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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner

geradezu seine Beweglichkeit und Verwendungsfähigkeit im Gefecht. Solche
Eigenmächtigkeiten hätten um so weniger geduldet werden dürfen, als -- im
Gegensatz zu früheren Kriegen Rußlands -- für die Verpflegung der Armee in
vortrefflicher Weise gesorgt war, daher auch der Gesundheitszustand, selbst
während des langen Verweilens in den Erdhütten der Mukdener Stellungen,
stets gut blieb. Es ist das nicht zum wenigsten das Verdienst des Oberfeld-
herrn selbst und muß um so mehr hervorgehoben werden, als, wenn einerseits
der Stellungskrieg den Nachschub erleichterte, dieser doch anderseits auf nur eine
Bahnlinie beschränkt war, und die an sich nicht unbeträchtlichen Mittel des
mandschurischen Kriegsschauplatzes bei dem langen Verharren in denselben
Gegenden verhältnismäßig bald erschöpft war.

Wenn die Armee ungeachtet der ihr von leitender Stelle gewidmeten Für¬
sorge dennoch gegen die militärische Zucht in mehr als einer Hinsicht gefehlt hat,
so gewinnt es den Anschein, als ob die vielgerühmte Bedürfnislosigkeit des
russischen Soldaten, gleich manchen anderen seiner guten Eigenschaften, zu
schwinden beginne, daß sie jedenfalls für die heutige russische Wehrpflichtarmee
nicht mehr in demselben Maße Gültigkeit beanspruchen kann wie einst. Augen¬
zeugen bestätigen, daß den Bedürfnissen der Mannschaften in übertriebener
Weise entgegengekommen wurde. Es ging das so weit, daß befohlene Abmarsch-
und Eintreffezeiten einfach nicht innegehalten wurden, wenn die Truppe sich noch
nicht ihren Tee hatte bereiten können. Der russische Offizier verstand vom Manne
nicht etwas unbedingt zu fordern, die Unterordnung in der Armee war immer
nur eine relative.

Es konnte zum Teil nicht anders sein, denn von kriegerischem Geiste war,
nach Kuropatkins eigenem Geständnis, das russische Heer, das in der Mandschurei
focht, nicht beseelt. Er sagt: "Heute wird mehr als jemals die moralische
Kraft eines Heeres durch die Volksstimmung beherrscht. . . . Will man daher
Erfolge erzielen, muß der Krieg volkstümlich sein, das ganze Volk muß den
Erfolg im Verein mit der Negierung erstreben. . . . Die Ziele aber, denen
wir im Fernen Osten nachgingen, waren weder dem russischen Soldaten noch
dem Offizier verständlich. Die Unzufriedenheit, die vor dem Kriege alle Volks¬
schichten Rußlands ergriffen hatte, trug das ihrige dazu bei, den Krieg verhaßt
zu machen. Er rief keinerlei patriotische Regung wach. Viele tüchtige Offiziere
begehrten Aufnahme in die Armee, aber alle Schichten der Gesellschaft verharrten
dem Kriege gegenüber in vollständiger Gleichgültigkeit. Einige Hundert einfache
Leute meldeten sich als Kriegsfreiwillige, aber die Söhne unserer Großwürden¬
träger, Kaufleute, Gelehrten drängten nicht zur Armee. Von den Zehntausenden
Studierender, die noch dazu auf Staatskosten unterhalten wurden, meldeten sich
-- abgesehen von Medizinern -- nur einige wenige zum freiwilligen Eintritt____
Die Gleichgültigkeit, die Rußland einem Kampfe gegenüber an den Tag legte,
den seine Söhne in fremdem Lande für unverstandene Interessen durchfochten,
mußte das Herz selbst starker Krieger wankend machen. Wie konnte sich kriege-


Die russische Armee als Gegner

geradezu seine Beweglichkeit und Verwendungsfähigkeit im Gefecht. Solche
Eigenmächtigkeiten hätten um so weniger geduldet werden dürfen, als — im
Gegensatz zu früheren Kriegen Rußlands — für die Verpflegung der Armee in
vortrefflicher Weise gesorgt war, daher auch der Gesundheitszustand, selbst
während des langen Verweilens in den Erdhütten der Mukdener Stellungen,
stets gut blieb. Es ist das nicht zum wenigsten das Verdienst des Oberfeld-
herrn selbst und muß um so mehr hervorgehoben werden, als, wenn einerseits
der Stellungskrieg den Nachschub erleichterte, dieser doch anderseits auf nur eine
Bahnlinie beschränkt war, und die an sich nicht unbeträchtlichen Mittel des
mandschurischen Kriegsschauplatzes bei dem langen Verharren in denselben
Gegenden verhältnismäßig bald erschöpft war.

Wenn die Armee ungeachtet der ihr von leitender Stelle gewidmeten Für¬
sorge dennoch gegen die militärische Zucht in mehr als einer Hinsicht gefehlt hat,
so gewinnt es den Anschein, als ob die vielgerühmte Bedürfnislosigkeit des
russischen Soldaten, gleich manchen anderen seiner guten Eigenschaften, zu
schwinden beginne, daß sie jedenfalls für die heutige russische Wehrpflichtarmee
nicht mehr in demselben Maße Gültigkeit beanspruchen kann wie einst. Augen¬
zeugen bestätigen, daß den Bedürfnissen der Mannschaften in übertriebener
Weise entgegengekommen wurde. Es ging das so weit, daß befohlene Abmarsch-
und Eintreffezeiten einfach nicht innegehalten wurden, wenn die Truppe sich noch
nicht ihren Tee hatte bereiten können. Der russische Offizier verstand vom Manne
nicht etwas unbedingt zu fordern, die Unterordnung in der Armee war immer
nur eine relative.

