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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie

Die zweite Hauptquelle der modern soziologischen Bewegung liegt in der
regen Entwicklung der Geisteswissenschaften. Von verschiedenen Seiten ist be¬
tont worden, wie unser Jahrhundert ein Jahrhundert der Geisteswissenschaften
sein wird in einem ähnlichen Sinne, wie das abgelaufene ein Jahrhundert der
Naturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften häufen immer mehr Stoff auf
und stehen vor der Aufgabe, seinen Inhalt zu verarbeiten und zu erklären.
Dabei drängt sich das Verlangen nach einheitlichen Gesichtspunkten auf, und es
entsteht die Frage, ob dieses Verlangen befriedigt werden kann. Gibt es im
Gebiet der menschlichen Kultur und der einzelnen Kulturgüter feste Typen, gibt
es Gesetze oder wenigstens allgemeine Regeln für die ursächlichen Zusammen¬
hänge auf diesem Gebiete? Geschichtliche und kulturelle Tatsachen beruhen
letzthin auf Vorgängen in der menschlichen Seele; so entsteht die Forderung
einer psychologischen Erklärung der Tatsachen der Geisteswissenschaften. Damit
ist wieder an eine neue Reihe von Problemen gerührt. So einleuchtend es
zunächst klingt, daß jeder geschichtliche Vorgang sich psychologisch erklären lassen
müsse, so verwickelt ist doch bei näherer Betrachtung der ganze Sachverhalt.
Erstens kommt in der Regel nicht eine einzelne Person allein, sondern mindestens
daneben auch ihre Abhängigkeit von der Umwelt und deren Resonanz in Frage.
Zweitens sprechen objektive Faktoren wie etwa die jeweilige Technik beim
künstlerischen Schaffen oder der Stand der Gesetze und der Mechanismus der
Verwaltung bei der politischen Tätigkeit mit. Endlich liegt ja in jedem ge-'
schichtlichem Gebilde nicht ein seelischer Zustand vor, sondern ein Niederschlag
der seelischen Vorgänge, eine Objeklivotion, wie man sich heute gern ausdrückt.
Alles das weist, wie gesagt, auf ganze Reihen von Problemen hin. deren Er¬
forschung heute noch kaum in Angriff genommen ist.

Die dritte Quelle der soziologischen Bewegung endlich ist praktischer Natur.
Sie besteht in der Tatsache der großen Reformbewegungen, wie sie sich heute
auf allen Gebieten der Kultur vollziehen. Auf allen Gebieten streben wir heute
teils im Interesse einzelner Teilgruppen, teils aus einem allgemeinen, sittlichen
Interesse heraus danach, die Wirklichkeit nach bestimmten Zwecken umzugestalten.
Bei allen diesen Reformarbeiten geht man nun von gewissen Anschauungen und
Voraussetzungen aus, die mit der Zeit zum Bewußtsein kommen, und stößt auf
Schwicrigkeiien und Fragen, die ebenfalls allmählich ein Gegenstand der Reflexion
werden. Wer ein Material umzugestalten unternimmt, setzt die Möglichkeit
seiner Umgestaltung und damit allgemein gültige Kausalbeziehungen, allgemein
gültige- Regeln und den Zusammenhang von Ursache und Wirkung voraus.
So wirb es unserer Zeit zu einer selbstverständlichen Voraussetzung, daß die
menschliche Gesellschaft in gewisser Hinsicht einen Mechanismus darstellt, dessen
Regeln sich erforschen und zur Anwendung bringen lassen. Es erheben sich
weiter Fragen nach den bewegenden Kräften des geschichtlichen Lebens: wie
weit kann eine Reformbewegung an ideale Motive appellieren, wie weit muß
sie mit gröberen rechnen? Es fragt sich ferner, mit welcher Geschwindigkeit sich


Soziologie

Die zweite Hauptquelle der modern soziologischen Bewegung liegt in der
regen Entwicklung der Geisteswissenschaften. Von verschiedenen Seiten ist be¬
tont worden, wie unser Jahrhundert ein Jahrhundert der Geisteswissenschaften
sein wird in einem ähnlichen Sinne, wie das abgelaufene ein Jahrhundert der
Naturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften häufen immer mehr Stoff auf
und stehen vor der Aufgabe, seinen Inhalt zu verarbeiten und zu erklären.
Dabei drängt sich das Verlangen nach einheitlichen Gesichtspunkten auf, und es
entsteht die Frage, ob dieses Verlangen befriedigt werden kann. Gibt es im
Gebiet der menschlichen Kultur und der einzelnen Kulturgüter feste Typen, gibt
es Gesetze oder wenigstens allgemeine Regeln für die ursächlichen Zusammen¬
hänge auf diesem Gebiete? Geschichtliche und kulturelle Tatsachen beruhen
letzthin auf Vorgängen in der menschlichen Seele; so entsteht die Forderung
einer psychologischen Erklärung der Tatsachen der Geisteswissenschaften. Damit
ist wieder an eine neue Reihe von Problemen gerührt. So einleuchtend es
zunächst klingt, daß jeder geschichtliche Vorgang sich psychologisch erklären lassen
müsse, so verwickelt ist doch bei näherer Betrachtung der ganze Sachverhalt.
Erstens kommt in der Regel nicht eine einzelne Person allein, sondern mindestens
daneben auch ihre Abhängigkeit von der Umwelt und deren Resonanz in Frage.
Zweitens sprechen objektive Faktoren wie etwa die jeweilige Technik beim
künstlerischen Schaffen oder der Stand der Gesetze und der Mechanismus der
Verwaltung bei der politischen Tätigkeit mit. Endlich liegt ja in jedem ge-'
schichtlichem Gebilde nicht ein seelischer Zustand vor, sondern ein Niederschlag
der seelischen Vorgänge, eine Objeklivotion, wie man sich heute gern ausdrückt.
Alles das weist, wie gesagt, auf ganze Reihen von Problemen hin. deren Er¬
forschung heute noch kaum in Angriff genommen ist.

