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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Soziologie
von Alfred vierkandt

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<-es^le Soziologie, die in anderen Ländern schon längere Zeit besondere
Lehrstühle, Institute und Zeitschriften besitzt, beginnt auch in
Deutschland allmählich immer mehr Beachtung und Anerkennung
zu finden. Vielleicht haben die Kongresse, welche die deutsche
Gesellschaft für Soziologie seit ihrer 1909 erfolgten Gründung
regelmäßig alle zwei Jahre veranstaltet, das ihrige zu dieser Entwicklung bei¬
getragen. Ein Zeichen der Zeit ist es, daß Wilhelm Wundt in der neuesten
Auflage des einschlägigen Bandes seiner "Logik" die Soziologie mit einem
eigenen Abschnitt bedacht hat. Jedenfalls handelt es sich hier um eine tiefe
Bewegung, mit deren Grundgedanken sich vertraut zu machen auch der gebildete
Laie verpflichtet ist. In Zukunft werden daraus voraussichtlich mehrere oder
eine ganze Reihe selbständiger Disziplinen hervorgehen.

Zunächst müssen wir die Frage beantworten: Was ist Soziologie? Darauf
gibt es nur eine einwandfreie Antwort: Soziologie ist ein Sammelname für
eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Bestrebungen. Eine Einigung darüber,
wie das Wort im Sinne einer einzigen und einheitlichen wissenschaftlichen
Disziplin zu verwenden wäre, ist bis jetzt nicht erzielt worden; es ist auch
vorläufig ganz aussichtslos, nach einer solchen zu streben. Recht bedauerlich
ist es, daß die meisten Gelehrten sich über diese Tatsache hinwegsetzen, und
indem sie Systeme oder Lehrbücher der Soziologie schreiben oder deren Gesamt¬
gebiet zu behandeln und sämtliche Probleme zu lösen versprechen, ihre besondere
Auffassung von der Soziologie für die Auffassung von ihr schlechtweg ausgeben.
Tatsächlich kann heute, wenn von irgendeiner wissenschaftlichen Einheit die Rede
sein soll, nicht von der Soziologie, sondern nur von einer Soziologie gesprochen
werden, und es wäre dringend zu wünschen, daß sich hierüber alle Fachmänner
einigten. Es wird heute mit dem gleichen Namen eine ganze Anzahl verschiedener
Gruppen von Problemen und Wissenschaften bezeichnet, die so sehr auseinander-
fallen, daß sie sich auf keine Weise unter den Begriff einer Wissenschaft bringen
lassen.

Wir wollen von diesen Gruppen hier zunächst vier aussondern und das¬
jenige, was alsdann verbleibt, soll im eben angedeuteten Sinne fortan als
Soziologie verstanden und behandelt werden. Zunächst scheiden wir alle




Soziologie
von Alfred vierkandt

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<-es^le Soziologie, die in anderen Ländern schon längere Zeit besondere
Lehrstühle, Institute und Zeitschriften besitzt, beginnt auch in
Deutschland allmählich immer mehr Beachtung und Anerkennung
zu finden. Vielleicht haben die Kongresse, welche die deutsche
Gesellschaft für Soziologie seit ihrer 1909 erfolgten Gründung
regelmäßig alle zwei Jahre veranstaltet, das ihrige zu dieser Entwicklung bei¬
getragen. Ein Zeichen der Zeit ist es, daß Wilhelm Wundt in der neuesten
Auflage des einschlägigen Bandes seiner „Logik" die Soziologie mit einem
eigenen Abschnitt bedacht hat. Jedenfalls handelt es sich hier um eine tiefe
Bewegung, mit deren Grundgedanken sich vertraut zu machen auch der gebildete
Laie verpflichtet ist. In Zukunft werden daraus voraussichtlich mehrere oder
eine ganze Reihe selbständiger Disziplinen hervorgehen.

