Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

Toten, das Nationalgefühl ist nicht von außen in uns hineingetragen worden,
noch auf einmal entstanden."

Barros hat von sich selbst als Schriftsteller einmal gesagt: in seinen Büchern
lebe kein klarer Wille; er höre auf eine innere Stimme in sich und übertrage
mehr als er verfasse*). So strömt auch aus seinen Werken wirklich Empfundenes,
selbst aus den tendenziösen. Und wenn er richtig "übertragen" hat, muß das
regionalistische Gefühl in seinem Sinne, das Gefühl der Gebundenheit in Denken
und Trachten, bewußt oder unbewußt in den Menschen wirklich vorhanden sein.
Der Roman, der ihn am meisten als Regionalisten charakterisiert, ist das vorhin
erwähnte Werk "I^Sö OöraLinöZ". Die Entwurzelten sind die aus der Heimat
des Geistes und des Herzens Herausgerissenen, die im Treibhause der Systeme
und allgemeinen Begriffe früchteleer verdorren müssen. Rasse und Humanität
stehen sich gegenüber; hier die Provinz, das volle Leben, das unaussprechliche
Gemeinsamkeitsgefühl, das uns Kraft und Vollbringen gibt; dort Paris und
die leere Formel, die Abstraktion, die das Wesen loslöst von der gegebenen
Mutter Natur.

Auch ein anderer regionalistischer Schriftsteller, Reus Bazin, sieht die Pariser
Gefahr in der gleichmachenden und demoralisierenden Kraft der Hauptstadt.
Allerdings sind seine Gestalten einfache Bauern, nicht so komplizierte Charaktere
wie die in den Romanen Barros. In zwei Büchern "Donatienne" und
"I^s, terre c>ni meurt" veranschaulicht er die Folgen der Landflucht. "Dona-
tienne" macht uns mit einem Ehepaar von einheimischer Nasse bekannt.
Beide müssen tüchtig arbeiten, um mit der dürftigen Ackerwirtschaft sich und
ihre drei Kinder vor dem größten Elend zu bewahren. Um mehr zu verdienen,
geht Donatienne, die Frau, nach Paris. Nach ihrem Weggang löst sich die
Ordnung im Hause bald auf; die Wirtschaft geht herunter; die Briefe aus
Paris werden immer seltener; Geld kommt gar nicht mehr. Schließlich wird
der Mann von seiner Pacht gejagt. Er verläßt mit seinen Kindern die Bretagne
und zieht mit ihnen als Tagelöhner durchs Land. Donatienne verkehrt als
Amme in Paris mit den Dienstboten, hört ihre schlüpfrigen Reden. Ihre
moralische Widerstandskraft wird durch den täglichen Anblick von Geld und
Luxus geschwächt, ihre Eitelkeit erhöht. Sie 'wird die Geliebte eines Kammer¬
dieners und fällt nach Krankheit und Not einem Kneipenwirt in die Arme, der
ihre Arbeit ausnutzt. Erst nach langen trüben Erfahrungen kehrt Donatienne
zu ihrer Familie zurück. In "I^a terre qui meurt" schildert Bazin den Verfall
einer Bauernfamilie der Vendöe. Die Familie zerfällt, weil von den Kindern
eins nach dem andern das Land verläßt, um im Einerlei des Beamtentums
oder in der haftenden Sorge um das tägliche Brot seines sittlichen Haltes und
seines Selbstbewußtseins verlustig zu gehen. Das Losreißen von der Scholle,
von dem Lebensnerv, will der Verfasser sagen, ist ein Wagnis, das uns den
Verlust des geistigen und moralischen Ichs kosten kann.



*) Vgl. das Interview im Paris-Journal vom 23. Februar 1912.
Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

Toten, das Nationalgefühl ist nicht von außen in uns hineingetragen worden,
noch auf einmal entstanden."