Die dritte Quelle der soziologischen Bewegung endlich ist praktischer Natur.
Sie besteht in der Tatsache der großen Reformbewegungen, wie sie sich heute
auf allen Gebieten der Kultur vollziehen. Auf allen Gebieten streben wir heute
teils im Interesse einzelner Teilgruppen, teils aus einem allgemeinen, sittlichen
Interesse heraus danach, die Wirklichkeit nach bestimmten Zwecken umzugestalten.
Bei allen diesen Reformarbeiten geht man nun von gewissen Anschauungen und
Voraussetzungen aus, die mit der Zeit zum Bewußtsein kommen, und stößt auf
Schwicrigkeiien und Fragen, die ebenfalls allmählich ein Gegenstand der Reflexion
werden. Wer ein Material umzugestalten unternimmt, setzt die Möglichkeit
seiner Umgestaltung und damit allgemein gültige Kausalbeziehungen, allgemein
gültige- Regeln und den Zusammenhang von Ursache und Wirkung voraus.
So wirb es unserer Zeit zu einer selbstverständlichen Voraussetzung, daß die
menschliche Gesellschaft in gewisser Hinsicht einen Mechanismus darstellt, dessen
Regeln sich erforschen und zur Anwendung bringen lassen. Es erheben sich
weiter Fragen nach den bewegenden Kräften des geschichtlichen Lebens: wie
weit kann eine Reformbewegung an ideale Motive appellieren, wie weit muß
sie mit gröberen rechnen? Es fragt sich ferner, mit welcher Geschwindigkeit sich


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[0347] Soziologie Die zweite Hauptquelle der modern soziologischen Bewegung liegt in der regen Entwicklung der Geisteswissenschaften. Von verschiedenen Seiten ist be¬ tont worden, wie unser Jahrhundert ein Jahrhundert der Geisteswissenschaften sein wird in einem ähnlichen Sinne, wie das abgelaufene ein Jahrhundert der Naturwissenschaften. Die Geisteswissenschaften häufen immer mehr Stoff auf und stehen vor der Aufgabe, seinen Inhalt zu verarbeiten und zu erklären. Dabei drängt sich das Verlangen nach einheitlichen Gesichtspunkten auf, und es entsteht die Frage, ob dieses Verlangen befriedigt werden kann. Gibt es im Gebiet der menschlichen Kultur und der einzelnen Kulturgüter feste Typen, gibt es Gesetze oder wenigstens allgemeine Regeln für die ursächlichen Zusammen¬ hänge auf diesem Gebiete? Geschichtliche und kulturelle Tatsachen beruhen letzthin auf Vorgängen in der menschlichen Seele; so entsteht die Forderung einer psychologischen Erklärung der Tatsachen der Geisteswissenschaften. Damit ist wieder an eine neue Reihe von Problemen gerührt. So einleuchtend es zunächst klingt, daß jeder geschichtliche Vorgang sich psychologisch erklären lassen müsse, so verwickelt ist doch bei näherer Betrachtung der ganze Sachverhalt. Erstens kommt in der Regel nicht eine einzelne Person allein, sondern mindestens daneben auch ihre Abhängigkeit von der Umwelt und deren Resonanz in Frage. Zweitens sprechen objektive Faktoren wie etwa die jeweilige Technik beim künstlerischen Schaffen oder der Stand der Gesetze und der Mechanismus der Verwaltung bei der politischen Tätigkeit mit. Endlich liegt ja in jedem ge-' schichtlichem Gebilde nicht ein seelischer Zustand vor, sondern ein Niederschlag der seelischen Vorgänge, eine Objeklivotion, wie man sich heute gern ausdrückt. Alles das weist, wie gesagt, auf ganze Reihen von Problemen hin. deren Er¬ forschung heute noch kaum in Angriff genommen ist. Die dritte Quelle der soziologischen Bewegung endlich ist praktischer Natur. Sie besteht in der Tatsache der großen Reformbewegungen, wie sie sich heute auf allen Gebieten der Kultur vollziehen. Auf allen Gebieten streben wir heute teils im Interesse einzelner Teilgruppen, teils aus einem allgemeinen, sittlichen Interesse heraus danach, die Wirklichkeit nach bestimmten Zwecken umzugestalten. Bei allen diesen Reformarbeiten geht man nun von gewissen Anschauungen und Voraussetzungen aus, die mit der Zeit zum Bewußtsein kommen, und stößt auf Schwicrigkeiien und Fragen, die ebenfalls allmählich ein Gegenstand der Reflexion werden. Wer ein Material umzugestalten unternimmt, setzt die Möglichkeit seiner Umgestaltung und damit allgemein gültige Kausalbeziehungen, allgemein gültige- Regeln und den Zusammenhang von Ursache und Wirkung voraus. So wirb es unserer Zeit zu einer selbstverständlichen Voraussetzung, daß die menschliche Gesellschaft in gewisser Hinsicht einen Mechanismus darstellt, dessen Regeln sich erforschen und zur Anwendung bringen lassen. Es erheben sich weiter Fragen nach den bewegenden Kräften des geschichtlichen Lebens: wie weit kann eine Reformbewegung an ideale Motive appellieren, wie weit muß sie mit gröberen rechnen? Es fragt sich ferner, mit welcher Geschwindigkeit sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/347>, abgerufen am 23.12.2024.