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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie

Wandlungen vollbringen lassen, wieweit sich Ideen und Ideale überhaupt durch¬
setzen lassen, und wieweit sie, mit Bergson zu reden, an dem widerstrebenden
Stoff der Wirklichkeit eine unüberwindliche Schranke finden? Alle diese Fragen
kann man, ebenso wie die im vorigen Fall sich erhebenden nach ihrer wissen¬
schaftlichen Zugehörigkeit als geschichtsphilosophische ansprechen, sowie sich ja
tatsächlich die heutige Soziologie zu einem Teil aus der alten Geschichtsphilosophie
entwickelt hat.

Die Ausbreitung der soziologischen Bewegung ist eng verbunden mit dem
Aufkommen oder der Ausbreitung einer neuen Denkweise im Gebiete der mensch¬
lichen Dinge. Es ist interessant zu sehen, wie sich diese unter dem Druck der
Verhältnisse allmählich gleichsam von selbst entwickelt. Für den Arzt, den
Techniker oder den rationell wirtschaftenden Landwirt ist es selbstverständlich,
daß sein Beruf sich auf wissenschaftlichen Einsichten und wissenschaftlichem Denken
aufbaut: es ist für ihn selbstverständlich, daß sein Handeln sich auf die Voraus¬
setzung konstanter Kausalzusammenhänge und allgemeiner Gültigkeit fester Regeln
gründet. Das Entsprechende gilt nun aber auch für das Bereich der mensch¬
lichen Verhältnisse. Der Unternehmer, der das Risiko eines neuen Planes ab¬
schätzt, kann gleichsam nicht umhin, gewisse Eigenschaften in der menschlichen
Natur und gewisse Arten auf bestimmte Reize zu reagieren, als sichere Tatsachen
seiner Überlegung zugrunde zu legen; und wenn der Politiker von neuen
Gesetzen sich bestimmte Wirkungen verspricht, so rechnet er ebenfalls mit einer
gewissen Gesetzmäßigkeit der menschlichen Natur. Es mögen alle diese Vor¬
stellungen zunächst noch roh empirischer Art sein; nach ihrer grundsätzlichen
Beschaffenheit erheben sie sich doch über jene naive Denkweise, die im mensch¬
lichen Leben überhaupt nichts Festes und Allgemeingültiges kennt. Ebenso
drängt, das sahen wir schon früher, die moderne Entwicklung der Geisteswissen¬
schaften darauf hin. über dasjenige Maß hinaus, das schon von Haus aus mit
der Spezialforschuug verbunden ist, allgemeine Sätze über das Wesen des mensch¬
lichen Geisteslebens zu entwickeln. Es handelt sich bei all diesen Vorgängen
darum, daß die wissenschaftliche Denkweise ihren Einzug auch in das Gebiet der
menschlichen Dinge hält und auf die Tatsachen der Gesellschaft und Kultur
angewendet wird. In erster Linie ist dabei natürlich die allgemeine Denkweise
des täglichen Lebens, und erst in zweiter Linie, wie bereits angedeutet, auch
das Denken innerhalb der Geisteswissenschaften gemeint. Wir können den Vor¬
gang, der sich heute abspielt, vergleichen mit dem Aufkommen der naturwissen¬
schaftlichen Denkweise im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Was diese
für das Gebiet der natürlichen Dinge im allgemeinen Denken verdrängte, das
war die uralte mythologische Denkweise. Für sie besteht die Welt aus einer
Summe von Zufälligkeiten und Unberechenbarkeiten, von geheimnisvollen Kräften
und von frei waltenden Geistern. Die neue Denkweise, wie sie durch Männer
wie Bacon, Keppler, Galilei, Kant eingebürgert wurde, ersetzt diese Vorstellung
vom Chaos durch die Vorstellung eines Kosmos: die Welt ist eine Stätte der


Soziologie

Wandlungen vollbringen lassen, wieweit sich Ideen und Ideale überhaupt durch¬
setzen lassen, und wieweit sie, mit Bergson zu reden, an dem widerstrebenden
Stoff der Wirklichkeit eine unüberwindliche Schranke finden? Alle diese Fragen
kann man, ebenso wie die im vorigen Fall sich erhebenden nach ihrer wissen¬
schaftlichen Zugehörigkeit als geschichtsphilosophische ansprechen, sowie sich ja
tatsächlich die heutige Soziologie zu einem Teil aus der alten Geschichtsphilosophie
entwickelt hat.

