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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr.

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Die russische Armee als Gegner
von Generalleutnant Freiherr Freytaa-Loringhoven
3. Im Orientkricge 1877/1878

Die in der Krim gemachten Erfahrungen sind in der russischen Armee
nicht unberücksichtigt geblieben. Es vollzog sich allmählich eine vollständige
Abkehr von der bisherigen Ausbildungsweise. Man stieß das Gezwungene in
Haltung und Bewegung des einzelnen Mannes wie der Truppe überhaupt, als
etwas dem Nationalcharakter nicht Entsprechendes von sich. Damit wurden
freilich zugleich unentbehrliche disziplinare Hilfsmittel geopfert. Das Kommando¬
wort "Salmo" (stillgestanden) nagelte hinfort den Mann nicht mehr an den
Boden. Man glaubte bei der angeborenen Unterwürfigkeit des russischen Sol¬
daten der straffen Exerzierdisziplin überhaupt nicht mehr zu bedürfen und
übersah, daß mit Herabsetzung der Forderungen an die äußere Schönheit und
Gleichmäßigkeit der Truppe sich auch deren innere Ordnung bedenklich lockern
mußte, daß bei dem Fehlen einer sorgsamen Ausbildung des einzelnen Mannes
die Einübung auch der einfachsten Bewegungen geschlossener Truppenteile so viel
Zeit in Anspruch nahm, daß die Gefechtsschulung darüber notwendigerweise zu
kurz kommen mußte.

Mit der freieren Richtung in Staat und Gesellschaft, wie sie durch die
großen Reformen Alexanders des Zweiten, insbesondere die Aushebung der
Leibeigenschaft, zum Ausdruck kam, zog auch ein neuer Geist in die Armee ein.
Es geschah viel, um den Bildungsgrad des Offizierkorps zu heben. Die alten,
aus dem Unteroffizierstande hervorgegangenen Troupiers, die freilich niemals
sehr zahlreich gewesen waren, begannen jetzt nach und nach ganz zu verschwinden.
Dafür drangen vielfach Elemente in das Offizierkorps ein, die ihm früher nicht
angehört hatten. Der kleine Landadel, dessen Söhne ehedem hauptsächlich das
Offizierkorps der Linieninfanterie gestellt hatten, verarmte infolge der Aufhebung
der Leibeigenschaft immer mehr. Seinen Platz nahmen Leute ein, deren Her¬
kunft sie für den Offizierstand nicht immer in jeder Hinsicht geeignet erscheinen
ließ und deren Erziehung nicht unbedingt für ihre Gesinnung bürgte. Das
Anwachsen der Armee führte dahin, daß man nach dieser Richtung die Grenzen
nach unten hin immer mehr erweitern mußte.

Es trat eine allgemeine Lockerung aller gesellschaftlichen Ordnung ein.
Statt Dank zu ernten für die Wohltaten, die er seinem Volke angedeihen ließ.




Die russische Armee als Gegner
von Generalleutnant Freiherr Freytaa-Loringhoven
3. Im Orientkricge 1877/1878

Die in der Krim gemachten Erfahrungen sind in der russischen Armee
nicht unberücksichtigt geblieben. Es vollzog sich allmählich eine vollständige
Abkehr von der bisherigen Ausbildungsweise. Man stieß das Gezwungene in
Haltung und Bewegung des einzelnen Mannes wie der Truppe überhaupt, als
etwas dem Nationalcharakter nicht Entsprechendes von sich. Damit wurden
freilich zugleich unentbehrliche disziplinare Hilfsmittel geopfert. Das Kommando¬
wort „Salmo" (stillgestanden) nagelte hinfort den Mann nicht mehr an den
Boden. Man glaubte bei der angeborenen Unterwürfigkeit des russischen Sol¬
daten der straffen Exerzierdisziplin überhaupt nicht mehr zu bedürfen und
übersah, daß mit Herabsetzung der Forderungen an die äußere Schönheit und
Gleichmäßigkeit der Truppe sich auch deren innere Ordnung bedenklich lockern
mußte, daß bei dem Fehlen einer sorgsamen Ausbildung des einzelnen Mannes
die Einübung auch der einfachsten Bewegungen geschlossener Truppenteile so viel
Zeit in Anspruch nahm, daß die Gefechtsschulung darüber notwendigerweise zu
kurz kommen mußte.

