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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner

höheren Offiziere, die ihre ganze Dienstlaufbahn von Bemerkungen, wie ,Tritt
besonders hervor', ,Zur Beförderung außer der Reihe geeignet', begleitet
durchmessen hatten, hatten die Probe des Ernstfalls weder in körperlicher noch
seelischer Hinsicht bestanden. Umgekehrt haben Männer, die unbemerkt durch
alle Grade gegangen waren, vor dem Feinde unerwartete Kräfte entfaltet und
hervorragende kriegerische Eigenschaften an den Tag gelegt. Zu diesen gehört
der unvergeßliche Held von Port Arthur, General Kondratenko."

Man würde irren, wenn man dergleichen Enttäuschungen und Über¬
raschungen auf die russische Armee beschränkt glauben wollte. Sehr bezeichnend
schreibt u. a. Erzherzog Albrecht von Österreich, der Sieger von Custoza: "Kleine
Geister gewinnen im Frieden oft einen unverdienten Ruf. Sie machen ihren
Untergebenen den Dienst zur Qual und wirken vor allem darin verhängnisvoll,
daß sie die Ausbildung von Charakteren hintanhalten und die Beförderung
fähiger und selbständig denkender Offiziere behindern. Bricht dann ein Krieg
aus, dann erweisen sich diese kleinen Geister jeden höheren Aufschwungs unfähig;
sie scheitern jämmerlich. Es ist immer die alte Geschichte."

Oberst Nowizki äußert aus Anlaß des im Januar 1905 unternommenen,
aber mißglückter größeren Streifznges gegen die Verbindungen der Japaner
über den Führer drs russischen Kavalleriekorps, General Mischtschenko: "Er
erhob sich nicht über das gewöhnliche Niveau der soldatischen Unterordnung;
er bewies nicht eine Spur jenes Mannesmutes, der in gewissen Kommando¬
stellen höher zu schätzen ist als Tapferkeit vor dem Feinde. . . . Übrigens teilte
er in dieser Beziehung das allgemeine Los unseres höheren Führerbestandes,
der seine Erziehung unter Bedingungen erhalten hatte, die einer Entwicklung
persönlicher Initiative, fester Charaktere, freimütiger und unabhängiger An¬
schauungen ungünstig waren."

Kuropatkin pflichtet dem bei. wenn er schreibt: "Viele Generale, die im
Frieden mit großem Erfolge aus allen Waffen gemischte Abteilungen geführt
hatten, genügten im Kriege an der Spitze 'größerer Verbände nicht. Offenbar
hat es im Frieden an der erforderlichen Übung in der Führung von Divisionen
und Armeekorps gefehlt. Viele Generale waren den Anforderungen heutiger
Gefechtsführung nicht gewachsen. Der kennzeichnende Zug der Mehrzahl unter
ihnen war die Scheu vor der Verantwortung, die jeder gewichtige Entschluß
fordert." Kuropatkin könnte sich selbst hier an erster Sicile nennen. Auch er
war ebensowenig den Anforderungen heutiger Heerführung gewachsen wie seine
Unterführer denjenigen der Korps- und Divisionsführung.

Seine über alles Maß hinausgehende Bevormundung der Untergebenen hat
nicht zum wenigsten dazu beigetragen, jede Initiative bei ihnen von Anfang an
zu unterbinden. Von ihm ist gesagt worden: "Die Nähe der Truppen war für
ihn verderblich. Die kleinen Dinge nahmen ihn immer mehr in Anspruch.
Von Stackelberg hörten wir nichts mehr, alles geschah im Namen des Generals
Kuropatkin. Zuerst kommandierte der Armeebefehlshaber Korps, dann Divistonen,


Die russische Armee als Gegner

höheren Offiziere, die ihre ganze Dienstlaufbahn von Bemerkungen, wie ,Tritt
besonders hervor', ,Zur Beförderung außer der Reihe geeignet', begleitet
durchmessen hatten, hatten die Probe des Ernstfalls weder in körperlicher noch
seelischer Hinsicht bestanden. Umgekehrt haben Männer, die unbemerkt durch
alle Grade gegangen waren, vor dem Feinde unerwartete Kräfte entfaltet und
hervorragende kriegerische Eigenschaften an den Tag gelegt. Zu diesen gehört
der unvergeßliche Held von Port Arthur, General Kondratenko."

Man würde irren, wenn man dergleichen Enttäuschungen und Über¬
raschungen auf die russische Armee beschränkt glauben wollte. Sehr bezeichnend
schreibt u. a. Erzherzog Albrecht von Österreich, der Sieger von Custoza: „Kleine
Geister gewinnen im Frieden oft einen unverdienten Ruf. Sie machen ihren
Untergebenen den Dienst zur Qual und wirken vor allem darin verhängnisvoll,
daß sie die Ausbildung von Charakteren hintanhalten und die Beförderung
fähiger und selbständig denkender Offiziere behindern. Bricht dann ein Krieg
aus, dann erweisen sich diese kleinen Geister jeden höheren Aufschwungs unfähig;
sie scheitern jämmerlich. Es ist immer die alte Geschichte."

