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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner

Wenn die russische Armee im wesentlichen, ohne verfolgt zu sein, nach
Mulden zurückgelangte, so lag es daran, daß die Kraft der ohnehin an Zahl
unterlegenen Sieger erschöpft war, und daß es ihnen an der eigentlichen Waffe
der Verfolgung, einer zahlreichen, leistungsfähigen, mit reitender Artillerie und
Maschinengewehren versehenen Kavallerie gebrach. Welche reichen Früchte
andernfalls der Verfolgung hätten zufallen können, geht ans der Schilderung
des Stabschefs des V. Sibirischen Armeekorps, Generalmajors Jakowlew, her¬
vor, in der es heißt: "Die allgemein verbreitete Ansicht, als ob der Rückzug
unserer Armee von Liaonan auf Mulden in musterhafter Ordnung vor sich
gegangen sei. vermag ich nicht zu teilen. Daß wir keine Geschütze, Trains usw.
verloren haben, ist hauptsächlich dem Umstände zu verdanken, daß die Japaner
uns nicht im geringsten verfolgten. . . . Tatsächlich war während des Rückzugs
vom 4. bis 8. September nicht ein Kanonenschuß zu hören, die Japaner waren
gleichsam spurlos verschwunden. Ich weiß nicht, wie die Nachhuten zurückgegangen
sind, ich bin überzeugt, daß es in voller Ordnung geschah. Das Gros aber
flutete als eine aus Truppen, Hospitälern, Parks und Stäben gemischte wirre
Masse nach Norden zurück."

Kuropatkin freilich soll diesen Rückzug noch über den der Zehntausend
Xenophons gestellt haben. Er bekannte sich seltsamerweise nicht als geschlagen
und berief sich hierbei auf die hohen Verluste, die er den Japanern zugefügt
habe, wobei er übersah, daß, wenn diese auch 23000 Mann eingebüßt hatten,
sie die Angreifer gewesen waren, und daß die Russen immerhin auch 16000 Mann
verloren hatten. Am 11. September telegraphierte er dem Kriegsminister: "Ich
bitte Sie, mir zu erklären, weshalb Sie annehmen, daß unsere Armee bei
Liaonan eine Niederlage erlitten hat. Wir haben alle Angriffe des Feindes
auf die vordere und auf die Hauptposition von Liaonan zurückgewiesen. . . .
Allerdings gelang unser Angriff nicht, dafür aber haben wir Liaonan mit vollem
Erfolge verteidigt." Man gewinnt fast den Eindruck, daß Kuropatkin die
Abwehr Selbstzweck war, daß es ihm gar nicht ernstlich darauf ankam, sich
ihrer zu bedienen, um den Sieg durch Übergang zum Gegenangriff zu gewinnen.
Mit Recht blieb denn auch der Kriegsminister bei seiner Ansicht. Er telegraphierte
zurück: "Falls Sie glauben, daß der Ausdruck .Niederlage' den Ausgang der
Schlacht bei Liaonan nicht zutreffend bezeichnet, so nennen Sie es meinetwegen
einen Mißerfolg. Wie Sie wünschen!" Ein Mißerfolg war es in der Tat.
und zwar ein solcher schwerster Art. Nur "der Charaktereigentümlichkeit des
russischen Volkes, empfangene Eindrücke nicht lange auf sich haften zu lassen,
dieser für den Soldaten unter Umständen schätzbaren Eigenschaft, war es zu
verdanken, daß die Spuren, die der Rückzug von Liaonan der Armee aufgedrückt
hatte, bald wieder schwanden". So konnte denn Anfang Oktober die aus
260000 Mann angewachsene Armee aufs neue aus der Gegend von Mukden
gegen das bei und nördlich Liaonan verbliebene jetzt 170000 Mann zählende
japanische Heer zum Angriff vorgehen. Hierbei sollte der Feind in