Die Ausbreitung der soziologischen Bewegung ist eng verbunden mit dem
Aufkommen oder der Ausbreitung einer neuen Denkweise im Gebiete der mensch¬
lichen Dinge. Es ist interessant zu sehen, wie sich diese unter dem Druck der
Verhältnisse allmählich gleichsam von selbst entwickelt. Für den Arzt, den
Techniker oder den rationell wirtschaftenden Landwirt ist es selbstverständlich,
daß sein Beruf sich auf wissenschaftlichen Einsichten und wissenschaftlichem Denken
aufbaut: es ist für ihn selbstverständlich, daß sein Handeln sich auf die Voraus¬
setzung konstanter Kausalzusammenhänge und allgemeiner Gültigkeit fester Regeln
gründet. Das Entsprechende gilt nun aber auch für das Bereich der mensch¬
lichen Verhältnisse. Der Unternehmer, der das Risiko eines neuen Planes ab¬
schätzt, kann gleichsam nicht umhin, gewisse Eigenschaften in der menschlichen
Natur und gewisse Arten auf bestimmte Reize zu reagieren, als sichere Tatsachen
seiner Überlegung zugrunde zu legen; und wenn der Politiker von neuen
Gesetzen sich bestimmte Wirkungen verspricht, so rechnet er ebenfalls mit einer
gewissen Gesetzmäßigkeit der menschlichen Natur. Es mögen alle diese Vor¬
stellungen zunächst noch roh empirischer Art sein; nach ihrer grundsätzlichen
Beschaffenheit erheben sie sich doch über jene naive Denkweise, die im mensch¬
lichen Leben überhaupt nichts Festes und Allgemeingültiges kennt. Ebenso
drängt, das sahen wir schon früher, die moderne Entwicklung der Geisteswissen¬
schaften darauf hin. über dasjenige Maß hinaus, das schon von Haus aus mit
der Spezialforschuug verbunden ist, allgemeine Sätze über das Wesen des mensch¬
lichen Geisteslebens zu entwickeln. Es handelt sich bei all diesen Vorgängen
darum, daß die wissenschaftliche Denkweise ihren Einzug auch in das Gebiet der
menschlichen Dinge hält und auf die Tatsachen der Gesellschaft und Kultur
angewendet wird. In erster Linie ist dabei natürlich die allgemeine Denkweise
des täglichen Lebens, und erst in zweiter Linie, wie bereits angedeutet, auch
das Denken innerhalb der Geisteswissenschaften gemeint. Wir können den Vor¬
gang, der sich heute abspielt, vergleichen mit dem Aufkommen der naturwissen¬
schaftlichen Denkweise im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Was diese
für das Gebiet der natürlichen Dinge im allgemeinen Denken verdrängte, das
war die uralte mythologische Denkweise. Für sie besteht die Welt aus einer
Summe von Zufälligkeiten und Unberechenbarkeiten, von geheimnisvollen Kräften
und von frei waltenden Geistern. Die neue Denkweise, wie sie durch Männer
wie Bacon, Keppler, Galilei, Kant eingebürgert wurde, ersetzt diese Vorstellung
vom Chaos durch die Vorstellung eines Kosmos: die Welt ist eine Stätte der


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[0348] Soziologie Wandlungen vollbringen lassen, wieweit sich Ideen und Ideale überhaupt durch¬ setzen lassen, und wieweit sie, mit Bergson zu reden, an dem widerstrebenden Stoff der Wirklichkeit eine unüberwindliche Schranke finden? Alle diese Fragen kann man, ebenso wie die im vorigen Fall sich erhebenden nach ihrer wissen¬ schaftlichen Zugehörigkeit als geschichtsphilosophische ansprechen, sowie sich ja tatsächlich die heutige Soziologie zu einem Teil aus der alten Geschichtsphilosophie entwickelt hat. Die Ausbreitung der soziologischen Bewegung ist eng verbunden mit dem Aufkommen oder der Ausbreitung einer neuen Denkweise im Gebiete der mensch¬ lichen Dinge. Es ist interessant zu sehen, wie sich diese unter dem Druck der Verhältnisse allmählich gleichsam von selbst entwickelt. Für den Arzt, den Techniker oder den rationell wirtschaftenden Landwirt ist es selbstverständlich, daß sein Beruf sich auf wissenschaftlichen Einsichten und wissenschaftlichem Denken aufbaut: es ist für ihn selbstverständlich, daß sein Handeln sich auf die Voraus¬ setzung konstanter Kausalzusammenhänge und allgemeiner Gültigkeit fester Regeln gründet. Das Entsprechende gilt nun aber auch für das Bereich der mensch¬ lichen Verhältnisse. Der Unternehmer, der das Risiko eines neuen Planes ab¬ schätzt, kann gleichsam nicht umhin, gewisse Eigenschaften in der menschlichen Natur und gewisse Arten auf bestimmte Reize zu reagieren, als sichere Tatsachen seiner Überlegung zugrunde zu legen; und wenn der Politiker von neuen Gesetzen sich bestimmte Wirkungen verspricht, so rechnet er ebenfalls mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit der menschlichen Natur. Es mögen alle diese Vor¬ stellungen zunächst noch roh empirischer Art sein; nach ihrer grundsätzlichen Beschaffenheit erheben sie sich doch über jene naive Denkweise, die im mensch¬ lichen Leben überhaupt nichts Festes und Allgemeingültiges kennt. Ebenso drängt, das sahen wir schon früher, die moderne Entwicklung der Geisteswissen¬ schaften darauf hin. über dasjenige Maß hinaus, das schon von Haus aus mit der Spezialforschuug verbunden ist, allgemeine Sätze über das Wesen des mensch¬ lichen Geisteslebens zu entwickeln. Es handelt sich bei all diesen Vorgängen darum, daß die wissenschaftliche Denkweise ihren Einzug auch in das Gebiet der menschlichen Dinge hält und auf die Tatsachen der Gesellschaft und Kultur angewendet wird. In erster Linie ist dabei natürlich die allgemeine Denkweise des täglichen Lebens, und erst in zweiter Linie, wie bereits angedeutet, auch das Denken innerhalb der Geisteswissenschaften gemeint. Wir können den Vor¬ gang, der sich heute abspielt, vergleichen mit dem Aufkommen der naturwissen¬ schaftlichen Denkweise im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Was diese für das Gebiet der natürlichen Dinge im allgemeinen Denken verdrängte, das war die uralte mythologische Denkweise. Für sie besteht die Welt aus einer Summe von Zufälligkeiten und Unberechenbarkeiten, von geheimnisvollen Kräften und von frei waltenden Geistern. Die neue Denkweise, wie sie durch Männer wie Bacon, Keppler, Galilei, Kant eingebürgert wurde, ersetzt diese Vorstellung vom Chaos durch die Vorstellung eines Kosmos: die Welt ist eine Stätte der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/348>, abgerufen am 28.07.2024.