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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Kriegstagebuch

Chauvinisten, wie Clemencecm, an der Regierung nicht teilnehmen. Die sozialdemokratischen
Führer, die in das neue Ministerium eingetreten sind, sind nicht etwa rechtsstehende, dem
Ministerialismus zuneigende Genossen. Es sind die bedeutensten Männer der französischen
Bruderpartei, der geistreiche, von revolutionärem Temperament sprühende Marcel Sembat,
die stärkste Stütze von Jaurös in demi Kampf für die Verständigung mit Deutschland, und
Jules Guesde -- Guesde, der alte Kampfgefährte von Marx und Engels, der Begründer
und Organisator der marxistischen Richtung in Frankreich, der schärfste und rücksichtsloseste
Verfechter des Klassenkampfes, der unermüdlichste Bekämpfer jeder Kompromißpolitik, der
ebenso wie Sembat die Spaltung der Billigung des ministerialistischen Experiments vorzog,
der unversönlichste Feind kapitalistischer, ministerialistischer, imperialistischer Politik. Wie weit
Guesde wie auch Sembat entfernt sind und stets entfernt waren von chauvinistischer Kriegs¬
begeisterung Deutschland gegenüber, das zeigt noch wieder die Rede, die Sembat am Tage
der Kriegserklärung in einer großen Pariser Versammlung hielt. Er wandte sich dagegen,
daß der Krieg irgend welchen Rachegelüsten dienen dürfe; auch nicht die Zerstörung deutscher
Kultur dürfe sein Ziel sein, und wenn ein siegreiches Rußland Deutschland zerstückeln und
die Kosaken seine berühmten Hochschulen zerstören wollten, so werde das Frankreich nicht
zugeben. Daß diese Männer, an deren Gesinnung internationaler Solidarität und Freund¬
schaft für die deutsche Arbeiterklasse ein Zweifel nicht erlaubt ist, in das Ministerium einge¬
treten sind, das den Krieg führt, beweist, daß die Ereignisse Wirkungen zeitigen, die bei
Ausbruch des Krieges nicht gewollt und von manchen nicht geahnt waren.

Versuchen wir in dieser Stunde, wo über die Motive der französischen Genossen noch
kein Bericht vorliegt, die Tatsache selbst zu deuten.

Die französischen Armeen haben eine Niederlage erlitten. Der Eindruck in Frankreich,
in dem in den letzten Jahren immer mehr die Furcht vor dem Kriege mit der übermächtigen
deutschen Militärorganisation sowie das Friedensbedürfnis der arbeitenden Massen den
Revanchegedanken verdrängt hatte, muß außerordentlich stark sein. Das französische Volk
sorgt um seine Existenz, um seine nationale Einheit und Unabhängigkeit. Die herrschenden
Klassen, die die Verantwortung für diesen Krieg tragen, wenden sich an die, die bis zur
letzten Minute und mit aller Kraft den Ausbruch des Krieges zu hindern suchten. Denn in
dieser furchtbaren Krise erscheinen die Tatsachen in ihrer ganzen Härte. Der französische
Militarismus war in, Frieden eine Kriegsgefahr und ein Herrschaftsmittel für die Besitzenden.
Aber das moderne Heer ist zugleich das Volk in Waffen. Der Krieg, einmal ausgebrochen,
verlangt die begeistertste und hingebendste Tapferkeit und Opferwilligkeit des Volkes. Und
deshalb der Appell an die Vertrauensmänner der arbeitenden Klassen.

Unsere Genossen haben sich in der Stunde furchtbarer .Gefahr der schweren Ver¬
antwortung nicht entzogen. Sie haben sich Wohl gesagt, daß die Unabhängigkeit und Un¬
versehrtheit der Nation die erste Bedingung der demokratischen und sozialen Befreiung ist,
und der Selbstbehauptung der Nation können sie ihre Hilfe nicht entziehen.

Der Eintritt der sozialdemokratischen Führer wird seinen Eindruck auf das französische
Volk nicht verfehlen, und diese Tatsache gilt es klar ins Auge zu fassen. Die Teilnahme
der Sozialdemokraten am Ministerium bedeutet für das französische Volk ein Sturmzeichen,
ein Sturmzeichen, das aufruft zur Aufbietung aller Kräfte zur Abwehr. Es wandelt den
Krieg, der ein Krieg der Regierung gegen den Willen des Volkes war, zum Volkskrieg um
die Erhaltung der Existenz.

Das deutsche Volk muß mit dieser Auffassung rechnen. Unsere französischen Genossen
wären nie in das Ministerium eingetreten, wenn sie die Meinung hätten, daß der Krieg im
jetzigen Stadium ein Krieg zur Unterstützung des Zarismus, ein Krieg gegen die Kultur und
Politische Freiheit wäre. Die Niederlage läßt ihnen den Krieg als Kampf um die nationale
Selbständigkeit erscheinen. Sie fürchten Annexionen.