Die russische Armee als Gegner

Wenn die russische Armee im wesentlichen, ohne verfolgt zu sein, nach
Mulden zurückgelangte, so lag es daran, daß die Kraft der ohnehin an Zahl
unterlegenen Sieger erschöpft war, und daß es ihnen an der eigentlichen Waffe
der Verfolgung, einer zahlreichen, leistungsfähigen, mit reitender Artillerie und
Maschinengewehren versehenen Kavallerie gebrach. Welche reichen Früchte
andernfalls der Verfolgung hätten zufallen können, geht ans der Schilderung
des Stabschefs des V. Sibirischen Armeekorps, Generalmajors Jakowlew, her¬
vor, in der es heißt: „Die allgemein verbreitete Ansicht, als ob der Rückzug
unserer Armee von Liaonan auf Mulden in musterhafter Ordnung vor sich
gegangen sei. vermag ich nicht zu teilen. Daß wir keine Geschütze, Trains usw.
verloren haben, ist hauptsächlich dem Umstände zu verdanken, daß die Japaner
uns nicht im geringsten verfolgten. . . . Tatsächlich war während des Rückzugs
vom 4. bis 8. September nicht ein Kanonenschuß zu hören, die Japaner waren
gleichsam spurlos verschwunden. Ich weiß nicht, wie die Nachhuten zurückgegangen
sind, ich bin überzeugt, daß es in voller Ordnung geschah. Das Gros aber
flutete als eine aus Truppen, Hospitälern, Parks und Stäben gemischte wirre
Masse nach Norden zurück."

Kuropatkin freilich soll diesen Rückzug noch über den der Zehntausend
Xenophons gestellt haben. Er bekannte sich seltsamerweise nicht als geschlagen
und berief sich hierbei auf die hohen Verluste, die er den Japanern zugefügt
habe, wobei er übersah, daß, wenn diese auch 23000 Mann eingebüßt hatten,
sie die Angreifer gewesen waren, und daß die Russen immerhin auch 16000 Mann
verloren hatten. Am 11. September telegraphierte er dem Kriegsminister: „Ich
bitte Sie, mir zu erklären, weshalb Sie annehmen, daß unsere Armee bei
Liaonan eine Niederlage erlitten hat. Wir haben alle Angriffe des Feindes
auf die vordere und auf die Hauptposition von Liaonan zurückgewiesen. . . .
Allerdings gelang unser Angriff nicht, dafür aber haben wir Liaonan mit vollem
Erfolge verteidigt." Man gewinnt fast den Eindruck, daß Kuropatkin die
Abwehr Selbstzweck war, daß es ihm gar nicht ernstlich darauf ankam, sich
ihrer zu bedienen, um den Sieg durch Übergang zum Gegenangriff zu gewinnen.
Mit Recht blieb denn auch der Kriegsminister bei seiner Ansicht. Er telegraphierte
zurück: „Falls Sie glauben, daß der Ausdruck .Niederlage' den Ausgang der
Schlacht bei Liaonan nicht zutreffend bezeichnet, so nennen Sie es meinetwegen
einen Mißerfolg. Wie Sie wünschen!" Ein Mißerfolg war es in der Tat.
und zwar ein solcher schwerster Art. Nur „der Charaktereigentümlichkeit des
russischen Volkes, empfangene Eindrücke nicht lange auf sich haften zu lassen,
dieser für den Soldaten unter Umständen schätzbaren Eigenschaft, war es zu
verdanken, daß die Spuren, die der Rückzug von Liaonan der Armee aufgedrückt
hatte, bald wieder schwanden". So konnte denn Anfang Oktober die aus
260000 Mann angewachsene Armee aufs neue aus der Gegend von Mukden
gegen das bei und nördlich Liaonan verbliebene jetzt 170000 Mann zählende
japanische Heer zum Angriff vorgehen. Hierbei sollte der Feind in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/292>, abgerufen am 01.09.2024.