Barros hat von sich selbst als Schriftsteller einmal gesagt: in seinen Büchern
lebe kein klarer Wille; er höre auf eine innere Stimme in sich und übertrage
mehr als er verfasse*). So strömt auch aus seinen Werken wirklich Empfundenes,
selbst aus den tendenziösen. Und wenn er richtig „übertragen" hat, muß das
regionalistische Gefühl in seinem Sinne, das Gefühl der Gebundenheit in Denken
und Trachten, bewußt oder unbewußt in den Menschen wirklich vorhanden sein.
Der Roman, der ihn am meisten als Regionalisten charakterisiert, ist das vorhin
erwähnte Werk „I^Sö OöraLinöZ". Die Entwurzelten sind die aus der Heimat
des Geistes und des Herzens Herausgerissenen, die im Treibhause der Systeme
und allgemeinen Begriffe früchteleer verdorren müssen. Rasse und Humanität
stehen sich gegenüber; hier die Provinz, das volle Leben, das unaussprechliche
Gemeinsamkeitsgefühl, das uns Kraft und Vollbringen gibt; dort Paris und
die leere Formel, die Abstraktion, die das Wesen loslöst von der gegebenen
Mutter Natur.

Auch ein anderer regionalistischer Schriftsteller, Reus Bazin, sieht die Pariser
Gefahr in der gleichmachenden und demoralisierenden Kraft der Hauptstadt.
Allerdings sind seine Gestalten einfache Bauern, nicht so komplizierte Charaktere
wie die in den Romanen Barros. In zwei Büchern „Donatienne" und
„I^s, terre c>ni meurt" veranschaulicht er die Folgen der Landflucht. „Dona-
tienne" macht uns mit einem Ehepaar von einheimischer Nasse bekannt.
Beide müssen tüchtig arbeiten, um mit der dürftigen Ackerwirtschaft sich und
ihre drei Kinder vor dem größten Elend zu bewahren. Um mehr zu verdienen,
geht Donatienne, die Frau, nach Paris. Nach ihrem Weggang löst sich die
Ordnung im Hause bald auf; die Wirtschaft geht herunter; die Briefe aus
Paris werden immer seltener; Geld kommt gar nicht mehr. Schließlich wird
der Mann von seiner Pacht gejagt. Er verläßt mit seinen Kindern die Bretagne
und zieht mit ihnen als Tagelöhner durchs Land. Donatienne verkehrt als
Amme in Paris mit den Dienstboten, hört ihre schlüpfrigen Reden. Ihre
moralische Widerstandskraft wird durch den täglichen Anblick von Geld und
Luxus geschwächt, ihre Eitelkeit erhöht. Sie 'wird die Geliebte eines Kammer¬
dieners und fällt nach Krankheit und Not einem Kneipenwirt in die Arme, der
ihre Arbeit ausnutzt. Erst nach langen trüben Erfahrungen kehrt Donatienne
zu ihrer Familie zurück. In „I^a terre qui meurt" schildert Bazin den Verfall
einer Bauernfamilie der Vendöe. Die Familie zerfällt, weil von den Kindern
eins nach dem andern das Land verläßt, um im Einerlei des Beamtentums
oder in der haftenden Sorge um das tägliche Brot seines sittlichen Haltes und
seines Selbstbewußtseins verlustig zu gehen. Das Losreißen von der Scholle,
von dem Lebensnerv, will der Verfasser sagen, ist ein Wagnis, das uns den
Verlust des geistigen und moralischen Ichs kosten kann.