Es konnte zum Teil nicht anders sein, denn von kriegerischem Geiste war,
nach Kuropatkins eigenem Geständnis, das russische Heer, das in der Mandschurei
focht, nicht beseelt. Er sagt: „Heute wird mehr als jemals die moralische
Kraft eines Heeres durch die Volksstimmung beherrscht. . . . Will man daher
Erfolge erzielen, muß der Krieg volkstümlich sein, das ganze Volk muß den
Erfolg im Verein mit der Negierung erstreben. . . . Die Ziele aber, denen
wir im Fernen Osten nachgingen, waren weder dem russischen Soldaten noch
dem Offizier verständlich. Die Unzufriedenheit, die vor dem Kriege alle Volks¬
schichten Rußlands ergriffen hatte, trug das ihrige dazu bei, den Krieg verhaßt
zu machen. Er rief keinerlei patriotische Regung wach. Viele tüchtige Offiziere
begehrten Aufnahme in die Armee, aber alle Schichten der Gesellschaft verharrten
dem Kriege gegenüber in vollständiger Gleichgültigkeit. Einige Hundert einfache
Leute meldeten sich als Kriegsfreiwillige, aber die Söhne unserer Großwürden¬
träger, Kaufleute, Gelehrten drängten nicht zur Armee. Von den Zehntausenden
Studierender, die noch dazu auf Staatskosten unterhalten wurden, meldeten sich
— abgesehen von Medizinern — nur einige wenige zum freiwilligen Eintritt____
Die Gleichgültigkeit, die Rußland einem Kampfe gegenüber an den Tag legte,
den seine Söhne in fremdem Lande für unverstandene Interessen durchfochten,
mußte das Herz selbst starker Krieger wankend machen. Wie konnte sich kriege-


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[0312] Die russische Armee als Gegner geradezu seine Beweglichkeit und Verwendungsfähigkeit im Gefecht. Solche Eigenmächtigkeiten hätten um so weniger geduldet werden dürfen, als — im Gegensatz zu früheren Kriegen Rußlands — für die Verpflegung der Armee in vortrefflicher Weise gesorgt war, daher auch der Gesundheitszustand, selbst während des langen Verweilens in den Erdhütten der Mukdener Stellungen, stets gut blieb. Es ist das nicht zum wenigsten das Verdienst des Oberfeld- herrn selbst und muß um so mehr hervorgehoben werden, als, wenn einerseits der Stellungskrieg den Nachschub erleichterte, dieser doch anderseits auf nur eine Bahnlinie beschränkt war, und die an sich nicht unbeträchtlichen Mittel des mandschurischen Kriegsschauplatzes bei dem langen Verharren in denselben Gegenden verhältnismäßig bald erschöpft war. Wenn die Armee ungeachtet der ihr von leitender Stelle gewidmeten Für¬ sorge dennoch gegen die militärische Zucht in mehr als einer Hinsicht gefehlt hat, so gewinnt es den Anschein, als ob die vielgerühmte Bedürfnislosigkeit des russischen Soldaten, gleich manchen anderen seiner guten Eigenschaften, zu schwinden beginne, daß sie jedenfalls für die heutige russische Wehrpflichtarmee nicht mehr in demselben Maße Gültigkeit beanspruchen kann wie einst. Augen¬ zeugen bestätigen, daß den Bedürfnissen der Mannschaften in übertriebener Weise entgegengekommen wurde. Es ging das so weit, daß befohlene Abmarsch- und Eintreffezeiten einfach nicht innegehalten wurden, wenn die Truppe sich noch nicht ihren Tee hatte bereiten können. Der russische Offizier verstand vom Manne nicht etwas unbedingt zu fordern, die Unterordnung in der Armee war immer nur eine relative. Es konnte zum Teil nicht anders sein, denn von kriegerischem Geiste war, nach Kuropatkins eigenem Geständnis, das russische Heer, das in der Mandschurei focht, nicht beseelt. Er sagt: „Heute wird mehr als jemals die moralische Kraft eines Heeres durch die Volksstimmung beherrscht. . . . Will man daher Erfolge erzielen, muß der Krieg volkstümlich sein, das ganze Volk muß den Erfolg im Verein mit der Negierung erstreben. . . . Die Ziele aber, denen wir im Fernen Osten nachgingen, waren weder dem russischen Soldaten noch dem Offizier verständlich. Die Unzufriedenheit, die vor dem Kriege alle Volks¬ schichten Rußlands ergriffen hatte, trug das ihrige dazu bei, den Krieg verhaßt zu machen. Er rief keinerlei patriotische Regung wach. Viele tüchtige Offiziere begehrten Aufnahme in die Armee, aber alle Schichten der Gesellschaft verharrten dem Kriege gegenüber in vollständiger Gleichgültigkeit. Einige Hundert einfache Leute meldeten sich als Kriegsfreiwillige, aber die Söhne unserer Großwürden¬ träger, Kaufleute, Gelehrten drängten nicht zur Armee. Von den Zehntausenden Studierender, die noch dazu auf Staatskosten unterhalten wurden, meldeten sich — abgesehen von Medizinern — nur einige wenige zum freiwilligen Eintritt____ Die Gleichgültigkeit, die Rußland einem Kampfe gegenüber an den Tag legte, den seine Söhne in fremdem Lande für unverstandene Interessen durchfochten, mußte das Herz selbst starker Krieger wankend machen. Wie konnte sich kriege-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/312>, abgerufen am 28.07.2024.