geist. Dieser Geist ist der Urheber der tschechischen Sprache und der Kampf um die Sprache nur ein Mittel des geistigen Ringens. Gilt aber der Kampf dem Geiste, so darf er sich auch der Waffe des Teufels, des Mammons nicht bedienen. Gewalt ist Sünde gegen den Geist. Nicht in der Gewalt, sondern in der Gerechtigkeit ist Gott. Faßt man Masaryks Charakteristik der Tschechen so, dann bedarf sie keiner historischen Begründung. Zehn Jahre und mehr, von 1894 bis 1908, machte sich keine wissen¬ schaftliche Kritik gegen Masaryks Lehre geltend und Masaryk übte einen bedeutenden Einfluß auf die tschechische Journalistik, Politik, Religion und Kunst aus. Es reiften viele entschlossene Kämpfer für jenes höhere Moment im Leben heran. Philosophie, Psychologie, Pädagogik erhielten neue An¬ regungen. Die tschechische Kultur fand Verbindungspunkte mit der tschechischen Vergangenheit und begann sich über den Weg zu orientieren, den sie in Zukunft zu gehen haben wird. Und da legte man an diese Wurzel die wissenschaftliche Säge und durchschnitt den neuen Stamm der tschechischen Kultur. Es geschah dies gelegentlich der Diskussion über Masaryks Verdienste aus Anlaß seines sechzigsten Geburtstags (1910). Den Kampf gegen Masaryk führen Nationalisten, Historiker, politische Politiker und Gelehrte, Fachleute, die jenes „höhere Moment" nicht suchen, aber „wissenschaftliche" Wahrheit lieben. Diese wissenschaftliche Wahrheit be¬ hauptet: erstens, daß die Wiedergeburt im neunzehnten Jahrhundert nicht an die tschechische Reformation im fünfzehnten und sechzehnten anknüpfte und mit ihr nichts gemein hat; zweitens, daß die Erneuerer der tschechischen Nation an die Idee der Humanität anknüpfen, wie sie das aufgeklärte achtzehnte Jahr¬ hundert, besonders Herder entwickelte; drittens, daß die Idee der Humanität demnach nicht tschechischen, sondern fremden Ursprungs ist. In der Polemik, Jour¬ nalistik und Politik lautet diese Erkenntnis, praktisch ausgedrückt so: wir Tschechen sind nicht stark genug, uns Wien, Rom, den Deutschen mit derlei Ansprüchen auf etwas „Höheres" zu widersetzen, diesen Luxus können sich stärkere erlauben. Auf welcher Seite ist nun die Wahrheit? Wenn sich mit dem Verstand, durch Logik nicht nachweisen läßt, daß Humanität ein tschechisches Charaktermerkmal ist, so läßt es sich durch Wille und Arbeit feststellen. Den wichtigsten Charakterzug des tschechischen Volkes sieht E. Chalupny, ein ehemaliger Anhänger und späterer Gegner Masaryks im Unternehmungsgeist:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/400
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/400>, abgerufen am 28.07.2024.