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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

Unterricht, der aus dem Geist der engeren Heimat des Schülers geboren ist.
Sie sagen: jede Gegend bilde den Menschen nach ihrer Art. Natur und Leben
des südlichen Frankreichs wären so verschieden von denen des Nordens und böten
eine Menge von Empfindungen. Willensäußerungen und Gebräuchen dar, für
die sich ein genau entsprechender französischer Ausdruck nicht findet*). Die Be¬
wegung, die dafür eintritt, daß das Französische in gewissen Gegenden als
Fremdsprache gelehrt werde, wird als Savinianismus bezeichnet, ihr ist es zu
verdanken, daß die Behörde einigen Volksschulen bereits das Recht auf eine
besondere Unterrichtssprache zuerkannt hat. Was der Regionalismus will, hat
am klarsten der Lothringer Maurice Barros ausgesprochen. Die Region soll
die Einheit bilden in dem neuen Organismus der Dezentralisation. Barros
erblickt diese Einheit in dem gemeinsamen Fühlen, in der sittlichen Gemeinschaft**),
im inneren Bewußtsein, in der gleichen seelischen Veranlagung der Bewohner
und den gleichen Erfahrungen des täglichen Lebens, d. h. in den gleichen
Wirkungen der Außenwelt auf Menschen derselben Abstammung. Jeder muß
seiner inneren Bestimmung, seiner Prädestination folgen, wenn er seine Natur
zur Entwicklung bringen will. Als Beispiel führt Barros die Lothringer an,
die als Vorhut gegen germanische Rasse und Kultur dazu bestimmt sind, die
Rolle der Wacht am Rhein zu spielen. Dieses Bewußtsein, das Barros die
"Grenzseele" nennt, ist also das gemeinsame Band, das alle Lothringer um¬
schließt***). Er zieht zum Beweise mit Hilfe eines etwas gewaltsamen Deutungs-
Versuches auch noch das Schillersche Distichon heran:


"Schon so lang' umarm' ich die lotharingische Jungfrau:
Aber noch hat kein Sohn unsre Verbindung beglückt."

Das heißt nach Barros: die deutsche und die lothringische Seele sind unver-
einbar; jede folge ihrer Natur. Seine Lehre läuft schließlich auf Rassenmystik
hinaus. Sie ist Mystik, denn sie hat ihren Ursprung nicht in wissenschaftlichen
Überlegungen, sondern in dem Gefühl. Er drückt es selbst in einer Rede aufs):
"Verlangen Sie nicht von mir. daß ich das, was ich unter Lothringen verstehe,
in eine Formel presse. Dort, wo der abstrakte Gedanke nicht hinkommt, können
wir eindringen, wenn wir die traumhaften Formen unserer Einbildungskraft
zu Hilfe rufen.' Denn das Sicheinsfühlen mit der Natur und mit unseren






*) Vgl, Kovue cle OsscoZne. 1910.
**) Loliclaritö morale. Rede in einer Festsitzung des "Lousrsil", einer lokalen Aka¬
demie in Nancy. Vgl. den Bericht im Temps vom 25. Juni 1911.
***) Im wirtschaftlichen Leben ist das Zusammengehörigkeitsgefühl in Lothringen un¬
zweifelhaft da. Daneben scheint sich eine lothringische oder elsässische Malerei entwickeln zu
wollen, wie die Ausstellung der elsasz - lothringischen Künstler in Paris gezeigt hat. Vql.
^lercure 6e Trance. 1. Juli 1913.
5) Ebendort.
Grenzboten III 1914 2
Frankreichs Provinzen im Kampf gegen Paris

Unterricht, der aus dem Geist der engeren Heimat des Schülers geboren ist.
Sie sagen: jede Gegend bilde den Menschen nach ihrer Art. Natur und Leben
des südlichen Frankreichs wären so verschieden von denen des Nordens und böten
eine Menge von Empfindungen. Willensäußerungen und Gebräuchen dar, für
die sich ein genau entsprechender französischer Ausdruck nicht findet*). Die Be¬
wegung, die dafür eintritt, daß das Französische in gewissen Gegenden als
Fremdsprache gelehrt werde, wird als Savinianismus bezeichnet, ihr ist es zu
verdanken, daß die Behörde einigen Volksschulen bereits das Recht auf eine
besondere Unterrichtssprache zuerkannt hat. Was der Regionalismus will, hat
am klarsten der Lothringer Maurice Barros ausgesprochen. Die Region soll
die Einheit bilden in dem neuen Organismus der Dezentralisation. Barros
erblickt diese Einheit in dem gemeinsamen Fühlen, in der sittlichen Gemeinschaft**),
im inneren Bewußtsein, in der gleichen seelischen Veranlagung der Bewohner
und den gleichen Erfahrungen des täglichen Lebens, d. h. in den gleichen
Wirkungen der Außenwelt auf Menschen derselben Abstammung. Jeder muß
seiner inneren Bestimmung, seiner Prädestination folgen, wenn er seine Natur
zur Entwicklung bringen will. Als Beispiel führt Barros die Lothringer an,
die als Vorhut gegen germanische Rasse und Kultur dazu bestimmt sind, die
Rolle der Wacht am Rhein zu spielen. Dieses Bewußtsein, das Barros die
„Grenzseele" nennt, ist also das gemeinsame Band, das alle Lothringer um¬
schließt***). Er zieht zum Beweise mit Hilfe eines etwas gewaltsamen Deutungs-
Versuches auch noch das Schillersche Distichon heran:


„Schon so lang' umarm' ich die lotharingische Jungfrau:
Aber noch hat kein Sohn unsre Verbindung beglückt."

Das heißt nach Barros: die deutsche und die lothringische Seele sind unver-
einbar; jede folge ihrer Natur. Seine Lehre läuft schließlich auf Rassenmystik
hinaus. Sie ist Mystik, denn sie hat ihren Ursprung nicht in wissenschaftlichen
Überlegungen, sondern in dem Gefühl. Er drückt es selbst in einer Rede aufs):
„Verlangen Sie nicht von mir. daß ich das, was ich unter Lothringen verstehe,
in eine Formel presse. Dort, wo der abstrakte Gedanke nicht hinkommt, können
wir eindringen, wenn wir die traumhaften Formen unserer Einbildungskraft
zu Hilfe rufen.' Denn das Sicheinsfühlen mit der Natur und mit unseren






*) Vgl, Kovue cle OsscoZne. 1910.
**) Loliclaritö morale. Rede in einer Festsitzung des „Lousrsil", einer lokalen Aka¬
demie in Nancy. Vgl. den Bericht im Temps vom 25. Juni 1911.
***) Im wirtschaftlichen Leben ist das Zusammengehörigkeitsgefühl in Lothringen un¬
zweifelhaft da. Daneben scheint sich eine lothringische oder elsässische Malerei entwickeln zu
wollen, wie die Ausstellung der elsasz - lothringischen Künstler in Paris gezeigt hat. Vql.
^lercure 6e Trance. 1. Juli 1913.
5) Ebendort.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/29>, abgerufen am 01.09.2024.