Mit der freieren Richtung in Staat und Gesellschaft, wie sie durch die
großen Reformen Alexanders des Zweiten, insbesondere die Aushebung der
Leibeigenschaft, zum Ausdruck kam, zog auch ein neuer Geist in die Armee ein.
Es geschah viel, um den Bildungsgrad des Offizierkorps zu heben. Die alten,
aus dem Unteroffizierstande hervorgegangenen Troupiers, die freilich niemals
sehr zahlreich gewesen waren, begannen jetzt nach und nach ganz zu verschwinden.
Dafür drangen vielfach Elemente in das Offizierkorps ein, die ihm früher nicht
angehört hatten. Der kleine Landadel, dessen Söhne ehedem hauptsächlich das
Offizierkorps der Linieninfanterie gestellt hatten, verarmte infolge der Aufhebung
der Leibeigenschaft immer mehr. Seinen Platz nahmen Leute ein, deren Her¬
kunft sie für den Offizierstand nicht immer in jeder Hinsicht geeignet erscheinen
ließ und deren Erziehung nicht unbedingt für ihre Gesinnung bürgte. Das
Anwachsen der Armee führte dahin, daß man nach dieser Richtung die Grenzen
nach unten hin immer mehr erweitern mußte.

Es trat eine allgemeine Lockerung aller gesellschaftlichen Ordnung ein.
Statt Dank zu ernten für die Wohltaten, die er seinem Volke angedeihen ließ.


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[0285] [Abbildung] Die russische Armee als Gegner von Generalleutnant Freiherr Freytaa-Loringhoven 3. Im Orientkricge 1877/1878 Die in der Krim gemachten Erfahrungen sind in der russischen Armee nicht unberücksichtigt geblieben. Es vollzog sich allmählich eine vollständige Abkehr von der bisherigen Ausbildungsweise. Man stieß das Gezwungene in Haltung und Bewegung des einzelnen Mannes wie der Truppe überhaupt, als etwas dem Nationalcharakter nicht Entsprechendes von sich. Damit wurden freilich zugleich unentbehrliche disziplinare Hilfsmittel geopfert. Das Kommando¬ wort „Salmo" (stillgestanden) nagelte hinfort den Mann nicht mehr an den Boden. Man glaubte bei der angeborenen Unterwürfigkeit des russischen Sol¬ daten der straffen Exerzierdisziplin überhaupt nicht mehr zu bedürfen und übersah, daß mit Herabsetzung der Forderungen an die äußere Schönheit und Gleichmäßigkeit der Truppe sich auch deren innere Ordnung bedenklich lockern mußte, daß bei dem Fehlen einer sorgsamen Ausbildung des einzelnen Mannes die Einübung auch der einfachsten Bewegungen geschlossener Truppenteile so viel Zeit in Anspruch nahm, daß die Gefechtsschulung darüber notwendigerweise zu kurz kommen mußte. Mit der freieren Richtung in Staat und Gesellschaft, wie sie durch die großen Reformen Alexanders des Zweiten, insbesondere die Aushebung der Leibeigenschaft, zum Ausdruck kam, zog auch ein neuer Geist in die Armee ein. Es geschah viel, um den Bildungsgrad des Offizierkorps zu heben. Die alten, aus dem Unteroffizierstande hervorgegangenen Troupiers, die freilich niemals sehr zahlreich gewesen waren, begannen jetzt nach und nach ganz zu verschwinden. Dafür drangen vielfach Elemente in das Offizierkorps ein, die ihm früher nicht angehört hatten. Der kleine Landadel, dessen Söhne ehedem hauptsächlich das Offizierkorps der Linieninfanterie gestellt hatten, verarmte infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft immer mehr. Seinen Platz nahmen Leute ein, deren Her¬ kunft sie für den Offizierstand nicht immer in jeder Hinsicht geeignet erscheinen ließ und deren Erziehung nicht unbedingt für ihre Gesinnung bürgte. Das Anwachsen der Armee führte dahin, daß man nach dieser Richtung die Grenzen nach unten hin immer mehr erweitern mußte. Es trat eine allgemeine Lockerung aller gesellschaftlichen Ordnung ein. Statt Dank zu ernten für die Wohltaten, die er seinem Volke angedeihen ließ.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328733/285>, abgerufen am 01.09.2024.