*) Vgl. das Interview im Paris-Journal vom 23. Februar 1912.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/328764"/>
            <fw type="header" place="top"> Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_54" prev="#ID_53"> Toten, das Nationalgefühl ist nicht von außen in uns hineingetragen worden,<lb/>
noch auf einmal entstanden."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_55"> Barros hat von sich selbst als Schriftsteller einmal gesagt: in seinen Büchern<lb/>
lebe kein klarer Wille; er höre auf eine innere Stimme in sich und übertrage<lb/>
mehr als er verfasse*). So strömt auch aus seinen Werken wirklich Empfundenes,<lb/>
selbst aus den tendenziösen. Und wenn er richtig &#x201E;übertragen" hat, muß das<lb/>
regionalistische Gefühl in seinem Sinne, das Gefühl der Gebundenheit in Denken<lb/>
und Trachten, bewußt oder unbewußt in den Menschen wirklich vorhanden sein.<lb/>
Der Roman, der ihn am meisten als Regionalisten charakterisiert, ist das vorhin<lb/>
erwähnte Werk &#x201E;I^Sö OöraLinöZ". Die Entwurzelten sind die aus der Heimat<lb/>
des Geistes und des Herzens Herausgerissenen, die im Treibhause der Systeme<lb/>
und allgemeinen Begriffe früchteleer verdorren müssen. Rasse und Humanität<lb/>
stehen sich gegenüber; hier die Provinz, das volle Leben, das unaussprechliche<lb/>
Gemeinsamkeitsgefühl, das uns Kraft und Vollbringen gibt; dort Paris und<lb/>
die leere Formel, die Abstraktion, die das Wesen loslöst von der gegebenen<lb/>
Mutter Natur.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_56"> Auch ein anderer regionalistischer Schriftsteller, Reus Bazin, sieht die Pariser<lb/>
Gefahr in der gleichmachenden und demoralisierenden Kraft der Hauptstadt.<lb/>
Allerdings sind seine Gestalten einfache Bauern, nicht so komplizierte Charaktere<lb/>
wie die in den Romanen Barros. In zwei Büchern &#x201E;Donatienne" und<lb/>
&#x201E;I^s, terre c&gt;ni meurt" veranschaulicht er die Folgen der Landflucht. &#x201E;Dona-<lb/>
tienne" macht uns mit einem Ehepaar von einheimischer Nasse bekannt.<lb/>
Beide müssen tüchtig arbeiten, um mit der dürftigen Ackerwirtschaft sich und<lb/>
ihre drei Kinder vor dem größten Elend zu bewahren. Um mehr zu verdienen,<lb/>
geht Donatienne, die Frau, nach Paris. Nach ihrem Weggang löst sich die<lb/>
Ordnung im Hause bald auf; die Wirtschaft geht herunter; die Briefe aus<lb/>
Paris werden immer seltener; Geld kommt gar nicht mehr. Schließlich wird<lb/>
der Mann von seiner Pacht gejagt. Er verläßt mit seinen Kindern die Bretagne<lb/>
und zieht mit ihnen als Tagelöhner durchs Land. Donatienne verkehrt als<lb/>
Amme in Paris mit den Dienstboten, hört ihre schlüpfrigen Reden. Ihre<lb/>
moralische Widerstandskraft wird durch den täglichen Anblick von Geld und<lb/>
Luxus geschwächt, ihre Eitelkeit erhöht. Sie 'wird die Geliebte eines Kammer¬<lb/>
dieners und fällt nach Krankheit und Not einem Kneipenwirt in die Arme, der<lb/>
ihre Arbeit ausnutzt. Erst nach langen trüben Erfahrungen kehrt Donatienne<lb/>
zu ihrer Familie zurück. In &#x201E;I^a terre qui meurt" schildert Bazin den Verfall<lb/>
einer Bauernfamilie der Vendöe. Die Familie zerfällt, weil von den Kindern<lb/>
eins nach dem andern das Land verläßt, um im Einerlei des Beamtentums<lb/>
oder in der haftenden Sorge um das tägliche Brot seines sittlichen Haltes und<lb/>
seines Selbstbewußtseins verlustig zu gehen. Das Losreißen von der Scholle,<lb/>
von dem Lebensnerv, will der Verfasser sagen, ist ein Wagnis, das uns den<lb/>