Auf der anderen Seite dürfen wir nicht daran zweifeln, daß die Männer, die heute die
französische Regierung bilden, in ihrer Mehrheit für einen Frieden, der die nationale Sicherheit,


Kriegstagebuch

Chauvinisten, wie Clemencecm, an der Regierung nicht teilnehmen. Die sozialdemokratischen
Führer, die in das neue Ministerium eingetreten sind, sind nicht etwa rechtsstehende, dem
Ministerialismus zuneigende Genossen. Es sind die bedeutensten Männer der französischen
Bruderpartei, der geistreiche, von revolutionärem Temperament sprühende Marcel Sembat,
die stärkste Stütze von Jaurös in demi Kampf für die Verständigung mit Deutschland, und
Jules Guesde — Guesde, der alte Kampfgefährte von Marx und Engels, der Begründer
und Organisator der marxistischen Richtung in Frankreich, der schärfste und rücksichtsloseste
Verfechter des Klassenkampfes, der unermüdlichste Bekämpfer jeder Kompromißpolitik, der
ebenso wie Sembat die Spaltung der Billigung des ministerialistischen Experiments vorzog,
der unversönlichste Feind kapitalistischer, ministerialistischer, imperialistischer Politik. Wie weit
Guesde wie auch Sembat entfernt sind und stets entfernt waren von chauvinistischer Kriegs¬
begeisterung Deutschland gegenüber, das zeigt noch wieder die Rede, die Sembat am Tage
der Kriegserklärung in einer großen Pariser Versammlung hielt. Er wandte sich dagegen,
daß der Krieg irgend welchen Rachegelüsten dienen dürfe; auch nicht die Zerstörung deutscher
Kultur dürfe sein Ziel sein, und wenn ein siegreiches Rußland Deutschland zerstückeln und
die Kosaken seine berühmten Hochschulen zerstören wollten, so werde das Frankreich nicht
zugeben. Daß diese Männer, an deren Gesinnung internationaler Solidarität und Freund¬
schaft für die deutsche Arbeiterklasse ein Zweifel nicht erlaubt ist, in das Ministerium einge¬
treten sind, das den Krieg führt, beweist, daß die Ereignisse Wirkungen zeitigen, die bei
Ausbruch des Krieges nicht gewollt und von manchen nicht geahnt waren.

Versuchen wir in dieser Stunde, wo über die Motive der französischen Genossen noch
kein Bericht vorliegt, die Tatsache selbst zu deuten.

Die französischen Armeen haben eine Niederlage erlitten. Der Eindruck in Frankreich,
in dem in den letzten Jahren immer mehr die Furcht vor dem Kriege mit der übermächtigen
deutschen Militärorganisation sowie das Friedensbedürfnis der arbeitenden Massen den
Revanchegedanken verdrängt hatte, muß außerordentlich stark sein. Das französische Volk
sorgt um seine Existenz, um seine nationale Einheit und Unabhängigkeit. Die herrschenden
Klassen, die die Verantwortung für diesen Krieg tragen, wenden sich an die, die bis zur
letzten Minute und mit aller Kraft den Ausbruch des Krieges zu hindern suchten. Denn in
dieser furchtbaren Krise erscheinen die Tatsachen in ihrer ganzen Härte. Der französische
Militarismus war in, Frieden eine Kriegsgefahr und ein Herrschaftsmittel für die Besitzenden.
Aber das moderne Heer ist zugleich das Volk in Waffen. Der Krieg, einmal ausgebrochen,
verlangt die begeistertste und hingebendste Tapferkeit und Opferwilligkeit des Volkes. Und
deshalb der Appell an die Vertrauensmänner der arbeitenden Klassen.

Unsere Genossen haben sich in der Stunde furchtbarer .Gefahr der schweren Ver¬
antwortung nicht entzogen. Sie haben sich Wohl gesagt, daß die Unabhängigkeit und Un¬
versehrtheit der Nation die erste Bedingung der demokratischen und sozialen Befreiung ist,
und der Selbstbehauptung der Nation können sie ihre Hilfe nicht entziehen.

Der Eintritt der sozialdemokratischen Führer wird seinen Eindruck auf das französische
Volk nicht verfehlen, und diese Tatsache gilt es klar ins Auge zu fassen. Die Teilnahme
der Sozialdemokraten am Ministerium bedeutet für das französische Volk ein Sturmzeichen,
ein Sturmzeichen, das aufruft zur Aufbietung aller Kräfte zur Abwehr. Es wandelt den
Krieg, der ein Krieg der Regierung gegen den Willen des Volkes war, zum Volkskrieg um
die Erhaltung der Existenz.

Das deutsche Volk muß mit dieser Auffassung rechnen. Unsere französischen Genossen
wären nie in das Ministerium eingetreten, wenn sie die Meinung hätten, daß der Krieg im
jetzigen Stadium ein Krieg zur Unterstützung des Zarismus, ein Krieg gegen die Kultur und
Politische Freiheit wäre. Die Niederlage läßt ihnen den Krieg als Kampf um die nationale
Selbständigkeit erscheinen. Sie fürchten Annexionen.