Oberst Nowizki äußert aus Anlaß des im Januar 1905 unternommenen,
aber mißglückter größeren Streifznges gegen die Verbindungen der Japaner
über den Führer drs russischen Kavalleriekorps, General Mischtschenko: „Er
erhob sich nicht über das gewöhnliche Niveau der soldatischen Unterordnung;
er bewies nicht eine Spur jenes Mannesmutes, der in gewissen Kommando¬
stellen höher zu schätzen ist als Tapferkeit vor dem Feinde. . . . Übrigens teilte
er in dieser Beziehung das allgemeine Los unseres höheren Führerbestandes,
der seine Erziehung unter Bedingungen erhalten hatte, die einer Entwicklung
persönlicher Initiative, fester Charaktere, freimütiger und unabhängiger An¬
schauungen ungünstig waren."

Kuropatkin pflichtet dem bei. wenn er schreibt: „Viele Generale, die im
Frieden mit großem Erfolge aus allen Waffen gemischte Abteilungen geführt
hatten, genügten im Kriege an der Spitze 'größerer Verbände nicht. Offenbar
hat es im Frieden an der erforderlichen Übung in der Führung von Divisionen
und Armeekorps gefehlt. Viele Generale waren den Anforderungen heutiger
Gefechtsführung nicht gewachsen. Der kennzeichnende Zug der Mehrzahl unter
ihnen war die Scheu vor der Verantwortung, die jeder gewichtige Entschluß
fordert." Kuropatkin könnte sich selbst hier an erster Sicile nennen. Auch er
war ebensowenig den Anforderungen heutiger Heerführung gewachsen wie seine
Unterführer denjenigen der Korps- und Divisionsführung.

Seine über alles Maß hinausgehende Bevormundung der Untergebenen hat
nicht zum wenigsten dazu beigetragen, jede Initiative bei ihnen von Anfang an
zu unterbinden. Von ihm ist gesagt worden: „Die Nähe der Truppen war für
ihn verderblich. Die kleinen Dinge nahmen ihn immer mehr in Anspruch.
Von Stackelberg hörten wir nichts mehr, alles geschah im Namen des Generals
Kuropatkin. Zuerst kommandierte der Armeebefehlshaber Korps, dann Divistonen,


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[0316] Die russische Armee als Gegner höheren Offiziere, die ihre ganze Dienstlaufbahn von Bemerkungen, wie ,Tritt besonders hervor', ,Zur Beförderung außer der Reihe geeignet', begleitet durchmessen hatten, hatten die Probe des Ernstfalls weder in körperlicher noch seelischer Hinsicht bestanden. Umgekehrt haben Männer, die unbemerkt durch alle Grade gegangen waren, vor dem Feinde unerwartete Kräfte entfaltet und hervorragende kriegerische Eigenschaften an den Tag gelegt. Zu diesen gehört der unvergeßliche Held von Port Arthur, General Kondratenko." Man würde irren, wenn man dergleichen Enttäuschungen und Über¬ raschungen auf die russische Armee beschränkt glauben wollte. Sehr bezeichnend schreibt u. a. Erzherzog Albrecht von Österreich, der Sieger von Custoza: „Kleine Geister gewinnen im Frieden oft einen unverdienten Ruf. Sie machen ihren Untergebenen den Dienst zur Qual und wirken vor allem darin verhängnisvoll, daß sie die Ausbildung von Charakteren hintanhalten und die Beförderung fähiger und selbständig denkender Offiziere behindern. Bricht dann ein Krieg aus, dann erweisen sich diese kleinen Geister jeden höheren Aufschwungs unfähig; sie scheitern jämmerlich. Es ist immer die alte Geschichte." Oberst Nowizki äußert aus Anlaß des im Januar 1905 unternommenen, aber mißglückter größeren Streifznges gegen die Verbindungen der Japaner über den Führer drs russischen Kavalleriekorps, General Mischtschenko: „Er erhob sich nicht über das gewöhnliche Niveau der soldatischen Unterordnung; er bewies nicht eine Spur jenes Mannesmutes, der in gewissen Kommando¬ stellen höher zu schätzen ist als Tapferkeit vor dem Feinde. . . . Übrigens teilte er in dieser Beziehung das allgemeine Los unseres höheren Führerbestandes, der seine Erziehung unter Bedingungen erhalten hatte, die einer Entwicklung persönlicher Initiative, fester Charaktere, freimütiger und unabhängiger An¬ schauungen ungünstig waren." Kuropatkin pflichtet dem bei. wenn er schreibt: „Viele Generale, die im Frieden mit großem Erfolge aus allen Waffen gemischte Abteilungen geführt hatten, genügten im Kriege an der Spitze 'größerer Verbände nicht. Offenbar hat es im Frieden an der erforderlichen Übung in der Führung von Divisionen und Armeekorps gefehlt. Viele Generale waren den Anforderungen heutiger Gefechtsführung nicht gewachsen. Der kennzeichnende Zug der Mehrzahl unter ihnen war die Scheu vor der Verantwortung, die jeder gewichtige Entschluß fordert." Kuropatkin könnte sich selbst hier an erster Sicile nennen. Auch er war ebensowenig den Anforderungen heutiger Heerführung gewachsen wie seine Unterführer denjenigen der Korps- und Divisionsführung. Seine über alles Maß hinausgehende Bevormundung der Untergebenen hat nicht zum wenigsten dazu beigetragen, jede Initiative bei ihnen von Anfang an zu unterbinden. Von ihm ist gesagt worden: „Die Nähe der Truppen war für ihn verderblich. Die kleinen Dinge nahmen ihn immer mehr in Anspruch. Von Stackelberg hörten wir nichts mehr, alles geschah im Namen des Generals Kuropatkin. Zuerst kommandierte der Armeebefehlshaber Korps, dann Divistonen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/316>, abgerufen am 23.12.2024.