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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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von der Kirche des Geistes

Denn der Radikalismus ist ebensowenig eine schöpferische Macht wie der
Konservatismus, der um jeden Preis konservieren will. Sie nehmen die
goldene Mitte und leben der Überzeugung, daß der konservative Sinn die
Seele jedes gesunden Fortschritts ist. Aber jener Sinn muß getragen sein von
einem kongenialen Verständnis für das Wesen der einzelnen Erscheinung, und
gepaart sein mit dem geschichtlichen Blick für den Wechsel der zufälligen Er¬
scheinungsform. Nur dann findet er den Weg zu einer von den Verhältnissen
geforderten Umformung, bei der das Wesen des Alten in die neue Form
hinübergerettet wird. Diese seelischen Voraussetzungen erscheinen in der Gegen¬
wart vielfach unentwickelt; aber sie sind entwicklungsfähig, und von der unver¬
drossenen Arbeit an ihrer Weiterbildung erwartet Funk und seine Gesinnungs¬
genossen Hilfe gegen die radikalen Kehrausgelüste einerseits wie andrerseits
gegen stumpfe und hilflose Gebundenheit (S. 10 bis 16).

Jenem konservativen Sinn wahrt Funk energisch "das Recht zu glauben"
(S. 17 bis 23). Er zeigt die Grenzen aller Wissenschaft und die Unwissen¬
schaftlichkeit des freidenkerischer und glaubensfeindlichen wissenschaftlichen Dogma¬
tismus auf; seine Kurzsichtigkeit wird vor allem dem religiösen Trieb nicht
gerecht. Denn so grotesk viele religiöse Formen sein mögen, der Grundtrieb,
der sie schuf, entspricht einer Wirklichkeit, einer großen, ewigen Wirklichkeit; im
Streben und Drängen aller Religionen liegt eine Offenbarung des Urgrunds
alles Seins, und jede Religion enthält ein Stück Wahrheit, das mit den
Erkenntnismitteln des Denkens allein nicht erreichbar ist. Wer für das Recht
des Glaubens kämpft, der kämpft für jenen feineren Sinn der Menschheit,
dessen Ahnen nicht auf die grobe Außenwelt geht, sondern auf eine dahinter
liegende, letzte und verborgenste Wirklichkeit.

Aber derselbe konservative Sinn muß seinerseits "das Recht zu zweifeln"
(S. 24 bis 32) rückhaltlos anerkennen. Der Gebildete, dem in der Welt-,
Kultur- und Religionsgeschichte eine verwirrende Fülle von Problemen entgegen¬
tritt, kann von der Forderung nicht entbunden werden, seinen Glaubens¬
berechtigungsausweis vorzulegen, sein "Leo cui ni-eäicli".

Es ist ein unehrliches Spiel, was die kirchliche Theologie und noch mehr
die aszetische Literatur mit dem Wort und Begriff des "methodischen Zweifels"
treibt, der kein Scheinzweifel und keine Fiktion sein darf, sondern aus reinster
Wahrheitsliebe und bitterstem Ernst herausgeboren sein muß; wer in ihnen
ringt, ist kein frivoler Skeptiker, sondern kann ein wahrbeitsliebender Sohn
seiner Kirche sein, trotzdem er grundsätzlich bereit ist, im Namen der erkannten
Wahrheit alles hinzugeben, selbst seine Kirche. Leider finden diese ernstesten
der Gläubigen wenig Verständnis, sowohl bei der offiziellen Kirchenbehörde als
bei den Theologen und Praktikern.

Mit diesen Ausführungen umschreibt Für! in eindrucksvoller Kürze die
Grundlagen seines Standpunktes innerhalb der heutigen Wissenschaft und Kultur
und innerhalb der katholischen Kirche. Der Stellung zur Kirche sind auch noch


von der Kirche des Geistes

Denn der Radikalismus ist ebensowenig eine schöpferische Macht wie der
Konservatismus, der um jeden Preis konservieren will. Sie nehmen die
goldene Mitte und leben der Überzeugung, daß der konservative Sinn die
Seele jedes gesunden Fortschritts ist. Aber jener Sinn muß getragen sein von
einem kongenialen Verständnis für das Wesen der einzelnen Erscheinung, und
gepaart sein mit dem geschichtlichen Blick für den Wechsel der zufälligen Er¬
scheinungsform. Nur dann findet er den Weg zu einer von den Verhältnissen
geforderten Umformung, bei der das Wesen des Alten in die neue Form
hinübergerettet wird. Diese seelischen Voraussetzungen erscheinen in der Gegen¬
wart vielfach unentwickelt; aber sie sind entwicklungsfähig, und von der unver¬
drossenen Arbeit an ihrer Weiterbildung erwartet Funk und seine Gesinnungs¬
genossen Hilfe gegen die radikalen Kehrausgelüste einerseits wie andrerseits
gegen stumpfe und hilflose Gebundenheit (S. 10 bis 16).

Jenem konservativen Sinn wahrt Funk energisch „das Recht zu glauben"
(S. 17 bis 23). Er zeigt die Grenzen aller Wissenschaft und die Unwissen¬
schaftlichkeit des freidenkerischer und glaubensfeindlichen wissenschaftlichen Dogma¬
tismus auf; seine Kurzsichtigkeit wird vor allem dem religiösen Trieb nicht
gerecht. Denn so grotesk viele religiöse Formen sein mögen, der Grundtrieb,
der sie schuf, entspricht einer Wirklichkeit, einer großen, ewigen Wirklichkeit; im
Streben und Drängen aller Religionen liegt eine Offenbarung des Urgrunds
alles Seins, und jede Religion enthält ein Stück Wahrheit, das mit den
Erkenntnismitteln des Denkens allein nicht erreichbar ist. Wer für das Recht
des Glaubens kämpft, der kämpft für jenen feineren Sinn der Menschheit,
dessen Ahnen nicht auf die grobe Außenwelt geht, sondern auf eine dahinter
liegende, letzte und verborgenste Wirklichkeit.