Auf der anderen Seite dürfen wir nicht daran zweifeln, daß die Männer, die heute die
französische Regierung bilden, in ihrer Mehrheit für einen Frieden, der die nationale Sicherheit,


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[0353] Kriegstagebuch Chauvinisten, wie Clemencecm, an der Regierung nicht teilnehmen. Die sozialdemokratischen Führer, die in das neue Ministerium eingetreten sind, sind nicht etwa rechtsstehende, dem Ministerialismus zuneigende Genossen. Es sind die bedeutensten Männer der französischen Bruderpartei, der geistreiche, von revolutionärem Temperament sprühende Marcel Sembat, die stärkste Stütze von Jaurös in demi Kampf für die Verständigung mit Deutschland, und Jules Guesde — Guesde, der alte Kampfgefährte von Marx und Engels, der Begründer und Organisator der marxistischen Richtung in Frankreich, der schärfste und rücksichtsloseste Verfechter des Klassenkampfes, der unermüdlichste Bekämpfer jeder Kompromißpolitik, der ebenso wie Sembat die Spaltung der Billigung des ministerialistischen Experiments vorzog, der unversönlichste Feind kapitalistischer, ministerialistischer, imperialistischer Politik. Wie weit Guesde wie auch Sembat entfernt sind und stets entfernt waren von chauvinistischer Kriegs¬ begeisterung Deutschland gegenüber, das zeigt noch wieder die Rede, die Sembat am Tage der Kriegserklärung in einer großen Pariser Versammlung hielt. Er wandte sich dagegen, daß der Krieg irgend welchen Rachegelüsten dienen dürfe; auch nicht die Zerstörung deutscher Kultur dürfe sein Ziel sein, und wenn ein siegreiches Rußland Deutschland zerstückeln und die Kosaken seine berühmten Hochschulen zerstören wollten, so werde das Frankreich nicht zugeben. Daß diese Männer, an deren Gesinnung internationaler Solidarität und Freund¬ schaft für die deutsche Arbeiterklasse ein Zweifel nicht erlaubt ist, in das Ministerium einge¬ treten sind, das den Krieg führt, beweist, daß die Ereignisse Wirkungen zeitigen, die bei Ausbruch des Krieges nicht gewollt und von manchen nicht geahnt waren. Versuchen wir in dieser Stunde, wo über die Motive der französischen Genossen noch kein Bericht vorliegt, die Tatsache selbst zu deuten. Die französischen Armeen haben eine Niederlage erlitten. Der Eindruck in Frankreich, in dem in den letzten Jahren immer mehr die Furcht vor dem Kriege mit der übermächtigen deutschen Militärorganisation sowie das Friedensbedürfnis der arbeitenden Massen den Revanchegedanken verdrängt hatte, muß außerordentlich stark sein. Das französische Volk sorgt um seine Existenz, um seine nationale Einheit und Unabhängigkeit. Die herrschenden Klassen, die die Verantwortung für diesen Krieg tragen, wenden sich an die, die bis zur letzten Minute und mit aller Kraft den Ausbruch des Krieges zu hindern suchten. Denn in dieser furchtbaren Krise erscheinen die Tatsachen in ihrer ganzen Härte. Der französische Militarismus war in, Frieden eine Kriegsgefahr und ein Herrschaftsmittel für die Besitzenden. Aber das moderne Heer ist zugleich das Volk in Waffen. Der Krieg, einmal ausgebrochen, verlangt die begeistertste und hingebendste Tapferkeit und Opferwilligkeit des Volkes. Und deshalb der Appell an die Vertrauensmänner der arbeitenden Klassen. Unsere Genossen haben sich in der Stunde furchtbarer .Gefahr der schweren Ver¬ antwortung nicht entzogen. Sie haben sich Wohl gesagt, daß die Unabhängigkeit und Un¬ versehrtheit der Nation die erste Bedingung der demokratischen und sozialen Befreiung ist, und der Selbstbehauptung der Nation können sie ihre Hilfe nicht entziehen. Der Eintritt der sozialdemokratischen Führer wird seinen Eindruck auf das französische Volk nicht verfehlen, und diese Tatsache gilt es klar ins Auge zu fassen. Die Teilnahme der Sozialdemokraten am Ministerium bedeutet für das französische Volk ein Sturmzeichen, ein Sturmzeichen, das aufruft zur Aufbietung aller Kräfte zur Abwehr. Es wandelt den Krieg, der ein Krieg der Regierung gegen den Willen des Volkes war, zum Volkskrieg um die Erhaltung der Existenz. Das deutsche Volk muß mit dieser Auffassung rechnen. Unsere französischen Genossen wären nie in das Ministerium eingetreten, wenn sie die Meinung hätten, daß der Krieg im jetzigen Stadium ein Krieg zur Unterstützung des Zarismus, ein Krieg gegen die Kultur und Politische Freiheit wäre. Die Niederlage läßt ihnen den Krieg als Kampf um die nationale Selbständigkeit erscheinen. Sie fürchten Annexionen. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht daran zweifeln, daß die Männer, die heute die französische Regierung bilden, in ihrer Mehrheit für einen Frieden, der die nationale Sicherheit,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/353>, abgerufen am 28.07.2024.