Zunächst müssen wir die Frage beantworten: Was ist Soziologie? Darauf
gibt es nur eine einwandfreie Antwort: Soziologie ist ein Sammelname für
eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Bestrebungen. Eine Einigung darüber,
wie das Wort im Sinne einer einzigen und einheitlichen wissenschaftlichen
Disziplin zu verwenden wäre, ist bis jetzt nicht erzielt worden; es ist auch
vorläufig ganz aussichtslos, nach einer solchen zu streben. Recht bedauerlich
ist es, daß die meisten Gelehrten sich über diese Tatsache hinwegsetzen, und
indem sie Systeme oder Lehrbücher der Soziologie schreiben oder deren Gesamt¬
gebiet zu behandeln und sämtliche Probleme zu lösen versprechen, ihre besondere
Auffassung von der Soziologie für die Auffassung von ihr schlechtweg ausgeben.
Tatsächlich kann heute, wenn von irgendeiner wissenschaftlichen Einheit die Rede
sein soll, nicht von der Soziologie, sondern nur von einer Soziologie gesprochen
werden, und es wäre dringend zu wünschen, daß sich hierüber alle Fachmänner
einigten. Es wird heute mit dem gleichen Namen eine ganze Anzahl verschiedener
Gruppen von Problemen und Wissenschaften bezeichnet, die so sehr auseinander-
fallen, daß sie sich auf keine Weise unter den Begriff einer Wissenschaft bringen
lassen.

Wir wollen von diesen Gruppen hier zunächst vier aussondern und das¬
jenige, was alsdann verbleibt, soll im eben angedeuteten Sinne fortan als
Soziologie verstanden und behandelt werden. Zunächst scheiden wir alle


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[0343] [Abbildung] Soziologie von Alfred vierkandt M'?«'^ <-es^le Soziologie, die in anderen Ländern schon längere Zeit besondere Lehrstühle, Institute und Zeitschriften besitzt, beginnt auch in Deutschland allmählich immer mehr Beachtung und Anerkennung zu finden. Vielleicht haben die Kongresse, welche die deutsche Gesellschaft für Soziologie seit ihrer 1909 erfolgten Gründung regelmäßig alle zwei Jahre veranstaltet, das ihrige zu dieser Entwicklung bei¬ getragen. Ein Zeichen der Zeit ist es, daß Wilhelm Wundt in der neuesten Auflage des einschlägigen Bandes seiner „Logik" die Soziologie mit einem eigenen Abschnitt bedacht hat. Jedenfalls handelt es sich hier um eine tiefe Bewegung, mit deren Grundgedanken sich vertraut zu machen auch der gebildete Laie verpflichtet ist. In Zukunft werden daraus voraussichtlich mehrere oder eine ganze Reihe selbständiger Disziplinen hervorgehen. Zunächst müssen wir die Frage beantworten: Was ist Soziologie? Darauf gibt es nur eine einwandfreie Antwort: Soziologie ist ein Sammelname für eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Bestrebungen. Eine Einigung darüber, wie das Wort im Sinne einer einzigen und einheitlichen wissenschaftlichen Disziplin zu verwenden wäre, ist bis jetzt nicht erzielt worden; es ist auch vorläufig ganz aussichtslos, nach einer solchen zu streben. Recht bedauerlich ist es, daß die meisten Gelehrten sich über diese Tatsache hinwegsetzen, und indem sie Systeme oder Lehrbücher der Soziologie schreiben oder deren Gesamt¬ gebiet zu behandeln und sämtliche Probleme zu lösen versprechen, ihre besondere Auffassung von der Soziologie für die Auffassung von ihr schlechtweg ausgeben. Tatsächlich kann heute, wenn von irgendeiner wissenschaftlichen Einheit die Rede sein soll, nicht von der Soziologie, sondern nur von einer Soziologie gesprochen werden, und es wäre dringend zu wünschen, daß sich hierüber alle Fachmänner einigten. Es wird heute mit dem gleichen Namen eine ganze Anzahl verschiedener Gruppen von Problemen und Wissenschaften bezeichnet, die so sehr auseinander- fallen, daß sie sich auf keine Weise unter den Begriff einer Wissenschaft bringen lassen. Wir wollen von diesen Gruppen hier zunächst vier aussondern und das¬ jenige, was alsdann verbleibt, soll im eben angedeuteten Sinne fortan als Soziologie verstanden und behandelt werden. Zunächst scheiden wir alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/343>, abgerufen am 13.11.2024.