Aber derselbe konservative Sinn muß seinerseits „das Recht zu zweifeln"
(S. 24 bis 32) rückhaltlos anerkennen. Der Gebildete, dem in der Welt-,
Kultur- und Religionsgeschichte eine verwirrende Fülle von Problemen entgegen¬
tritt, kann von der Forderung nicht entbunden werden, seinen Glaubens¬
berechtigungsausweis vorzulegen, sein „Leo cui ni-eäicli".

Es ist ein unehrliches Spiel, was die kirchliche Theologie und noch mehr
die aszetische Literatur mit dem Wort und Begriff des „methodischen Zweifels"
treibt, der kein Scheinzweifel und keine Fiktion sein darf, sondern aus reinster
Wahrheitsliebe und bitterstem Ernst herausgeboren sein muß; wer in ihnen
ringt, ist kein frivoler Skeptiker, sondern kann ein wahrbeitsliebender Sohn
seiner Kirche sein, trotzdem er grundsätzlich bereit ist, im Namen der erkannten
Wahrheit alles hinzugeben, selbst seine Kirche. Leider finden diese ernstesten
der Gläubigen wenig Verständnis, sowohl bei der offiziellen Kirchenbehörde als
bei den Theologen und Praktikern.

Mit diesen Ausführungen umschreibt Für! in eindrucksvoller Kürze die
Grundlagen seines Standpunktes innerhalb der heutigen Wissenschaft und Kultur
und innerhalb der katholischen Kirche. Der Stellung zur Kirche sind auch noch


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[0034] von der Kirche des Geistes Denn der Radikalismus ist ebensowenig eine schöpferische Macht wie der Konservatismus, der um jeden Preis konservieren will. Sie nehmen die goldene Mitte und leben der Überzeugung, daß der konservative Sinn die Seele jedes gesunden Fortschritts ist. Aber jener Sinn muß getragen sein von einem kongenialen Verständnis für das Wesen der einzelnen Erscheinung, und gepaart sein mit dem geschichtlichen Blick für den Wechsel der zufälligen Er¬ scheinungsform. Nur dann findet er den Weg zu einer von den Verhältnissen geforderten Umformung, bei der das Wesen des Alten in die neue Form hinübergerettet wird. Diese seelischen Voraussetzungen erscheinen in der Gegen¬ wart vielfach unentwickelt; aber sie sind entwicklungsfähig, und von der unver¬ drossenen Arbeit an ihrer Weiterbildung erwartet Funk und seine Gesinnungs¬ genossen Hilfe gegen die radikalen Kehrausgelüste einerseits wie andrerseits gegen stumpfe und hilflose Gebundenheit (S. 10 bis 16). Jenem konservativen Sinn wahrt Funk energisch „das Recht zu glauben" (S. 17 bis 23). Er zeigt die Grenzen aller Wissenschaft und die Unwissen¬ schaftlichkeit des freidenkerischer und glaubensfeindlichen wissenschaftlichen Dogma¬ tismus auf; seine Kurzsichtigkeit wird vor allem dem religiösen Trieb nicht gerecht. Denn so grotesk viele religiöse Formen sein mögen, der Grundtrieb, der sie schuf, entspricht einer Wirklichkeit, einer großen, ewigen Wirklichkeit; im Streben und Drängen aller Religionen liegt eine Offenbarung des Urgrunds alles Seins, und jede Religion enthält ein Stück Wahrheit, das mit den Erkenntnismitteln des Denkens allein nicht erreichbar ist. Wer für das Recht des Glaubens kämpft, der kämpft für jenen feineren Sinn der Menschheit, dessen Ahnen nicht auf die grobe Außenwelt geht, sondern auf eine dahinter liegende, letzte und verborgenste Wirklichkeit. Aber derselbe konservative Sinn muß seinerseits „das Recht zu zweifeln" (S. 24 bis 32) rückhaltlos anerkennen. Der Gebildete, dem in der Welt-, Kultur- und Religionsgeschichte eine verwirrende Fülle von Problemen entgegen¬ tritt, kann von der Forderung nicht entbunden werden, seinen Glaubens¬ berechtigungsausweis vorzulegen, sein „Leo cui ni-eäicli". Es ist ein unehrliches Spiel, was die kirchliche Theologie und noch mehr die aszetische Literatur mit dem Wort und Begriff des „methodischen Zweifels" treibt, der kein Scheinzweifel und keine Fiktion sein darf, sondern aus reinster Wahrheitsliebe und bitterstem Ernst herausgeboren sein muß; wer in ihnen ringt, ist kein frivoler Skeptiker, sondern kann ein wahrbeitsliebender Sohn seiner Kirche sein, trotzdem er grundsätzlich bereit ist, im Namen der erkannten Wahrheit alles hinzugeben, selbst seine Kirche. Leider finden diese ernstesten der Gläubigen wenig Verständnis, sowohl bei der offiziellen Kirchenbehörde als bei den Theologen und Praktikern. Mit diesen Ausführungen umschreibt Für! in eindrucksvoller Kürze die Grundlagen seines Standpunktes innerhalb der heutigen Wissenschaft und Kultur und innerhalb der katholischen Kirche. Der Stellung zur Kirche sind auch noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/34>, abgerufen am 01.09.2024.