Verlust des geistigen und moralischen Ichs kosten kann.</p><lb/>
            <note xml:id="FID_15" place="foot"> *) Vgl. das Interview im Paris-Journal vom 23. Februar 1912.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0030] Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris Toten, das Nationalgefühl ist nicht von außen in uns hineingetragen worden, noch auf einmal entstanden." Barros hat von sich selbst als Schriftsteller einmal gesagt: in seinen Büchern lebe kein klarer Wille; er höre auf eine innere Stimme in sich und übertrage mehr als er verfasse*). So strömt auch aus seinen Werken wirklich Empfundenes, selbst aus den tendenziösen. Und wenn er richtig „übertragen" hat, muß das regionalistische Gefühl in seinem Sinne, das Gefühl der Gebundenheit in Denken und Trachten, bewußt oder unbewußt in den Menschen wirklich vorhanden sein. Der Roman, der ihn am meisten als Regionalisten charakterisiert, ist das vorhin erwähnte Werk „I^Sö OöraLinöZ". Die Entwurzelten sind die aus der Heimat des Geistes und des Herzens Herausgerissenen, die im Treibhause der Systeme und allgemeinen Begriffe früchteleer verdorren müssen. Rasse und Humanität stehen sich gegenüber; hier die Provinz, das volle Leben, das unaussprechliche Gemeinsamkeitsgefühl, das uns Kraft und Vollbringen gibt; dort Paris und die leere Formel, die Abstraktion, die das Wesen loslöst von der gegebenen Mutter Natur. Auch ein anderer regionalistischer Schriftsteller, Reus Bazin, sieht die Pariser Gefahr in der gleichmachenden und demoralisierenden Kraft der Hauptstadt. Allerdings sind seine Gestalten einfache Bauern, nicht so komplizierte Charaktere wie die in den Romanen Barros. In zwei Büchern „Donatienne" und „I^s, terre c>ni meurt" veranschaulicht er die Folgen der Landflucht. „Dona- tienne" macht uns mit einem Ehepaar von einheimischer Nasse bekannt. Beide müssen tüchtig arbeiten, um mit der dürftigen Ackerwirtschaft sich und ihre drei Kinder vor dem größten Elend zu bewahren. Um mehr zu verdienen, geht Donatienne, die Frau, nach Paris. Nach ihrem Weggang löst sich die Ordnung im Hause bald auf; die Wirtschaft geht herunter; die Briefe aus Paris werden immer seltener; Geld kommt gar nicht mehr. Schließlich wird der Mann von seiner Pacht gejagt. Er verläßt mit seinen Kindern die Bretagne und zieht mit ihnen als Tagelöhner durchs Land. Donatienne verkehrt als Amme in Paris mit den Dienstboten, hört ihre schlüpfrigen Reden. Ihre moralische Widerstandskraft wird durch den täglichen Anblick von Geld und Luxus geschwächt, ihre Eitelkeit erhöht. Sie 'wird die Geliebte eines Kammer¬ dieners und fällt nach Krankheit und Not einem Kneipenwirt in die Arme, der ihre Arbeit ausnutzt. Erst nach langen trüben Erfahrungen kehrt Donatienne zu ihrer Familie zurück. In „I^a terre qui meurt" schildert Bazin den Verfall einer Bauernfamilie der Vendöe. Die Familie zerfällt, weil von den Kindern eins nach dem andern das Land verläßt, um im Einerlei des Beamtentums oder in der haftenden Sorge um das tägliche Brot seines sittlichen Haltes und seines Selbstbewußtseins verlustig zu gehen. Das Losreißen von der Scholle, von dem Lebensnerv, will der Verfasser sagen, ist ein Wagnis, das uns den Verlust des geistigen und moralischen Ichs kosten kann. *) Vgl. das Interview im Paris-Journal vom 23. Februar 1912.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/30
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/30>, abgerufen am 22.12.2024.